Informationssteinbruch

Für jeden Operettenfreund ist das Markenzeichen „Zell & Genée“ ein Begriff, hat doch diese „Firma“ die Libretti zu einigen der wichtigsten Operetten der „Goldenen Ära“ geliefert: Boccaccio und Fatinitza von Franz von Suppé, Der Bettelstudent und Gasparone von Karl Millöcker und Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß. Doch damals wie heute wurde den Autoren von Operettentexten keine große Bedeutung beigemessen, und so kommt es, dass man über sie so gut wie nichts weiß. Erst vor einigen Jahren hat Volker Klotz in einem Essay (der auch in dem in operalounge.de bereits besprochenen Buch Es lebe: Die Operette enthalten ist) eine gründliche Rehabilitation Richard Genées versucht, den er als „Initiator und Motor einer eigenen Wiener Operette“ herausstellt. Er konnte sich dabei zu einem guten Teil auf die Materialsammlung seines Nachfahren Pierre Genée stützen, die dieser nun selbst in Buchform vorgelegt hat.

Pierre Genée Richard Genée Löcker VerlagRichard Genée, so weiß man nun, war weit mehr als ein Textlieferant, vielmehr ein mit allen Wassern gewaschener Theatermann, der als Geburtshelfer auch vieler fremder Werke tätig wurde. 1823 als Sohn des Sängers und späteren Theaterdirektors Friedrich Genée in Danzig geboren, schlug er die Laufbahn eines Kapellmeisters ein, die er zwei Jahrzehnte in verschiedenen europäischen Städten ausübte, bevor er 1868 ans Theater an der Wien berufen wurde, wo er der noch in den Kinderschuhen steckenden Wiener Operette die entscheidenden Anstöße gab. Offenbachs Werke wurden in seinen deutschen Bearbeitungen, von mancher Frivolität gereinigt, dem Wiener Publikum schmackhaft gemacht; Suppé, Strauß, Millöcker und andere profitierten von seinem theatralischen Knowhow bei der Komposition abendfüllender Bühnenwerke. Auch seine Freundschaft mit Friedrich von Flotow trug künstlerische Früchte, allerdings sind dessen spätere Opern Am Runenstein und Die Musikanten in Vergessenheit geraten.

Im ersten Teil seines Buches zeichnet Pierre Genée nach familiengeschichtlichen Abstechern, die im vorliegenden Fall keine Abschweifung bedeuten, den Lebens- und Berufsweg Richards nach, wobei der Zusammenarbeit mit den drei großen Exponenten der goldenen Wiener Operette der gebührende Raum gegeben, auch die Arbeitsteilung zwischen ihm und dem Co-Autor F. Zell, der mit bürgerlichem Namen Camillo Walzel hieß und im selben Jahr (1895) wie er verstarb, genauer beschrieben wird. Bei der Fledermaus allerdings war Zell nicht der Partner, vielmehr schrieb Genée hier die Adaption eines französischen Stückes durch Meilhac & Halévy von Carl Haffner vollständig um. Weniger bekannt dürfte sein, dass er auch an der Komposition der Operette nicht unerheblichen Anteil hatte, indem er teilweise von Strauß lediglich hingeworfene Skizzen ausarbeitete. Das war damals wie in der Folgezeit kein unübliches Verfahren, doch wollte der Walzerkönig später den Anteil seines Mitarbeiters nicht anerkennen.

Frontespiece des Klavierauszugs von Richard Genées Operette "Nanon" bei White Smith Music Publishers

Frontespiece des Klavierauszugs von Richard Genées Operette „Nanon“ bei White Smith Music Publishers

Mit Arrigo Boito, seinem Kollegen von der Oper, teilt Richard Genée das Schicksal, der Nachwelt nicht als Komponist, sondern als Librettist im Gedächtnis geblieben zu sein. Doch während Mefistofele in Italien ein Repertoirestück geblieben ist und in letzter Zeit auch häufig in Deutschland gespielt wird, sind die musikalischen Werke Genées sogar in seiner Heimat völlig in Vergessenheit geraten. Es ist mir nicht gelungen, eine Aufnahme von seinem Hauptwerk, der Operette Nanon, die Wirtin vom Goldenen Lamm (1877), ausfindig zu machen. Eine Verfilmung von 1938 mit Erna Sack und Johannes Heesters nennt als Komponisten Alois Melichar; inwieweit dessen Soundtrack auf die Originalpartitur rekurriert, ist mir nicht bekannt.

Im zweiten Teil des Buches listet Pierre Genée das überaus stattliche musikalische Oeuvre seines Urahns auf, darunter allein 250 Werke mit Opuszahlen, dazu zahlreiche Gelegenheitskompositionen und Bearbeitungen neben den kompletten eigenen Bühnenwerken, von denen noch der einst erfolgreiche Seekadett (1876) hervorzuheben ist. Einige der Titel werden nur rudimentär, andere sehr ausführlich kommentiert, wobei der Fledermaus nebst ihrer Vorgeschichte sehr breiter Raum eingeräumt wird. Das Ganze ist ein Informationssteinbruch, aus dem berufene Wissenschaftler noch viele interessante Details herausholen könnten, es ist aber auch eine Aufforderung an die ausübenden Musiker, diese großenteils zugänglichen Kompositionen wieder aufzuführen.

Ein nützliches Buch mithin, dessen Handicap lediglich darin besteht, dass Pierre Genée, von Haus aus Facharzt für Neurologie, kein Musikwissenschaftler ist und sich mit der Beschreibung der Musik seines Vorfahren ein bisschen schwer tut. Ein kundiger Lektor hätte auch einige ungelenke oder kuriose Formulierungen (z. B. „Das Fledermaus’sche Libretto“) eliminieren können. Vermeidbar waren weiterhin die zahlreichen Druckfehler, vor allem bei den Jahreszahlen purzeln die Ziffern immer wieder wild durcheinander (Pierre Genée: Richard Genée und die Wiener Operette, Löcker Verlag: 15 x 22,5 cm, Hardcover mit SU 351 Seiten, ISBN 978-3-85409-738-9).

Ekkehard Pluta

Foto oben: Richard Genée (www.biographien.ac.at)