Barries Bekenntnisse

 

Am besten liest man zuerst das Gespräch mit dem Titel More Ecstasy, das der (sehr einfühlsame) Übersetzer von Barrie Koskys Büchlein On Ecstasy geführt hat und das am Schluss steht. Man erfährt, dass es in einer Zeit der „Heimatlosigkeit“, Wien war bereits verlassen, Berlin noch nicht neues Zuhause, im Jahr 2007, entstand und dass es durchaus, so erfragt es Ulrich Lenz, Chefdramatrurg an der Komischen Oper Berlin, auch danach noch Zustände der Ekstase für den australischen Regisseur gegeben hat. Der Begriff selbst wird auf der ersten Seite des Buchs erklärt, für Kosky scheint Ekstase aus Sinneseindrücken, die sich ins fast Unerträgliche steigern und dann in eine neue Qualität münden, zu entstehen, und das können Tasten wie Hören, Schmecken wie Sehen und ebenso Riechen sein, so dass der Duft der Hühnersuppe der polnischen Großmutter (ihr und der zweiten, der ungarischen, ist das Buch gewidmet), ebenso zur Ekstase führt wie das Jahrzehnte später stattgefunden habende japanische Festessen, dem Kind und jungen Mann Barrie Kosky außerdem die Musik Mahlers, die  nassen Jeans auf einem strammen Hinterteil, der Geruch in einer Umkleidekabine  oder die erste Regie, die einer jüdischen Legende um den Dybbuk, Zustände der Ekstase erlauben. Auch die Stimme von Renata Tebaldi, die er in Australien als Butterfly erlebte, verhilft zur Ekstase, das Betasten der Tierfelle im Pelzgeschäft des Vaters beweist, dass auch der fünfte der Sinne ekstasefähig ist, wenigstens bei einem so sensiblen Kind, wie es Kosky gewesen sein muss. Der weiß davon so knapp wie anschaulich, so ehrlich wie den Leser zielsicher in seine Welt hineinziehend, zu erzählen, und am Schluss ist der erstaunt, wie viel er auf so relativ wenigen Seiten erfahren hat.

Erst im Nachwort erfährt man, dass Bayreuth kein Stimulans für Ekstase war, dass Kosky sich als Intendant zur Objektivität, zur Analyse verpflichtet sieht, als Regisseur jedoch dem Diktat der in die Ekstase führenden Sinne gehorchen darf, wenn er in der bei ihm blinden Elsa unterstellt, durch das Hören, Isolde durch das Schmecken, Senta durch das Sehen in den Zustand der Ekstase zu geraten. Da kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass auch das Wieder- und Nacherleben bestimmter Situationen bei der Regiearbeit erneut in einen Ausnahmezustand geraten lässt, so wenn sich Kosky an Regiearbeiten wie Medea und den Mord an ihren Kindern, den von sterbenden Meerjungfrauen und einem überlaufenden Abort umgebenen Bariton in Ligetis Oper erinnert.

Interessant zu erfahren ist auch, dass der Regisseur sich  eines kleinen Dämons, der ihm Antisemitisches ins Ohr flüsterte, dadurch entledigte, dass er in Bayreuth inszenierte, sich selbst davon befreien konnte, einen Zusammenhang zwischen Wagners Musik und seinen antisemitischen Schriften herzustellen.

Nicht jeder Leser wird einige Schlussfolgerungen nachvollziehen können, die Kosky aus seinen Interpretationen zieht, so wenn Senta den Holländer ermordet. Sympathisch aber wird es jeder finden, dass Misserfolge zugegeben werden, so der Ring in Hannover, und dass Kosky einen neuen Anlauf nehmen wird mit der Neuinszenierung der Trilogie in London 2023.  Das Buch jedenfalls hat wegen seiner Unmittelbarkeit durchaus die Qualität, in Ekstase zu versetzen, weiterhin interessiert zu verfolgen, was wie Rameau oder die Weimarer Operette und einiges andere, Ekstase-Erzeugungsqualitäten hatte und hoffentlich haben wird (101 Seiten, Verlag Theater der Zeit 2021; ISBN 978 3 95749 342 2). Ingrid Wanja