Das Archiv der Firma Ricordi

 

Wer noch immer den schönen und gutsortiertern Geschäften von Ricordi, einst nicht nur in jeder größeren italienischen Stadt eine Fundgrube für den Musikfan, nachtrauert, der erhält durch einen prachtvollen Bild- und Textband mit dem Titel Eine Kathedrale der Musik – Das Archivio Storico Ricordi Aufklärung über die Geburt, Entwicklung und Erfolge und schließliche Zerschlagung des einstigen Familienbetriebs über vier Generationen von Verlegern, die von 1808 bis 1919 nicht nur das italienische Musikleben entscheidend beeinflussten. Der Vergleich des Archivs mit dem kirchlichen Bauwerk stammt übrigens vom Komponisten Berio, und der Leser und Betrachter der zahlreichen Fotos ist zunehmend geneigt, ihm in seinem Urteil zuzustimmen.

Ein schöner Bild- und Textband: „Eine Kathedrale der Musik – Das Archvio Storico Ricordi“ im Prestel Verlag

Es fällt auf, dass auf dem Cover des Bandes kein Verfassername zu finden ist, erst ganz hinten innerhalb des Impressums ist Caroline Lüddersen als „Autorin“ genannt, als Verlage Bertelsmann und Prestel, da erstere Besitzer des Archivs, das sich jedoch in Mailand befindet, sind, obwohl sie den Verlag Ricordi einige Jahre nach seinem Erwerb 1994 wieder verkauften. Eine stärkere Hervorhebung des Verfasserinnen-Namens wäre durchaus angebracht gewesen, denn ihre Ausführungen sind hochinteressant, umfassend und angenehm zu lesen.

Die Autorin erläutert in einer Einleitung ihr Vorgehen, das den Leser von einer Geschichte des Verlags bis 1994 über dessen Bedeutung für die Weltkulturgeschichte führt und schließlich im Anhang eine Auflistung der Dokumente bietet, zu denen allein 8000 handschriftliche Partituren und 10 000 Libretti gehören. In einer „Kleinen Geschichte des Verlags Ricordi“ wird diese nach dessen jeweiligen Besitzern gegliedert, deren jeder einen Beinamen, so wie man es von den Medici kennt, zugeteilt bekommt. So verläuft die Entwicklung des Verlags aus kleinsten Anfängen von Giovanni- dem Fleißigen über Tito I. den Geselligen, Giulio das Genie und Tito II. den Kosmopoliten ehe dessen nach Meinung des Vaters missratener Sohn die Reihe abbricht und von da an (1919) eine Doppelspitze das Unternehmen führt.

Tito Ricordi/ Archivio storico, Prestel

Die Verlagsgeschichte ist natürlich zugleich Kulturgeschichte, die Ricordis profitieren vom Blühen der Hausmusik, kämpfen um das Urheberrecht und gegen die Freiheiten, die sich Interpreten „ihrer“ Komponisten nehmen, setzen sich mit der Konkurrenz Sonzogno auseinander, sind Komponisten wie Verdi und Puccini nicht nur Geschäftspartner, sondern Freunde und Förderer. Sie müssen nicht nur Geschäftsleute, sondern können durchaus auch künstlerisch tätig sein. Verdienstvoll ist, dass das Buch auch die vielen heute nicht mehr allseits bekannten Komponisten wie Catalani, Boito, Franchetti, Alfano oder Montemezzi berücksichtigt, ebenso Korngold, der ebenfalls von Ricordi verlegt wurde.

Ein besonderes Interesse gilt natürlich dem Verhalten der Verlagseigentümer während der faschistischen Epoche, die in Italien bekanntlich wesentlich länger dauerte als in Deutschland, weil früher begann. Der Krieg verschonte auch das Archiv nicht, seine Räume wurden am 13.8.43 zerbombt, aber man hatte die größten Schätze zuvor in Sicherheit gebracht, wozu allerdings offensichtlich nicht Aldo Finzi gehörte, dessen Werk verschollen ist.

„La Casa Ricordi“, ital. Spielfilm von Carmine Gallone 1954/ Szene/ RAI TV

War es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die Kammer- und Hausmusik gewesen, die im Mittelpunkt des Verlagswesens stand, so wurde es zunehmend die Oper, nach 1945 aber sicherten die Cantautori der populären Musik und das Schallplattengeschäft das Überleben der Firma. Über die Jahre hinweg konnte man erleben, wie die klassische Musik in den Ricordi-Läden aus dem Zentrum der Verkaufsräume in immer abgelegenere Ecken verbannt wurde. Bertelsmann begann mit der Katalogisierung und Digitalisierung, machte aus der Sammlung, die als Wirtschaftsarchiv gegründet worden war, ein Forschungsarchiv, zeigte bereits 2013 in der Berliner Repräsentanz und auch in anderen Städten besonders wertvolle Stücke und begann 2016 mit dem Erstellen einer Collezione Digitale.

Nur staunen kann man über die Fülle interessantesten Fotomaterials, seien es Gegenüber-Stellungen von handschriftlicher und gedruckter Partitur, Autographe von Rossini, Bellini, Donizetti, Libretti und deren Änderungen durch die Zensur, Regiebücher oder der Briefwechsel zwischen Komponist und Verleger über Otello, sogar Anmerkungen über Dauer und Stärke des Beifalls bei der Uraufführung. Viele Szenenfotos erstrecken sich über eine Doppelseite und man bewundert  Bühnenbild und Kostüme vergangener Zeiten, über die damit mehr ausgesagt wird, als ihr Schöpfer beabsichtigt hatte, d.h., sie legen Zeugnis ab für 200 Jahre Kulturgeschichte und wecken im Betrachter den Wunsch, nun auch einmal im Internet zu begutachten, wieweit die oben erwähnte Collezione bereits gediehen ist (Prestel Verlag, 225 S., Register, Personenverzteichnis, Bibligraphische Hinweise, Fotonachweis,  ISBN 978 37913 5624 2; oben ein Ausschnitt aus dem Rocordi-Poster zu „Turandot“/ AR). Ingrid Wanja