Auch mal „übernommen“

 

É strano- da liest man mit wachsendem Vergnügen ein nach langer Irrfahrt von Bologna nach Berlin gelangtes Buch, erfreut sich an aussagekräftigen Fotos, sucht bei You Tube nach Bestätigung dafür, dass Carlo Bergonzi, wie der Autor Vittorio Testa bekundet,  tatsächlich der unangefochtene, absolute Tenore di Verdi war und wird doch zunehmend verstörter, weil sich ein Dé-jà- vu- Erlebnis anzubahnen scheint. Das alles hat man doch schon einmal und dazu noch in denselben Wortlaut nicht gelesen, sondern gehört, und zwar in dem Film von Mauro Biondini, in dem der große Tenor kurz vor seinem Tod genau das erzählt, was der Verfasser des Buches zu berichten weiß, dazu in einer Art und Weise als wäre er selbst der Gesprächspartner Bergonzis gewesen. Das Buch kann aber erst nach seinem Tod entstanden sein, denn es berichtet auch vom Ableben des Sängers und enthält viele Zeugnisse der Dankbarkeit von Kollegen und Schülern des Verstorbenen, es wurde 2019, also fünf Jahre nach dem Tod Bergonzis gedruckt, und es ist anzunehmen, dass sich der Verfasser über weite Strecken hinweg des Films von Biondini bedient hat, dort aber, wo er darüber hinausgeht, oft ungenau oder unangenehm pauschalisierend wird. Das Falschschreiben ausländischer Namen gehört eigentlich zum allerdings nicht guten Ton italienischer Autoren, so dass ein „Bismark“ nicht verwundert, auch nicht ein „Lutero“, aber das pauschale Urteil über die Protestanten, die angeblich zu einer „inflessibile intolleranza“ erzogen werden, stammt zum Glück nicht von Bergonzi, sondern vom Autor des Buches über ihn. Da muss erst ein katholischer Österreicher kommen, sich von Schuberts Ave Maria erweichen lassen und Gutes tun.

Das Buch hat also viele Schwächen, wozu wohl auch die aufdringliche Familiarität gehört, mit der Testa den Sänger behandelt, der zunächst als „il nostro Carletto“, später als „il nostro eroe“ durch den Band marschiert, während dem Personal des Buches, soweit aus der Poebene stammend, ein extrem verfremdender Dialekt zugeordnet wird. . Aber man erfährt natürlich auch viel Interessantes über den Sänger, über die früh mit dem 5. Schuljahr endende Kindheit, die Arbeit in der Molkerei und als Kohlenschlepper, den Militärdienst, die Kriegsgefangenschaft in Neubrandenburg, den frühen Wunsch danach, ein Tenor zu werden. Wer die Gegend zwischen Piacenza und Parma kennt, der weiß, dass die Winter neblig trüb, die Sommer drückend heiß sind, der Verfasser verklärt die Landschaft und auch den Charakter ihrer Bewohner, falls es einen speziell solchen gibt, nimmt einen durchgehenden Jubelton an, der dem Portraitierten wahrscheinlich unangenehm gewesen wäre.

Immerhin erfährt man eine Menge Interessantes, das Fehlurteil Ettore Campogaliianis, des berühmten Stimmbildners, der einen Bariton in Bergonzi sieht, das Debüt als Figaro in dörflichen Pappkulissen, das heimliche Umstudieren auf Tenor, die einzelnen Karriereschritte und Einblicke in das unmittelbare Nachkriegsleben, so mit dem Motto des Mailänder Bürgermeisters: „Prima la Scala, poi il pane“, was in krassem Gegensatz zu einem Brecht-Zitat steht. Dem Leser begegnen die Großen der lirica italiana wie Votto, Serafin, Gavazzeni, die Vorbilder Gigli, Pertile, Schipa, und der Leser bewundert den Mut des Noch-Bariton Bergonzi, der dem Tenorkollegen vormacht, wie man ein Hohes C stützt, nachdem er in aller Heimlichkeit Tag für Tag einen Viertelton auf dem Weg zum Tenor gewonnen hat, um dann weit entfernt vom heimischen Vidalenzo nahe Busseto in Bari als Tenor mit Andrea Chenier zu debütieren und triumphieren. Mit seinem berühmt gewordenen Morendo am Schluss von Celeste Aida weiß er einen Agenten zur Betreuung seine Tenorlaufbahn zu gewinnen, und gemeinsam mit der Mitschülerin Renata Tebaldi darf er bereits den 50. Jahrestag von Verdis Tod bei der RAI als Tenor mitfeiern.

Erstaunlich ist das Verhältnis zu den Tenorkollegen, wenn Mario del Monaco ihm zwei seiner Vorstellungen an der MET abtritt, Franco Corelli mit seiner Hilfe etwas von seinem Lampenfieber verliert, Pavarotti und Martinucci seinen Rat einholen. Liebenswert erscheint der Tenor dem Leser auch durch die Riten vor jedem Auftritt, die Anhänglichkeit an den Heiligen Antonius von Padua, die Großzügigkeit, was Trinkgelder aller Arten angeht, den Seitenhieb auf Andrea Bocelli und man denkt an die eigenen positiven Erfahrungen zurück, den Tenor, der vor seinem Theater in Busseto auf- und abspazierte, sofort zu einem spontanen Interview bereit war und mit 72 Jahren nicht ohne Stolz meinte:“Komm morgen wieder, da singe ich den Rodolfo“, weil der aus Bergonzis Accademia hervorgegangene junge Tenor sich überlastet fühlte.

Die Dirigenten liebten diesen Sänger, Bruno Walter bewunderte sein „Hostias“, Karajan ebenfalls, brach aber, wie bei ihm üblich, als der Tenor sich nicht reif genug für den vorgeschlagenen Pagliaccio fühlte, den Dirigenten mit einem „maleducato“ bedachte, die künstlerische Beziehung ab. Immerhin schickte er Jahre später dem Tenor ein „il più bravo tenore del mondo“ ins Hotel.

Vieles hört sich wie aus einer längst vergangenen Zeit stammend an, so die Beschreibung des einst als besonders kritisch angesehenen Publikums von Parma, das längst die schlimmsten stimmlichen Schwächen schluckt, bei Bergonzi fehlurteilte und sein morendo als Radames monierte und in zwei einander wütend bekämpfende Lager zerfiel, während die beiden Tenöre Bergonzi und Corelli selbst beste Freunde waren. Kaum zu glauben ist die vom Autor erzählte Geschichte von der Krokodilledertasche, die Bergonzis Gattin Adele von der Theaterleitung angeboten wurde, wenn sie den Tenor dazu bewegen könnte, doch weiterhin in Parma zu singen. Als Füllmaterial werden dann noch die Auseinandersetzungen anderer Sänger wie Renato Bruson mit dem Publikum von Parma herangezogen.

Das Buch ist nicht sehr sorgfältig betreut worden, denn dann befände sich nicht zweimal der gleiche Textabschnitt in ihm, begrüßenswert ist hingegen, dass auch viele andere „Autoren“ zu Wort kommen, so im Vorwort von Alberto Mattioli, im Nachwort von Enrico Stinchelli und vor allem in den vielen Lobpreisungen seiner Kollegen oder Schüler, so Raina Kabaivanska, Leo Nucci (beide auch im Film), Michele Pertusi, Alberto Gazale, Fabio Armiliato und auch Carlo Fontana.

Den Anhang bilden ein Alfabeto Bergonziano, das Repertorio discografico, DVD, Repertorio da Baritono e da Tenore (130 Seiten, Diabasis 2019, ISBN 978 88 8103 937 1). Ingrid Wanja