Archiv für den Monat: August 2020

Balletteinlagen von Rossini & Donizetti

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Die wichtigsten Opernballette wurden für Paris geschrieben (wenngleich auch anderssprechige Häuser diese kannten oder übernahmen), und zu den wichtigsten Komponisten zählen u. a.  Rossini, Donizetti und Verdi – alle drei Ausländer (und Italiener wie einst Lully) – sowie Meyerbeer, der aus seinen Balletten ungeahnte Spektakel machte und sogar die Bühnen dafür umbauen ließ (man denke an die Rollschuh-/Eisbahn der Patineurs).

Uns interessierte der musik-wissenschaftliche Ansatz zu einer gewissen Ehrenrettung des Genres, und wir haben dafür den klugen Text von Michael Kaye ausgegraben. Er hat sich mit den Ballett-Musiken von Rossini und Donizetti, eben mit der Ballett-Tradition am französischen Musiktheater Theater (nämlich auch an der Opéra-Comique), beschäftigt, den wir nachstehend mit Dank wiedergeben, weil wir denken, dass eine Opernöffentlichkeit viel zu wenig zu eben diesen Traditionen der Ballette in Opern weiss, da diese ja fast immer gestrichen werden. Wobei Aufnahmen in jüngerer Zeit dieses Manko gelegentlich korrigieren (so der Hamlet mit Hampson bei EMI/Warner)  und zumindest im Studio oder bei Festival-Mitschnitten (zum Beispiel der Fernand Cortez aus Florenz bei Dynamic mit ausgiebigstem Getrappel) dem Ungekürzten den Vorzug geben.

Eine frühe Daguerrographie des Balletts zu „La Favorite“ Donizettis als eine farbige Diapositiv-Doppelplatte der Lasterna Magica/ Sammlung Bernoit

Aber im Opernalltag sieht es nach wie vor düster aus. Denn da regiert das opportunistisch-tagespolitisch-belehrende Regietheater, das selten etwas mit Entertainment, mit Unterhaltung und Lust zu tun hat und haben will. Was für ein Irrtum! Da gab es nun, wie erwähnt,  Verdis Vepres siciliennes, ab und zu seinen Don Carlos oder gelegentlich auch die Muette de Portici (zuletzt in Cottbus) oder Rossinis und Donizettis Opern für Paris – fast alle ohne die obligatorischen Ballette. Wie kürzlich in Berlin bei den Vepres sind die Vier Jahreszeiten auf den gekürzten Winter zusammengestrichen, die Pellegrina Verdis wird nie aufgeführt (und es war ein großes Verdienst Herbert von Karajans, bei seinem alten Salzburger Don Carlo zumindest die einleitenden Mandolinen in der Gartenszene zu spielen), Guillaume Tell, Moise oder Jérusalem meist ganz ihrer Ballette beraubt, weil sie den zu oft ignoranten Regisseuren nicht in den Kram passen.  Namentlich Verdis Ballette waren kluge Teile der Handlung – man denke an die lyrische Peregrina als Gegenstück zum grausamen Autodafé.

Das Ballett in der Favorite braucht man für die Bestätigung der Beschreibung der vom Tenor besungenen Gärten der Alhambra, Guillaume Tells beide Balette sind wichtig um zum einen die bukolische, unschuldige Stimmung im Kontrast der Schweizer Dörfler gegenüber der Sodateska Österreichs hervorzuheben und andererseits um den Widerstand gegenüber eben dieser zu zeigen. Natürlich sind Ballette auch schowpieces für Startänzer, unjd die Choreographien von Petipa et al. sind bis heute bekannt, Maria Taglioni und ihre Kollegen hatten wie ihre heutigen ihre Fanclubs. Ballett war eine wichtige Kunst- und Unterhaltungsform an den Opernhäusern, abendfüllende Handlungsballette zumal, nicht nur Einlagen. Topoi wie Waldseen, Feen und Willis, stumme Handlungen boten reiche Vorlagen, auch literarische. Heute dümpeln Ballette so vor sich hin, sind auf wenige Titel beschränkt. Wie schade.   G. H.

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Und nun Michael Kaye: Obwohl sich der Name der Pariser Oper unter verschiedenen französischen Regimen geändert und sie seit ihrer Gründung durch Ludwig XIV. am 28. Juni 1669 zahlreiche Gebäude besetzt hat, lautet der offizielle Name der Institution Academie Royale de Musique et de Danse.
Seit Lully und während des gesamten 19. Jahrhunderts war die Leidenschaft für den Tanz unter den Franzosen so stark, dass sich das Corps de Ballet der Pariser Oper keine Sorgen um sein Erfolgspotenzial machen musste. Dieses Corps de Ballet bestand aus mehr als 150 Tänzern mit zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten, dank eines kaiserlichen Gesetzes, das vorschrieb, dass jede Oper, die an der Academie de Musique et de Danse aufgeführt wird, mindestens ein Divertissement oder eine Tanzsequenz enthalten musste. Diese Regelung blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts in Kraft – oft zum Entsetzen großer Komponisten und zur Freude dessen, was das Publikum des 19. Jahrhunderts als künstlerisch betrachtete.

Ballett zu Rossinis „Semiramide“ in Paris, Stich von Bertrand/ BNF Gallica

Opern in Frankreich und Italien wurden oft am selben Abend mit einem und manchmal sogar zwei abendfüllenden Balletten aufgeführt. „Noch nie ist ein Franzose zu Tode getanzt worden noch wird es jemals geschehen“, schrieb Richard Wagner in seinem Bericht an die Dresdner Abendzeitung mit dem Titel „Wunder aus der Ferne“ vom 6. Juli 1841, als beschlossen wurde, Webers Freischütz an der Pariser Oper mit von Hector Berlioz komponierten Rezitativen aufzuführen, die den ursprünglich gesprochenen Dialog ersetzten. Wagner berichtete seiner deutschen Leserschaft: „Zerbrechen Sie sich den Kopf, niemand konnte in dieser unmöglichen Musik eine Passage aufzeigen, zu der der Herr in goldenen Satinstrumpfhosen und die beiden langbeinigen Damen in kurzen Röcken zum Tanzen aufgefordert werden könnten. Nein, es war ganz aussichtslos. Doch irgendwo müssen sie tanzen! In den Freischütz musste ein Ballett hineingeschrieben werden, obwohl er ansonsten genau so aufgeführt wurde, wie er war. Was auch immer für Gewissensbisse gewesen sein mögen, sie wurden bald überwunden, als sich jemand daran erinnerte, dass Weber selbst eine Imitation zum Tanz geschrieben hatte. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn der Tanz auf eigene Einladung des Komponisten stattfand? Herzlichen Glückwunsch rundum; alles war geregelt.“

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Es ist wichtig anzumerken, dass das Wort „Ballett“ die Assimilation französischer und italienischer Tanz-, Musik- und Schauspielelemente zu einem zusammenhängenden dramatischen Ganzen bezeichnet. In Frankreich hingegen wird Tanz, der in den Kontext einer Oper eingefügt wird, als Divertissement definiert und ist nur als Verschönerung gedacht. Tanzen hat die Fähigkeit, Lokalkolorit zu vermitteln und Rituale zu zelebrieren, wie es Musik nicht kann, aber Tanzmusik in der Oper leidet oft unter einer Pseudoexotik, wenn Komponisten durch mangelndes Interesse an oder Wissen über ethnische musikalische Merkmale oder antike musikalische Vertonungen behindert wurden.

Pière Charles Ciceris Dekoration für das dramaturgisch so wichtige Nonnenballett im „Robert le Diable“ Meyerbeers an der Pariser Oper/ Wikipedia

Ein hervorragendes Beispiel für die Meinung eines Komponisten über die Einbeziehung von Tanz in die Oper ist gut dokumentiert in den folgenden Auszügen aus der Korrespondenz von Giuseppe Verdi, der Otello 1894 widerstrebend für eine Produktion an der Pariser Oper überarbeitete. In einem Schreiben an seinen Librettisten Arrigo Boito vom 29. Oktober 1886 warnte Verdi: „Eine gute Idee, das Ballett im zweiten Akt zu haben, und es wird sie glücklich machen. Aber natürlich darf das Ballett nur der Oper dienen: überall sonst muss Otello so bleiben, wie er jetzt ist.“ Sechs Monate später meinte er zu Giulio Ricordi: „Was das Ballett oder besser gesagt das Divertissement betrifft, warum sollte man es überhaupt drucken? Es ist ein schwaches Zugeständnis, das Autoren der Oper machen, und zwar zu Unrecht“ (25. März 1887).

In den 1830er Jahren und in den Jahrzehnten danach war es der Ehrgeiz eines jeden Opernkomponisten, in Paris erfolgreich zu sein. Bellini wagte sich 1833 dorthin, wo er zwei Jahre später starb, wenige Monate nach der Uraufführung von I puritani. Donizetti ließ sich 1838 in Paris nieder, Wagner kam 1839 an und Verdi begann seine lange Beziehung zu den Franzosen im Jahre 1847.

Ballett zu „Guillaume Tell“ Rossinis in Pesaro 2019/ ROF

Gioachino Rossini war längst an den Pariser Theatern etabliert. Während der Pariser Opernsaison 1822 wurden im Théâtre-Italien von insgesamt 154 möglichen Abenden 119 Aufführungen von Rossini-Opern aufgeführt. Viele Jahre war er Musik- und Bühnendirektor dieses Theaters. In den sechs Jahren vor der Komposition seines letzten Opernmeisterwerks, Guillaume Tell, schrieb Rossini neben Il viaggio a Reims, einer szenischen Kantate für die Krönung Karls X., und Le Comte Ory auch
zwei erfolgreiche Überarbeitungen von Partituren, die er ursprünglich für Neapel komponiert hatte: Mosè in Egitto und Maometto II, die in Paris zu Moïse et Pharaon und Le Siège de Corinthe wurden. Diese Überarbeitungen wurden unter Berücksichtigung des vorherrschenden französischen Opernstils und -geschmacks durchgeführt.
Le Siège de Corinthe (uraufgeführt an der Oper am 9. Oktober 1826) ist eine überarbeitete Fassung von Rossinis Opera seria in zwei Akten mit dem Titel Maometto II (uraufgeführt in Neapel am Teatro San Carlo am 3. Dezember 1820) mit einem Libretto von Rossini Cesare della Valle, Duca di Ventignano, nach Voltaires Mahomet, ou Le fanatisme. Auf Italienisch ist diese überarbeitete Version als L’Assedio di Corinto in bekannt.

Bei der Premiere von Le Siège de Corinthe an der Pariser Oper wurde die Choreographie für das Divertissement von M. Gardel entworfen. Es wurde von 126 Tänzern aufgeführt, die als sechs türkische adelige Männer, sechs türkische adelige Frauen, acht Pagen, vierzehn Odalisken, sechs afrikanische Männer, sechs afrikanische Frauen, zwölf Derwische, sechs türkische einfache Frauen, sechs Jugendliche und 51 verschiedene griechische Damen, alte Männer und Kinder kostümiert waren.
Die beiden Airs de danse werden in der dritten Szene des zweiten Akts aufgeführt. Pamira, die Tochter des Gouverneurs von Korinth, ist hin- und hergerissen zwischen griechischem Patriotismus und romantischer Liebe zu Mahomet II., der ihr mitteilt, ihre Ängste zu überwinden und den Feierlichkeiten zu Ehren ihrer bevorstehenden Hochzeit vorzustehen.

Ballett zu „Ricciardo e Zoraide“ Rossinis 2020 in Pesaro/ ROF

Im Nachtrag zu seinen Memoiren behauptete Hector Berlioz am 25. Mai 1858: „Es war wirklich Rossini in Die Belagerung von Korinth, der als erster eine laute Orchestrierung in Frankreich einführte. Doch französische Kritiker erwähnen ihn in diesem Zusammenhang nie, noch beschuldigen sie Auber, Halévy, Adam und eine Reihe anderer für ihre abscheulichen Übertreibungen von Rossinis Stil.“
Moïse et Pharaon, ou Le passage de la mer Rouge wurde am 26. März 1827 an der Oper uraufgeführt. Der Kritiker der Gazette de France verkündete diese umgestaltete Fassung von Rossinis dreiaktiger Azione tragico-sacra mit dem Titel Mosè in Egitto (am 5. März 1818 in Neapel am Teatro San Carlo uraufgeführt) als „nicht weniger als eine lyrische Revolution“. Im dritten Akt werden drei Tänze zum Lob der Isis dargeboten. Der Hohepriester der Ägypter verlangt, dass die Israeliten Isis huldigen, aber Moses lehnt ab. Teile der drei Airs de danse wurden Rossinis Oper Armida entlehnt, die zehn Jahre zuvor für Neapel komponiert worden war.
Guillaume Tell war das erste Werk, das Rossini ausdrücklich für die Pariser Oper komponierte, wo es am 3. August 1829 uraufgeführt wurde. Darin manifestiert er seine Beherrschung des zeitgenössischen französischen Opernstils. Sie diente Generationen von Opernkomponisten als Vorbild, insbesondere in Bezug auf die erweiterte Bedeutung und Personifizierung des Chors, die freie Komposition und die Techniken der Orchestrierung. Es war Rossinis letztes Bühnenwerk. Bis zum 10. Februar 1868 hatte die Pariser Oper es 500  Mal aufgeführt.

Ballett zur „Armida“ Rossinis an der Met/ Foto Ken Howard/Met Opera Archives

Die zweite Szene des zweiten Akts spielt in Altdorf. Gesslers Soldaten feiern das 100-jährige Jubiläum der Eroberung der Schweiz und ihrer Angliederung an das (anachronistische) Kaisertum Österreich. 1834 kommentierte Berlioz in der Gazette musicale de Paris, dass der Pas de trois und der Tiroler Chor, „durchdrungen von rustikalen Schweizer Melodien, sorgfältig geschrieben und von außergewöhnlicher Eleganz sind“.
Am 5. Juni 1821 wurde Rossinis Otello (der am 4. Dezember 1816 in Neapel uraufgeführt worden war) zum ersten Mal in Paris im Théâtre Lyrique aufgeführt, aber das Divertissement wurde für eine Produktion an der Pariser Oper am 2. September 1844 hinzugefügt, wo es in einer französischen Übersetzung von Gustave Vaez und Alphonse Roger gesungen wurde. Die Choreographie wurde von Mazilier entwickelt. Obwohl er als Choreograph nicht sehr angesehen war, profitierten viele Tänzer (darunter Carlotta Grisi und Fanny Elssler) von ihren Auftritten in seinen Balletten, darunter Adams Le Corsaire und Aubers Marco Spada.

Maziliers Tänze für Otello wurden vor dem Finale des ersten Akts eingefügt, das in einem prächtigen Saal im Haus des venezianischen Senators Elmiro spielt, dessen Tochter Desdemone Otello heimlich liebt, einen Mohren, den ihr Vater verabscheut. Um ihr Glück zu sichern, beabsichtigt Elmiro, Rodrigue, dem Sohn des Dogen, zu erlauben, Desdemone zu heiraten, und hat seine Freunde versammelt, um die Hochzeit zu feiern. Die Tänzer führen zwei Pas de deux auf.

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Ballett zur „Favorite“ Donizettis an der Opéra de la Wallonie Liège/ OWL

Ballette in voller Länge waren manchmal die Quelle für Opern. Cammaranos Libretto für Donizettis L’Assedio di Calais wurde teilweise von einem gleichnamigen Ballett inspiriert, das von Louis Henri geschaffen wurde (mit Musik von Cesare Pugni, uraufgeführt 1828), abgeleitet von Luigi Marchionnis Stück, das ebenfalls L’Assedio di Calais hieß. Das Thema stammt wahrscheinlich aus einem historischen Melodram von M. Hubert (Pseudonym von Philippe-Jacques Roche) mit dem Titel Eustache de St Pierre, ou Le Siege de Calais. Donizetti komponierte diese Oper für Neapel, wo sie am 19. November 1836 uraufgeführt wurde, in der Hoffnung, sie auf die Bühne der Pariser Oper exportieren zu können.
In einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi vom 22. November 1836 beschrieb Donizetti diese ein Jahr nach Lucia di Lammermoor komponierte Oper als seine „am sorgfältigsten ausgearbeitete Partitur“. In einem Schreiben vom 21. Mai 1837 an seinen Freund, den berühmten Tenor Louis-Gilbert Duprez (der am 17. April 1837 ein sensationelles Debüt an der Pariser Oper als Arnold in Guillaume Tell gab und anschließend dabei half, für Donizetti eine Arbeit in Paris zu arrangieren) flehte Donizetti Duprez an, ihn dem Direktor der Oper, Charles Duponchel, zu empfehlen: „Ich würde ihnen so viele Tänze (ballabili) schreiben, wie sie wollen. Ich würde ändern oder verlängern, [welche Musik] auch immer Sie möchten … Das Werk, das ich gerne in der Grand Opéra präsentieren würde, wäre L’Assedio di Calais, die
gelehrteste meiner Opern, die am besten zum französischen Geschmack passt und
daher von allen als für Paris komponiert angesehen wird.“ L’Assedio di Calais wurde zu Donizettis Lebzeiten in Paris nicht gegeben. Obwohl es als eines der interessantesten Werke Donizettis gilt, wurde es selten irgendwo aufgeführt.

Szene aus Aubers Oper „Le lac des Fées“/ BNF Gallica

Les Martyrs wurde am 10. April 1840 an der Oper uraufgeführt. Der enorme Erfolg von Donizettis Lucia di Lammermoor am 12. Dezember 1837 im Théâtre-Italien ebnete schließlich den Weg für seine lang ersehnte Einladung nach Paris und seinen dortigen Arbeitsvertrag. Für sein Debüt an der Oper entschied sich das Management für eine Neufassung von Donizettis Opera seria Poliuto, die 1838 für Neapel komponiert, aber vom König verboten wurde, weil sie (in Donizettis Worten) „zu heilig“ war.
Die Pariser Oper wollte den Umfang von Donizettis Originalwerk, das auf Corneilles Polyeucte basiert, von drei auf vier Akte erweitern, daher war es am bequemsten, den letzten Teil des ersten Akts und die Eröffnung des zweiten Akts zu ändern, anstatt andere Abschnitte der Handlung anzutasten. Die in die sechste Szene des zweiten Akts eingefügte Tanzmusik besteht aus einem Divertissement mit drei Nummern, placiert zwischen der Arie und der Cabaletta, die vom Proconsul Severe während der Triumphszene auf dem öffentlichen Platz gesungen wird.

Scribes Libretto legt fest, dass „zwei gegnerische Gladiatorentruppen einander angreifen und sich im Laufe ihres Kampfes neu formieren. Letztendlich treten zwei einzelne Gladiatoren in einen Nahkampf, und nach einem anstrengenden Duell wird einer von ihnen besiegt. Als der Sieger im Begriff ist, seinen Gegner zu töten, erhebt sich Severe und winkt dem Gladiator zu, seinem zu Boden gegangenen Kontrahenten zu verzeihen. Auf den Gladiatorenwettbewerb folgen griechische und römische Tänze, die von jungen Frauen aufgeführt werden. Sie enden mit einem goldenen Kranz zu Severes Füßen.“

Donizettis La Favorite wurde am 2. Dezember 1840 an der Oper uraufgeführt. Das Divertissement spielt im spanischen Königreich Kastilien und findet im zweiten Akt im maurischen Palast von Alcazar statt. Alphonse XI., König von Kastilien, hat seiner Geliebten Léonor de Gusman versprochen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, um Léonor zu heiraten und sie zur Königin zu machen.Der König befiehlt Léonor, ihre Traurigkeit zu vergessen und die Feierlichkeiten zu genießen, die er für sie geplant hat.

Das Programm der Tänze, aufgeführt von spanischen Mädchen und Sklavinnen, von denen einige maurisch waren, wurde im offiziellen Produktionsbuch (mise en scene) der Uraufführung veröffentlicht, das als Beilage zur Revue et Gazette des Théâtres vom 17. Januar 1841 veröffentlicht wurde. Beim „Pas de mauresque“ gesellten sich zu den Damen und Herren des Corps de Ballet vier kleine maurische Musikanten, die kleine Trommeln spielten. Zu den Solotänzern gehörten Louise Fitzjames, Adele Dumilätre, Mesdames Maria, Noblet, Alexis, Blangy und Mr. Auguste Mabille. Am 12. Februar 1841 gab die berühmte Ballerina Carlotta Grisi zur Freude des Pariser Publikums ihr Debüt an der Pariser Oper in La Favorite.
Dom Sebastien ist Donizettis längste Oper. Es war auch die letzte vollständige Oper, die er komponierte, und seine einzige Oper, die ausdrücklich für die Pariser Oper geschrieben wurde, wo am 13. November 1843 ihre Uraufführung erfolgte. Die erste Szene des zweiten Akts spielt in Marokko, in Ben-Selims Wohnung in der Nähe von Fez, wo er der Gouverneur ist. Seine Tochter Zayda, die von portugiesischen Feinden gefangen genommen und christlich getauft wurde, ist von Dom Sebastien, dem König von Portugal, befreit worden, den sie heimlich verehrt. Ben-Selim befiehlt, zur Feier der Rückkehr seiner Tochter zu tanzen. Donizetti war ziemlich stolz auf die Tanzmusik, die er für den zweiten Akt komponierte, und sie wurde häufig von Ballettkompanien außerhalb des Kontexts der Oper aufgeführt. In den italienischen Ausgaben der Oper (bekannt als Don Sebastianò) trägt das Finale des Divertissements den Titel „Ballabile di Schiavi“ (Tanz der Sklaven) . Michael Kaye/Übersetzung Daniel Hauser

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Michael Kayes Artikel erschien in Englisch in einer inzwischen vergriffenen LP-Sammlung von Ballettmusiken von Rossini und Donizetti bei Philips/ Abbildung oben: Szene aus Meyerbeers „Crociato in Egitto“ von Bagnara/ Opera Rara

Erstmals auf CD und toll dirigiert

 

Mehrere Jahrzehnte Rossini-Renaissance haben den Bewunderern des Komponisten aus Pesaro derart viele Neuentdeckungen und CD-Premieren beschert, dass man kaum glauben kann, dass ein Label noch ein gewichtiges Werk aufstöbern kann, das nie aufgenommen wurde. Das ist aber der kleinen, aber feinen Firma Concerto Classics aus Italien tatsächlich gelungen. Die hier eingespielte, über 45 Minuten lange Kantate La riconoscenza („Die Dankbarkeit“) ist zwar ab 1973 mehrmals aufgeführt worden (zuletzt in Pesaro 2019), aber eine Plattenproduktion folgte dem Live-Erlebnis nie. Sie erscheint jetzt in einer Studio-Aufnahme aus Lugano, wo sie schon 2002 zur Aufführung gekommen war.

Rossini schuf die Kantate unter besonderen Umständen. Er bekam um 1820 den Auftrag für eine Kantate, um die Hochzeit des Sohnes von Maria Luisa, der kurzfristigen Königin von Etrurien (1801-1803) von Napoleons Gnaden und nunmehrigen Herzogin von Lucca, musikalisch auszuschmücken. Zwar kam der vielbeschäftigte Rossini nicht dazu, aber er schrieb eine Kantate anlässlich des Besuchs der Herzogin in Neapel im Jahr 1821. Ironie des Schicksals: bei der Uraufführung im privaten Rahmen war Maria Luisa nicht zugegen (sie hörte sie erst 1822). Der Öffentlichkeit wurde die Kantate am 27. Dezember 1821 vorgestellt, kurz bevor Rossini Neapel in Richtung Wien verließ. Das nicht ganz taufrische Abschiedsgeschenk kam gut an, und Rossini verwendete Teile der Komposition für andere Anlässe (aus dem darauf gründenden Vero omaggio von 1822 findet sich eine Cavatina für Sopran auf der CD). Der Komponist war bekanntlich nicht zimperlich, was die Libretti angeht, weil er sich das wie alle Kollegen im damaligen Wahnsinnsbetrieb, der Opernwelt, gar nicht leisten konnte. Für die Riconoscenza hatte er besonderes Pech. Der Verfasser des Textes war Don Giulio Genoino (1773-1856), ein Geistlicher (bis 1848) und Vielschreiber, der die damalige literarische Welt mit Gedichten, Theaterstücken, Libretti (neben der Kantate für Rossini kennt die Fachwelt noch die Farsa La lettera anonima für Donizetti im Jahr 1822) und Schriften bunten Inhalts überschwemmte. Ein neapolitanisches Schlitzohr war er auch: er bekleidete die gut dotierte Stelle eines Bibliothekars im Innenministerium des Königreichs Neapel, aber man munkelte, dass die Bibliothek gar nicht existierte. Im Vorwort seiner Opere liriche („Gedichte“, Bd. 2, Neapel 1825) spricht Genoino davon, dass seine poetische Ader zeitweise „so fruchtlos und stumpf war, dass kein Mittel war, eine Idee zusammen zu basteln“.

Das muss die Gemütslage gewesen sein, in der er sich befand, als er den Text der Cantata pastorale für Rossini schrieb. Man reibt sich die Augen: Genoino lässt Hirten mit gräzisierenden Namen im bukolischen Ambiente auftreten, um wortreich die Lobeshymne der Widmungsträgerin Maria Luisa anzustimmen. Der peinliche, auch sprachlich banale Text könnte von einem Metastasio-Nachahmer um 1780 stammen. Vierzig Jahre später ist der leere Wortschwall aus der Zeit gefallen. Das hinderte Rossini nicht daran, eine brillante, vergnügliche Partitur zu schreiben, die höchste vokale Ansprüche an die Interpreten stellt.

Dementsprechend braucht man dafür nicht nur stilsichere, sondern auch sehr virtuose Stimmen. Das Ensemble, das hier im Rahmen des von Markus Poschner auf mehrere CD angelegten Rossini Project zu hören ist, bemüht sich redlich, den Schwierigkeiten gerecht zu werden. Das gilt vor allem für die Tenor-Partie. Es ist die einzige Rolle, die Rossini für den berühmten Giovanni Battista Rubini (1795-1854) schrieb, den tenoralen Helden der romantischen Generation, der mit der Uraufführung der Puritani 1835 Operngeschichte schrieb. Rubini hatte mehrere Stücke Rossinis im Repertoire, aber es kam nie zu einer engen Zusammenarbeit, auch wenn die beiden noch bis in die 1850er Jahre Briefe austauschten (vgl. Reto Müllers Besprechung der Edition von Rubinis Korrespondenz in: La Gazzetta 29, 2019, S. 113-121). Um Rubinis Technik glänzen zu lassen, schrieb Rossini einige fiese, stratosphärisch hohe Passagen in die Kantate (Arie „Gratitudine, cara ai celesti“). Edgardo Rocha kommt hier rasch an seine Grenzen, zieht sich allerdings insgesamt ehrenvoll aus der Affäre. Der wendige, aber teilweise schneidige Sopran von Michela Antonucci ringt mehr oder weniger erfolgreich mit der Partie der Argene, während Laura Polverellis tremulierende Mezzo-Stimme das Ende einer würdigen Karriere ankündigt. Mirco Palazzi hat kaum etwas zu singen. Das wirkliche Ereignis ist indes Poschners Leietung. Man kann heutzutage wenige Dirigenten nennen, die das deutsche und das italienische Repertoire des 19. Jahrhunderts mit derartiger Souveränität und unfehlbarem Geschmack interpretieren können. Poschner hat Preise für seinen Brahms und seinen Strauss erhalten und sich auch schon als Beethoven-Dirigent hervorgetan (u.a. mit einer denkwürdigen Serie der Symphonien und Klavierkonzerte mit Francesco Piemontesi in Lugano). Man wird von einem solchen Künstler nicht unbedingt erwarten, dass er sich mit vergleichbarer Begeisterung dem gerade nördlich der Alpen immer noch unterschätzten Rossini widmet. Poschner tut das. Nicht nur die schmissig dirigierte, im Detail schön herausgearbeitete Kantate, sondern vor allem das Eröffnungsstück auf der CD lässt aufhorchen. Die Sinfonia (Ouvertüre mit Chor) von Ermione hat man selten mit solcher Wucht dargeboten gehört, und man darf hoffen, dass der Dirigent in Zukunft den Rossini serio erkunden wird. In der Zwischenzeit kann sich jeder Rossini-Liebhaber diese in ihrer Gesamtheit gelungenen und schön aufgemachten CD con riconoscenza zu Gemüte führen. Michele C. Ferrari

 

The Rossini Project, vol. 2: From Naples to Europe. La riconoscenza, Cantata pastorale; Ermione, Elisabetta, ‚Sinfonie; Ausschnitte aus Il vero omaggio und der Cantata a quattro voci con cori (1823): Michela Antonucci (Sopran), Laura Polverelli (Mezzosopran), Edgardo Rocha (Tenor), Mirco Palazzi (Bass), Coro della Radiotelevisione svizzera, Orchestra della Svizzera italiana, Markus Poschner, CD Concerto Classics 2118 (www.concertoclassics.it)

José van Dam …

 

Zu  meinen absoluten Lieblingssängern gehört der belgische Bass-Bariton José van Dam, der am 25. August 2020 seinen 80. Geburtstag beging. Als Westberliner hatte ich das ganz große Privileg ihn als jungen Mann (nur 5 Jahre älter als ich, wie ich gerade feststelle) in seinen Prachtrollen zu hören: Leporello, Masetto, Don Alfonso, vor allem auch Figaro beider Komponisten, Ferrando im Troubadour, Paolo im Boccanegra neben dem ebenfalls sattstimmigen  Ingvar Wixell, als Attila neben alternierend Gundula Janowitz (und den Problemen in der ersten Arie) oder der flamboyanten Lou-Ann Wyckhoff (dto. zweite Arie) und natürlich wieder Wixel sowie Fortune. Als Escamillo alternierter er mit George Fortune, als Doktor Mirakel/Hoffmanns Erzählungen prunkte er mit seiner balsamischen Stimme ebenso wie als Mönch im Don Carlo oder als  Elias im Konzert. Mir ist diese unvergesslich individuelle Stimme so gut im Ohr, dass ich manche Partien wie den Leporello (noch neben Siepi) oder Don Alfonso oder Mozarts Figaro  lange Zeit nicht von anderen hören konnte. Sein Orest war ebenso eine interessante Facette dieser Zeit.

Und zu den SFB-Rundfunkschätzen jener Jahre gehören seine Dokumente aus dem Hans Heiling (neben der DOB-Kollegin Agnes Baltsa als Mutter), Webers Lysiart (neben Els Bolkestein/Eglantine  von der Komischen nebenan), Fürst Igor, Bertram/Robert der Teufel, Tomski/ Pique Dame und den Königskindern -. sein Spielmannslied macht mich heute noch schlucken. Ach ja. Wir haben für ihn geschwärmt.

Natürlich blieb er nicht in Berlin und machte große Karriere mit den Partien seines Fachs, wenngleich vielleicht der Holländer (ein ganz wunderbares Dokument aus Paris unter Varviso), Filippo/Philippe von Verdi oder auch der Boris Godunov ihn an seine  Grenzen führten, aber vor allem als Verdis leidvoller König ist er mir aus Brüssel und London neben Roberto Alagna und in Covent Garden und der interessanten Martine Dupuy unvergesslich. Stets war es seine extraordinäre Diktion, die die Musik trug, in allen Sprachen, die ich von ihm gehört habe. Die mustergültige Verschmelzung von Sprache und Musik, von Singen eben auf der Sprache gab seinen Auftritten und Dokumenten etwas Einzigartiges, Unnachahmliches. Sonores vermählt mit Schönklang, Biss und unglaublicher, topsicherer Technik. Wann hat man das? José van Dam setzte für mich Maßstäbe der Qualität, der gesanglichen Schönheit und der engagiertren Interpretation. Bon anniversaire, Mâitre. G. H.

 

Seine außerordentliche Karriere, die ebenso so glanzvoll wie vielseitig war, dokumentiert der unersetzliche Kutsch-Riemens (Großes Sängerlexikon) mit nachstehendem Artikel. Dam, José van, Baß-Bariton, * 27.8.1940 Brüssel; eigentlich Joseph Van Damme. Ausbildung durch Frédéric Anspach am Konservatorium von Brüssel, wo er sein Diplom für Operngesang und als Gesangslehrer erhielt. Nachdem er mehrere Gesangwettbewerbe gewonnen hatte, debütierte er 1960 am Opernhaus (Opéra de Wallonie) von Lüttich als Basilio im »Barbier von Sevilla«. 1961 kam er an die Grand Opéra Paris (Antrittsrolle: Wagner im »Faust« von Gounod), an der er bis 1965 blieb, und u.a. in »Les Troyens« von Berlioz auftrat und den Escamillo in »Carmen«, aber auch kleinere Partien sang. 1965-67 sang er am Grand Théâtre Genf; hier wirkte er 1966 in der Uraufführung von »La Mère coupable« von Darius Milhaud mit. 1967 wurde er an das Deutsche Opernhaus Berlin berufen und begann nun eine große internationale Karriere. In Berlin sang er den Paolo in Verdis »Simon Boccanegra«, den Leporello im »Don Giovanni« und den Alfonso in »Così fan tutte«. Er gab Gastspiele in Brüssel, Stockholm, an der Covent Garden Oper London (Debüt 1973), in Lissabon und München, bei den Festspielen von Aix-en-Provence und an der Oper von Santa Fé (1967 als Escamillo, zugleich sein USA-Debüt). 1970 debütierte er an der Wiener Staatsoper als Leporello im »Don Giovanni« und leitete damit auch dort eine große Karriere ein.

1972 sang er an der Mailänder Scala den Escamillo in »Carmen«. 1973 gastierte er am Teatro Fenice Venedig als Kaspar im »Freischütz« von Weber, 1973-74 glanzvolle Gastspiele an der Grand Opéra Paris und am Opernhaus von Straßburg. Er gastierte an den Opernhäusern von Lüttich und Zürich, von San Francisco (1970) und Dallas, in Amsterdam und Monte Carlo. 1975 wurde er an die Metropolitan Oper New York berufen, wo er im November diesen Jahres als Escamillo debütierte und in einer langen Karriere u.a. den Golo in »Pelléas et Mélisande«, den Colline in »La Bohème«, den Figaro in »Nozze di Figaro«, den Jochanaan in »Salome« von R. Strauss und den Wozzeck von A. Berg sang. Bei den Festspielen von Salzburg trat er 1974-76 und 1979-80 als Titelheld in »Nozze di Figaro« auf, 1974 und 1980-81 als Sprecher in der »Zauberflöte«, 1977-78 als Jochanaan, 1975-77 als Mönch im »Don Carlos« von Verdi, 1980-82 in den vier dämonischen Partien in »Hoffmanns Erzählungen«, 1982 als Alfonso in »Così fan tutte«, 1985-86 als Escamillo, 1993 als Falstaff von Verdi. Seit 1970 wirkte er länger als zwanzig Jahre in den Konzertveranstaltungen der Salzbuger Festspiele mit, u.a. in Beethovens 9. Sinfonie (1976), der »Schöpfung« von J. Haydn (1977, 1982), der Hohen Messe von J.S. Bach (1985), dem »Elias« von Mendelssohn (1984), dem Deutschen Requiem von J. Brahms (1983) und der 8. Sinfonie von Gustav Mahler (1975). Er trat dort in Mozart-Konzerten auf und gab viel beachtete Liederabende. Bereits 1968-72 sang er in den Salzburger Aufführungen von Cavallis »Rappresentazione di Anima e di Corpo«. Bei den Osterfestspielen von Salzburg hörte man ihn als Amfortas im »Parsifal«, als Rocco wie als Minister im »Fidelio«, als Ferrando im »Troubadour« und 1992 als Fliegenden Holländer. Am 28.11.1983 sang er an der Grand Opéra Paris die Titelpartie in der Uraufführung des Opernwerks »Saint François d’Assise« von Olivier Messiaen und wiederholte diese bei Aufführungen im Rahmen der Salzburger Festspiele (1992) und an der Opéra Bastille Paris (1992). 1987 sang er an der Mailänder Scala den Don Giovanni zur 200-Jahrfeier der Uraufführung dieser Oper, 1986 in Brüssel den Boris Godunow von Mussorgsky, 1989 an der Grand Opéra Paris den Wilhelm Tell in der Rossini-Oper gleichen Namens, den er 1991 auch am Grand Théâtre Genf vortrug. Er trat auch als Gast am Opernhaus von Köln und am Nationaltheater Mannheim auf. Beim Festival von Orange sang er 1990 den Mephisto im »Faust« von Gounod, an der Opéra Bastille 1992 wieder die Dämonen in »Hoffmanns Erzählungen«, am Teatro Colón Buenos Aires 1995 den Titelhelden in Verdis »Simon Boccanegra«, 1996 am Théâtre Châtelet Paris und an der Covent Garden Oper London den König Philipp in Verdis »Don Carlos«. Zu seinen Hauptrollen gehörten neben den Mozart-Partien seines Stimmfachs der Mephisto in »Faust« von Gounod, der Escamillo in »Carmen«, der Golo in »Pelléas et Mélisande« und der Alfonso in »Lucrezia Borgia« von Donizetti. Große Erfolge als Konzertsänger in Chicago, Boston, Los Angeles, Tokio und in den europäischen Musikmetropolen.

 

Schallplatten: HMV (vollständige Opern »Carmen«, »Fidelio«, Jochanaan in »Salome« von R. Strauss, »Pelléas et Mélisande«, »Zauberflöte«, »Ciboulette« von Reynaldo Hahn, »Così fan tutte«, »Aida« und »Simon Boccanegra« von Verdi, »Louise« von Charpentier, »Mireille« und »Roméo et Juliette« von Gounod, »La jolie fille de Perth« von Bizet, »Hoffmanns Erzählungen«, »Guercoeur« von A. Magnard, »Oedipe« von Enescu, Requiem von Gabriel Fauré), Decca (»Un Ballo in maschera« von Verdi, »Carmen«, »Damnation de Faust« von Berlioz, »Figaros Hochzeit«, »Frau ohne Schatten« von R. Strauss), RCA (Verdi-Requiem), DGG (»Parsifal«, »Zauberflöte«, »L’Heure espagnole« von Ravel, »Pelléas et Mélisande«, 9. Sinfonie und Missa solemnis von Beethoven, »Roméo et Juliette« von Berlioz, 8. Sinfonie von G. Mahler), CBS (»Don Giovanni«), Erato (»Pénélope« von Gabriel Fauré, »Dardanus« von Rameau, h-moll Messe von Bach, »L’Enfance du Christ« von [Nachtrag] Dam, José van; nachdem er während zwanzig Jahren dort nicht mehr aufgetreten war, sang er 1981 am Théâtre de la Monnaie Brüssel den König Philipp im »Don Carlos« von Verdi. 1997 gastierte er an der Oper von Rom als Fliegender Holländer, 1998 am Opernhaus von Toulouse als Boris Godunow. 1998 sang er bei den Salzburger Festspielen wieder die Titelrolle in O. Messiaens »Saint François d’Assise«, 1999 an der Oper von Monte Carlo den Escamillo in »Carmen«. – Lit: A. Clark: José van Dam (in »Opera«, 1993). – Schallplatten: Decca (Hans Sachs in den »Meistersingern«), EMI (Frère Laurent in »Roméo et Juliette« von Gounod, Nilakantha in »Lakmé« von Delibes, Titelrolle in Puccinis »Gianni Schicchi«). [Lexikon: Dam, José van. Großes Sängerlexikon, S. 5; (vgl. Sängerlex. Bd. 6, S. 284) (c) Verlag K.G. Saur] (Foto © Deutsche Oper Berlin / kranichfoto.)

Geheimnisvolle Kratzspur

 

Es könnten die Spuren eines Kampfkaters sein, der seine Krallen gewetzt und dabei große Fetzen Leinwand aus dem Portrait Richard Wagners gerissen hat, das als Cover für Szenen-Macher dient, denn für die zarteren Pfötchen von Laborratten oder die eines anschließend zum Verwesen verurteilten Hasen sind die Spuren einfach zu prägnant. Es handelt sich um den dritten Band als Ergebnis des seit 2017 stattfindenden Diskurs Bayreuth und er trägt den Titel Szenen-Macher, der die Gedanken in eine ganz andere Richtung drängt, in die auf die Regisseure, die in den vergangenen Jahren sich zwar nicht am Portrait, sondern am Werk des großen Komponisten zu schaffen machten, oft in ähnlicher Weise und mit ähnlichem Ergebnis wie die Verunstalter des Cover-Portraits.  Für das, was  schriftlich während des Symposiums festgehalten wurde, zeichnen Katharina Wagner, Holger von Berg und Marie Luise Maintz als Herausgeber verantwortlich, haben auch gemeinsam ein Vorwort verfasst.

Stephan Mösch, Professor, Mitarbeiter an der Zeitschrift Opernwelt (und ehemaliger Chefredakteur des Magazins), befasst sich mit dem im doppelten Sinn als Jahrhundert-Ring bekannnten Regiewerk von Chereau/Boulez, berichtet auf höchst interessante Weise davon, wie zunächst ganz andere Regisseure im Gespräch waren, so Peter Stein, der die Erstellung eines Konzepts empört ablehnte, den Ring eher als Spielmaterial denn als zu respektierendes Kunstwerk ansah, über Chereau, der ihn als ästhetisches Gefüge betrachtete. Er stellt die Bedeutung von André Glucksmann für den Jahrhundert-Ring heraus und betont die faire Haltung von Wolfgang Wagner gegenüber dem zunächst auf große Ablehnung stoßenden französischen Regisseur, der nicht im Gold, sondern in der Macht, nicht in Alberich, sondern in Wotan Dreh- und Angelpunkt sah. Berührend ist der Brief, den Chereau an Wagner schrieb, und er hätte vielleicht manchen Buh-Rufer zum Schweigen gebracht.

Matthias Pasdzierny berichtet über die Ära Heinz Tietjen, klammert bewusst alles, was nicht streng an seine künstlerische Arbeit in Bayreuth gebunden ist, aus und vermittelt besonders anhand eines Regie-Klavierauszugs von Tristan über dessen Regiehandschrift, ergänzt durch Fotos von der Probenarbeit Erhellendes. Die Frage „Hat Tietjen je gelebt?“ wird eindrucksvoll, ausgewogen und unterhaltsam beantwortet.

Kai Köpp widmet sich der Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Die Partitur führt Regie und untersucht den Anteil an Wagners Regie, den die damals allgemein übliche Praxis hatte, und denjenigen, der auf Wagner selbst zurückgeht. Stummfilme und Gestik-Lehrwerke sowie ein Einblick in die Kompositionslehre dienen dabei als Quellen.

Rebecca Grotjahn untersucht, inwiefern für Wagner Wilhelmine Schröder-Devrient als Idealbild einer Mimin galt, in welchem Verhältnis Sprache und Gesang in ihrer Kunst standen, inwieweit das In-der-Rolle-Aufgehen zum Vorbild werden konnte.

Auch die Dramaturgin Kerstin Schüssler-Bach widmet sich Frauen, nämlich Cosima und Winfried Wagner, die sowohl als Frauen wie als Ausländerinnen verunglimpft wurden. Ihre Verdienste um Bayreuth werden gewürdigt, Winfried kommt trotz Hitler-Verehrung bis zum Ende außergewöhnlich gut weg, eher Wieland wird des Intrigantentums bezichtigt. Cosima wird zugestanden, für eine ästhetische Steigerung, reine Arrangements vermeidend, gesorgt , mit Isidora Duncan im Venusberg Neuerungen gewagt zu haben. Dem Meiningertum, dem Cosima anhing, ist eine Diskussionsrunde gewidmet.

Alexander Meier-Dörzenbach und Markus Kiesel befassten sich mit der Ära Siegfried Wagners, seiner heiklen Mission als „künstlerischem Gottessohn“, den Antipoden Wagnerfestspiele als „Befestigungsspiele unseres Glaubens an den deutschen Geist“ und dem Eintreten für Juden als Zuschauer und Mitwirkende. Als bedenklich wird angesehen, dass Bayreuth anders als andere Bühnen bekannte Maler wie Max Slevogt als Bühnenbildner zurückwies. Als „Spagat zwischen Tradition und Moderne“ wird Siegfrieds Bayreuther Zeit  von Meier-Dörzenbach angesehen, während sich Kiesel den baulichen Veränderungen und Erbfolgeproblemen zuwandte.

In einem Gespräch widmeten sich Tobias Kratzer, Regisseur des Tannhäuser 2019, und die Witwe von Joachim Herz, Kristel Pappel, u.a. der Frage, wie sich die Figuren von Venus und Elisabeth zueinander verhalten, dass nicht eine Utopie, sondern ein Nahtoderlebnis vermittelt werden sollte.

Eine Vorschau auf den aus bekannten Gründen noch nicht verwirklichten neuen Ring gibt es mit dem Regisseur Valentin Schwarz und mit Paul Esterhazy unter dem altbekannten Aufruf Wagners:“Kinder! Macht Neues!“. Worin das nun 2021 (hoffentlich) bestehen wird, bleibt noch weitgehend ein Geheimnis.

Zum „Paradigmenwechsel in der Wagner-Regie“ äußern sich Johannes Erath und Wolfgang Nägele, und bei ihnen ist von „fremdenfeindlichem Gedankengut“ und „Kollektivschuld“, von „mit welcher Last leben wir“ die Rede, dann recht unverhofft vom Geheimnis der Liebe, das größer ist als das Geheimnis des Todes sei.

Francis Hüsers und Michael Schulz fragen sich anschließend, ob es, es ist von  Wagner außerhalb Bayreuths die Rede, eine Rückkehr vom Regie- zum Bildertheater gebe, meinen, aus den Peripherien könnten neue Zentren der Wagnerregie werden. Abschließend macht Christoph  U. Maier den Leser mit Richards Wagners Stilbildungsschule bekannt.

Das anregende, vielseitige Buch verfügt über einen reichhaltigen Anhang von Anmerkungen, Informationen zum Diskurs Bayreuth, den Autorenkreis und ein Personenregister (240 Seiten, Bärenreiter Verlag 2020; ISBN 978 3 7618 2492 4). Ingrid Wanja

Julian Bream

 

Viele meiner Generation werden sich an den britischen Gitarristen Julian Bream erinnern. Seine LPs auf RCA und anderen Firmen waren in vielen Studentenhaushalten zu finden. Seine unvergleichliche Spielart, sein breites Repertoire zwischen viel Barock aber auch modernem Jazz und (für damalige Verhältnisse gemäßigstem ) Pop machten ihn zu einer Kultfigur einer Zeit vor Joan Baez und Christopher Parkening. Ich erinnere mich gut an die Freude, seine Platten im Berliner British Center auszuleihen, wo ein schütteres altes Ehepaar mir die wunderbaren Aufnahmen empfahl und ich sie ausleihen konnte. Julian Bream war wirklich ein Meilenstein in meiner musikalischen Erfahrung. Nachstehend zwei Würdigungen dieses bedeutenden Musikers. G. H.

 

Der bedeutende Gitarrist und Lautenist Julian Bream ist am vergangenen am 21. 8. 2020  im Alter von 87 Jahren gestorben. Das Repertoire des Briten war enorm weit gespannt und reichte von lange vergessener Musik der Tudor-Zeit über das spanische Repertoire von Sor, Turina oder Albéniz bis zu zeitgenössischen Meisterwerken so bedeutender Komponisten wie Benjamin Britten, Hans Werner Henze und Tōru Takemitsu. Zahlreiche seiner Alben wurden mit Auszeichnungen, darunter dem Grammy, prämiert. „Die Klangschönheit, ruhige Klarheit, trennscharfe Artikulation und Noblesse von Breams Spiel mussten jeden fesseln“, hieß es über ihn in der Süddeutschen Zeitung/ Quelle/ Foto  Sony

 

Und das tapfere Wikipedia schreibt: Julian Bream (* 15. Juli 1933 in London; † 14. August 2020 in Wiltshire) wurde in Battersea/London geboren und wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Sein Vater, Henry George Bream, spielte Jazzgitarre, und der junge Julian Bream war beeindruckt, als er Musik von Django Reinhardt hörte. Er wurde angeregt, Klavier, aber auch Gitarre zu lernen. Nachdem er eine von seinem Vater besorgte Aufnahme von Tárregas Recuerdos de la Alhambra, gespielt von Segovia, gehört hatte, beschloss er, nicht Cricket-Spieler, sondern Gitarrist zu werden. An seinem 11. Geburtstag erhielt Bream von seinem Vater eine Konzertgitarre geschenkt, deren Spiel er als Autodidakt erlernte. Er gewann mit 12 Jahren einen Juniorenwettbewerb auf dem Klavier, was ihm ermöglichte, Klavier und Cello an der Königlichen Hochschule für Musik zu studieren. Sein erstes Konzert mit der Gitarre gab er 13-jährig 1947 in Cheltenham. Schon als Teenager spielte er als klassischer Gitarrist Filmmusik.

Sein Debüt gab er 1951 in der Wigmore Hall in London. Nach dem Militärdienst, währenddessen er in einer Bigband E-Gitarre gespielt hatte, nahm er seine berufliche Karriere wieder auf und gab für einige Jahre Konzerte auf der ganzen Welt. Zum Programm gehörte eine jährliche Tournee durch die USA und durch Europa.

Bream gehörte zu den Musikern, die in der Neuzeit die Laute wieder populär machten. Mit dem Tenor Peter Pears gab Bream als Lautenist in den 1950er- und 60er-Jahren zahlreiche Liederabende mit Werken englischer Renaissance-Komponisten (John Dowland, Thomas Morley usw.); durch diese Zusammenarbeit und als Lautensolist hat Bream einem großen Publikum die Musik des 16. Jahrhunderts, der Elisabethanischen Zeit, nahegebracht. 1960 gründete er das Julian Bream Consort, in dem er Laute spielte, als eine der ersten Musikgruppen zur Aufführung alter Musik auf Originalinstrumenten. (Ein weiterer Lautenist des Julian Bream Consorts war ab 1975 James Tyler). 1963 musizierte er, live übertragen von der BBC, mit dem indischen Musiker Ali Akbar Khan und bereiste anschließend Indien. 1964 wurde er Officer of the British Empire.

Seine Themenabende waren sehr weitreichend. Er spielte Stücke aus dem 17. Jahrhundert, Werke von Johann Sebastian Bach, die für Gitarre arrangiert wurden, Werke des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos, aber auch populäre spanische Stücke.

Viele Komponisten arbeiteten eng mit ihm zusammen und schrieben ihm Werke auf den Leib, darunter Malcolm Arnold, Benjamin Britten, Leo Brouwer, Peter Racine Fricker, Hans Werner Henze, Humphrey Searle, Tōru Takemitsu, Michael Tippett und William Walton. Ein Beispiel ist Brittens 1963 komponiertes Nocturnal after John Dowland, das John Dowlands Come Heavy Sleep weiterentwickelt, eines der bedeutendsten Stücke für klassische Gitarre. Der Komponist Benjamin Britten hatte bei seiner Arbeit an Nocturnal immer Bream im Hinterkopf. Ein weiteres herausragendes für Bream komponiertes Werk sind die Sonaten der Royal Winter Music von Hans Werner Henze. Breams auf die Gitarre übertragene Interpretationen der Klavierwerke Suite española von Isaac Albéniz und Danza No. 5 aus den Danzas españolas von Enrique Granados gelten als Meilensteine der Interpretationsgeschichte.

Im Londoner Verlag Faber Music gab er die Faber Guitar Series mit Notenausgaben für die Klassische Gitarre heraus. Durch seine zahlreichen Auftritte, Fernseh- und Radioübertragungen wurde Bream zu einer Leitfigur für klassische Gitarrenmusik im 20. Jahrhundert. 1967 veröffentlichte er sein Album 20th Century Guitar.

Für das Fernsehen produzierte Bream 1985 „Guitarra! – A musical Journey through Spain“. Diese Filmserie in acht Teilen über die gesamte Geschichte des Instrumentes wurde in mehreren Ländern gesendet und ist auch auf DVD erhältlich. In diesen Filmen spielt Bream außer der klassischen Gitarre auch Vihuela, Renaissance- und Barockgitarre.

#Eine ausführliche DVD erschien 2003 mit My Life In Music von Regisseur Paul Bahner, die drei Stunden Interviews und Konzerte enthält. Graham Wade bezeichnete sie als „den schönsten Filmbeitrag zur klassischen Gitarre überhaupt“. Sein letztes Konzert gab Julian Bream 2002 in Norwich.

 

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“

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Zu den sprichwörtlich unvergesslichen Momenten meines Lebens gehört eine konzertante Aufführung von Aeneas in Carthage, Joseph Martin Kraus´ epische Oper in englisch in der New Yorker Town Hall 1980 mit Elisabeth Söderström als Dido unter der Leitung des Pioniers Newell Jenkins. Allein schon der Beginn mit der unglaublichen, gewaltigen Sturmmusik und dem Aufbegehren der Winde riss mich als junger Mann „vom Hocker“. Und seitdem klingt mir diese Oper im Kopf. Ein rabenschwarzer Versand aus den USA bescherte mir auf Spulenbändern die Mitschnitte aus Stockholm (dto. Jenkins 1979, vorher der 3. Akt. dto. Söderström unter Charles Farncombe) im originalen Schwedisch und gekürzt wie auch die New Yorker Aufführung.

2006 dann kam Stuttgart, szenisch und in passablem neuen Deutsch (Radio) wie ebenso 2011 in Berlin darauf halb-szenisch unter Lothar Zagrosek. Natürlich wiederholte sich der Initialeffekt nicht so ganz und für meine heutigen Ohren, denn die Oper hat auch Längen (und braucht natürlich die Bühne mit allen ihren damals möglichen Zauber-Effekten), aber allein diese irren Ballettmusiken und der erwähnte Prolog rissen immer noch mit. Zagrosek und seine Crews vermittelten in eigens eingerichteten Fassungen doch einen guten Eindruck von der Majestät des Werkes und der unglaublichen musikalischen Erfindung bzw. europäischen Verwandschaft dieses einzigartigen Werkes. Gluck, Piccinni, Sacchini, Salieri  und die napoleonische Truppe grüßen, Spontini, Beethoven und Berlioz sind zu ahnen, Johann Christian Bach ist mit seinen französischen Opern nicht weit, Mozart und sein Idomeneo auch – eine weit nach vorne schauende Oper des Übergangs, in der das Gegenwärtige der damaligen musikalischen Errungenschaften Europas  vereint ist..

Ehrenhalber mit erwähnt: der Dirigent und Musikwissenschaftler Newell Jenkins – einer der Pioniere für Joseph Martin Kraus und Steffani/Foto OBA

Einen Opernführer über Aeneas i Cartago und damit über den beinahe unbekannten Joseph Martin Kraus zu schreiben, ist dringend nötig. Joseph Martin Kraus war ein internationaler Komponist. Aus dem fränkischen Miltenberg am Main stammend (1756 dort geboren), wurde er bei dem als Initiator vieler stilistischer Entwicklungen wichtigen Abbé Vogler in Mannheim ausgebildet (der als Schüler so prominente Komponisten wie Weber oder Meyerbeer hatte und der mit seinem wichtigen schwedischen Werk Gustaf Adolf och Ebba Brahe in einem Opernführer bereits in operalounge.de vorgestellt wurde).

Als ausgebildeter Komponist sieht sich Kraus einer kaum vielversprechenden wirtschaftlichen Situation gegenüber, als er in Göttingen mit dem Schweden Carl Strindsberg zusammentrifft, der ihn überredet, nach Stockholm zu kommen. Aber auch dort hat es Kraus nicht leicht, denn die verstaubte Opernszene ist in fester Hand von anderen Komponisten wie Johann Gottlieb Naumann aus Dresden  von Johan David Zander, Francesco Uttini (dem bezeichnenderweise italienischen Hofkapellmeister), Johann Christian Haeffner u. a.

Drottningholm war der glanzvolle Mittelpunkt der Opernaufführungen für den kunstliebenden Monarchen Gustaf III., durch Verdis und Mercadantes Opern in die Musikgeschichte eingegangen. Gustaf als Herrscher auf einem von Parteien selbstbewussten Adels und reichen Bürgertums nicht unumstrittenen Thron, widmete sich wie Friedrich der Große mit Vorliebe den Künsten, schuf in Schweden ein Gegenstück zum Berliner oder Wiener oder Stuttgarter Hof mit ihrem Kulturzentren. Und so entsprach das neue Drottningholm auch Sanssouci, Schönbrunn oder Ludwigsburg (wollte es zumindest sein). Gustaf war an einer nationalen Kulturszene Schwedens interessiert. Dass er sie mit Zugereisten verwirklichen wollte, entspricht der Tradition des Landes, das ja noch später, zu Zeiten Napoleons, sogar einen französischstämmigen (und bürgerlichen) König erhielt und das stets ein Vielvölkerstaat aufgrund seiner Annektionsgeschichte war. Von einer eigenständigen Musikkultur in Schweden zu sprechen, ist deshalb problematisch.

Joseph Martin Kraus: Ballettmusiken aus der Oper „Aeneas i Cartago“ unter Patrick Gallois  bei Naxos mit einem Cover, das eine Illustration zur Szene widergibt

Kraus jedenfalls tat sich schwer, die Konkurrenz war groß, die Aufträge blieben aus, und er schlug sich mit Auftragskompositionen durch, schrieb heimwehkranke und seine finanzielle und geistige Misere beschreibende Briefe nach Hause, die im Kraus-Museum in Miltenberg liegen. Dann plötzlich, 1779, ändert sich seine Lage, als er Mitglied der Stockholmer Königlichen Musikakademie wird. Mit Hilfe von einflussreichen Freunden, etwa dem Direktor des Königlichen Theaters, Karl von Fersen, gelingt Kraus mit seiner Proserpine auf das Libretto von Kellgren, einem erfahrenen Textdichter, 1781 der Durchbruch, als das Werk in Anwesenheit des Königs aufgeführt wird.

Es gefällt, und von nun an protegiert ihn Gustaf, überreicht ihm die stolze Summe von 500 Reichstalern. Kraus kommt zu Ehrenämtern, wird vom König sogar auf eine musikalische Erkundigungsreise durch Europa geschickt, trifft auf Haydn, Albrechtsberger und den von ihm über die Maßen verehrten Gluck (dessen Orfeo in Stockholm mehr Aufführungen erzielte als in Wien oder Paris). Von seinen Reisen bringt Kraus Informationen über Musikleben und Kultur im Ausland mit, was in seinen musikalischen Stil einfließt. Er wird 1787 Königlicher Musikdirektor. Gustaf und er planen eine große Oper, Aeneas i Carthago, die aber nicht mehr zur Aufführung kommt, denn am 29. März 1792 wird der König von einem Rebell auf einem Maskenball im Schloss erschossen. Kraus komponiert unter dem Eindruck dieses, auch persönlichen Verlustes seine bewegende Trauerkantate auf Gustaf III. und stirbt im Laufe desselben Jahres im gleichen Alter wie Mozart. Erst vier Jahre später kommt Aeneas i Carthago – eine Oper epischen Ausmaßes und ohne Zweifel Kraus‘ Hauptwerk – auf die Stockholmer Bühne.

Der folgende Artikel über die Gustavianische Oper und im besonderen Aeneas i Cartago des eminenten Kraus-Forschers Bertil H. van Boer macht uns mit dem einzigartigen Kultur-Erziehungs-Projekt des schwedischen Königs Gustav III und dieser ebenfalls einzigartigen Monumental-Oper von Joseph Martin Kraus bekannt, die nach ihrem run an der schwedischen Königlichen Hof-Oper 1799 pp. erst wieder im 20 Jahrhundert vorgestellt worden ist – eigentlich auch eine Blamage für die schwedische Kulturszene. Die Musik und die dramaturgisch-musikalische Anlage ist nicht  nur für die Zeit um die französische Revolution herum einzigartig und bemerkenswert. G. H.

Joseph Martin Kraus:  van Boers Studie zu Joseph Martin Kraus bei Indiana University Press (5. September 2014)

Bertil H. van Boer: Ein Gustavianisches Gesamkunstwerk. Die gustavianische Oper wurde in Folge der Bemühungen des aufgeklärten Monarchen eines nördlichen Landes an der Peripherie Kontinentaleuropas, Gustav III. von Schweden, mit dem Ziel geschaffen, ein kulturelles Zentrum zu errichten, das teilweise die neuesten Trends der zentraler  gelegenen europäischen Hauptstädte nachahmte und teils diese unterschiedlichen Strömungen zusammenmischte, um ein bestimmtes kulturelles Umfeld zu synthetisieren, das mit  eben diesen Zentren konkurrieren konnte. Im Mittelpunkt dieser Bemühungen stand Gustavs persönliche Philosophie, eine etwas egozentrische Ideologie, die Schwedens Position als europäische Macht wiederbeleben wollte, welche es während der Stormaktstiden (Großmachtzeit) des vorigen Jahrhunderts innehatte, sowie seine eigene Stellung als absoluter Monarch à la Ludwig XIV. zu festigen, wodurch er der bestimmende Faktor in allen politischen oder kulturellen Belangen wurde. In letzterem versuchte er ein Milieu zu fördern, das die Einheit der Künste betonte und zur Schaffung einer schwedischen Nationaloper führte; trotz der kontinentalen Modelle, auf denen es aufgebaut war, sollte es gleichwohl zu einem tragfähigen nationalen Forum mit einem eigenen Stil und Zweck werden. Um dies zu erreichen, versammelte der König eine Riege namhafter Künstler um sich, von denen jeder ermutigt wurde, das Bestmögliche beizutragen, um neue und revolutionäre kreative Werke hervorzubringen: Der Theoretiker Abbé Michelessi aus dem engen Kreise des Grafen Algarotti sollte Gustavs Berater in allen Bereichen des dramatischen und musikalischen Theaters werden; daneben ausländische Künstler wie der Bühnenbildner Jean Desprez, der Ballettinnovator Anton Bournonville und die Komponisten Joseph Martin Kraus, Johann Gottlieb Naumann, Abbé Georg Joseph Vogler und Johann Christian Friedrich Haeffner aus Deutschland sowie Francesco Antonio Baldassare Uttini, Glucks Nachfolger als Direktor der Mingotti-Theatergruppe, aus Italien. Sie alle wurden ermutigt, nach Norden auszuwandern. Die Librettisten, Schriftsteller, Dichter, Maler und Bildhauer waren jedoch hauptsächlich Schweden, von denen viele unter der direkten Aufsicht des Königs selbst arbeiteten. In der Tat kann gezeigt werden, dass Gustav III. die eigentliche Quelle für viele der Opern und Dramen dieser Zeit war, ein Amateurautor, der zahlreiche Umrisse und Skizzen von Geschichten anfertigte und sich auf etablierte Dichter wie Kellgren stützte, um sie in bearbeitbare Kunstwerke zu verwandeln. Das vielleicht erfolgreichste dieser literarischen Angebote war die Gattung der Opernlibretti, welche die Grundlage für die nationale gustavianische Oper bildeten.

Joseph Martin Kraus: Gustav III. von Schweden Lorenz Pasch (1733 – 1805)/ Wikipedia

Das Phänomen der gustavianischen Oper ist schwer genau zu definieren. Die ersten dieser Opern, an denen Gustav selbst nur am Rande beteiligt war, waren hauptsächlich einfache, populäre Werke; Adaptionen verschiedener Operás-Comiques und Singspiele à la Hiller such as Tillfalle gjor tjufven (Zufall macht den Dieb) und Nu ar hin Ids (das berühmte Der Teufel ist los), die in in zweitrangigen Theatern wie dem Bollhus von Männern wie Carl Stenborg und Carl Envallsson auf die Bühne gebracht wurden. Die zweiten dieser Opern umfassten nationale Dramen wie Gustav Vasa von Naumann, Gustaf Adolf och Ebba Brahe von Vogler sowie kürzere, „nordischere“ Werke wie Olof Ahlstroms Frigga. Die dritten dieser Opern, mit den tiefsten Wurzeln in den großen französischen Dramen von Racine, Marmontel und Quinault kann man in Thetis och Pelee von Uttini, Electra von Haeffner und in den beiden gustavianischen Opern von Kraus, Proserpin und Aeneas i Cartago (auch bekannt als Dido och Aeneas), erblicken. Dieses letzte Werk ist gleichsam die Verkörperung des Gesamtgeistes der gustavianischen Oper; ein komplexes Stück von außergewöhnlicher Länge, das die koordinierten Bemühungen von Librettist, Komponist, Bühnenbildner und Ballettmeister in einem einzigen monumentalen Meisterwerk vereint.

Die Geschichte des Aeneas begann im Sommer 1781. Nach drei Jahren verzweifelter Armut und vergeblichem Kampfes, sich in den schwedischen Musikkreisen zu etablieren, gelang es dem deutschen Auswanderer Joseph Martin Kraus, durch eine private Aufführung seiner Oper Proserpin vor Gustav III. den Posten des stellvertretenden Direktors zu gewinnen. Gleichzeitig stand das neue Opernhaus, das als das beste in Europa konzipiert wurde, kurz vor der Fertigstellung und Kraus erhielt den Auftrag, Aeneas als diejenige Oper zu komponieren, mit der das neue Theater eröffnet werden sollte. Die beabsichtigte Premiere musste jedoch abgesagt werden. Die neue Oper wurde planmäßig mit einem hastig angesetzten Werk von Naumann, Cora och Alonzo, eröffnet, das anstelle von Kraus‘ Werk gespielt wurde.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“/ Bühnenentwurf von Louis Jean Deprez/Wikipedia

Erst 1799, etwa sieben Jahre nach dem Tode des Komponisten, fand schließlich die Uraufführung des Aeneas tatsächlich statt. Aufgrund der enormen Länge der Oper – ungekürzt fast sechseinhalb Stunden – wurde der Dirigent Johann Christian Friedrich Haeffner beauftragt, das Werk auf überschaubare dreieinhalb Stunden zu kürzen. Die originalen Bühnenbilder von Desprez wurden verwendet, und all jene der ursprünglich beabsichtigten Sänger, so sie noch lebten und aktiv waren, sangen ihre ihnen zugedachten Rollen: Frau Müller sang Dido, Carl Stenborg den Aeneas, Herr Karsten den Jarbas, Mlle. Stading die Venus und Frau Haeffner die Juno. Berichte über diese erste Aufführung zeigten jedoch, dass Aeneas kein Erfolg war; das Werk war zu komplex, die Striche zu schädlich und die Musik zu schwierig für den populären Geschmack. Obwohl die Oper in den nächsten zwei Jahren insgesamt sieben Mal aufgeführt wurde und jede aufeinanderfolgende Aufführung mehr öffentliche Anerkennung fand, rechtfertigten die Produktionskosten es nicht, die Oper im Repertoire zu belassen. Fredrik Silverstolpe übersetzte das Libretto später ins Französische; in dieser Form wurde es 1805 in St. Petersburg unter Sigismund Neukomm in Konzertfassung aufgeführt. In jüngerer Zeit (1979) wurde in Stockholm und New York unter der Leitung von Newell Jenkins eine gekürzte Version wiederbelebt (1971 nur der dritte Akt und 1997 ebenfalls konzertant in Stockholm mit Elisabeth Söderström und Johnny Blanc, 1980 in englischer Sprache mit Elisabeth Söderström konzertant in New York; zwei deutschsprachige Aufführungen fanden in Stuttgart 2007 szenisch sowie in Berlin 2011 halbszenisch unter Lothar Zagrosek statt/ G. H.).

Nach Kraus‘ Tod im Jahre 1792 kehrte der Librettist Kellgren als Vorwegnahme der Veröffentlichung seiner eigenen vollständigen literarischen Werke erneut zum Aeneas zurück. Diese überarbeitete Fassung bildete die Grundlage für Haeffners Kürzungen und beinhaltete unter anderem eine vollständige Änderung des ursprünglichen Finales.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas in Karthago“ Staatsoper Stuttgart 2006/ Martina Serafin als Dido/ Foto Schaefer

Um die monumentalen Proportionen des Werkes zu verstehen, muss die Oper zunächst perspektivisch betrachtet werden. Vorweg ist anzumerken, dass Aeneas über einen Zeitraum von fast einem Jahrzehnt konzipiert wurde. Kraus, ein begeisterter Bewunderer von Gluck und eine Nebenfigur des literarischen Sturm und Drang, bezog nicht nur Stilmerkmale dieser beiden Bewegungen ein, sondern auch die vielen Musikstile, denen er während seiner großen Europatournee 1782-1786 begegnet war. Aeneas muss also als zusammengesetzte Oper gesehen werden; eine Synthese, die mit keiner einzelnen Opernform jener Zeit zu vergleichen ist. Zweitens wurde die Arbeit als Mittel konzipiert, um die Stockholmer Öffentlichkeit mit den Bühnenmaschinen und Bühnenmöglichkeiten des neuen Opernhauses vertraut zu machen. Daher wurde absichtlich jede Art von Szenenwechsel und Spezialeffekt eingebaut; von heftigen Stürmen auf See bis hin zu Erdbeben, von magischen Grotten bis hin zu idyllischen Tempelszenen, von opulenten Palästen bis hin zu massigen Schlachten vor den Stadtmauern. Selbst nachdem die ursprüngliche Absicht der Oper keine Rolle mehr spielte, wurde keiner dieser Effekte aus dem Libretto herausgeschnitten, was die Schwierigkeiten bei der Inszenierung des Werkes noch verschärfte.

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“ – der Tenor Johnny Blanc sang den ersten Aeneas im 20. Jahrhundert, er war die Standardbesetzung jener Jahre in Stockholm, hier als Nerone/ Wiki

Die Musik spiegelt diese zahlreichen Szenen- und Stimmungsänderungen in der Vielzahl der in der Partitur enthaltenen Stile wider. Als Komponist ist Kraus sowohl einfallsreich als auch innovativ in der Kombination von Techniken und Stilen aus dem übrigen Europa mit seinem eigenen höchst originellen musikalischen Genie: Man begegnet den heftigen Tonverschiebungen und der Tonmalerei des Sturm und Drang, dem majestätischen französischen Chor, dem italienisch-wienerischen Stil von Haydn oder Mozart und der dramatischen Intensität von Gluck. Tatsächlich scheint der einzige fehlende Stil der des beliebten Singspiels zu sein. In gewisser Weise verleiht diese Verschmelzung der Arbeit ein zukunftsweisendes Gefühl und führt zu vielen fortschrittlichen Stilmerkmalen. Ein Beispiel dafür ist der Prolog, in dem die trojanischen Schiffe von Aeolus‘ Stürmen getroffen werden. Der Doppelchor wechselt kontinuierlich von den angeschlagenen Seeleuten zu den wilden Winden, während das Orchester (mit Piccoli, Holzbläsern, Blechbläsern und Streichern, einschließlich geteilter Bratschen, Violoncelli und Bässe) Tonfarben und Motive verwendet, die zuerst in der Ouvertüre zu hören waren. Es wird ein Hintergrund gemalt für diese gigantische Schlacht.

Zu Joseph Martin Kraus: Elisabeth Söderström war dreimal die Dido in den ersten Aufführungen der Oper „Aeneas in Carthago“ in moderner Zeit/ Foto Alchetron, das nützliche Portal für Information

Der größte Teil der Musik in der Partitur ist jedoch intimer konzipiert. Kraus vermeidet die langen konventionellen italienischen Opernarien mit ihrer umfangreichen Koloratur und Stimmdarstellung und ersetzt sie in den meisten Fällen durch einfache, emotionsgeladene, durchkomponierte Arien und Ensembles. Im Gegensatz zu den meisten Opern dieser Zeit verwendet Kraus ausschließlich begleitende Rezitative. Die Qualität variiert jedoch erheblich, von einfachen Saitenakkord-Interpunktionen à la Hasse bis hin zu komplizierten Accompagnati, bei denen die Unterscheidung zwischen Rezitativ, Arioso und Arie den Anforderungen der dramatischen Handlung untergeordnet ist. Nirgendwo wird dies deutlicher gezeigt als im vierten Akt, wo Aeneas versucht, den emotional labilen Pido von seiner eigenen inneren Qual zwischen Liebe und Pflicht zu überzeugen.

eine Kritik folgt, weil der Verla

Joseph Martin Kraus: „Aeneas i Cartago“ – das Buch von Jens Dufner ist eines der wenigen deutschsprachigen Standardwerke zu dieser Oper/ Peter Lang AG 2015/ ISBN-13: 978-3631647196/ 2015;, eine Kritik folgt – der Verlag sah sich lange Zeit ausserstande, ein Presseexemplar bereitzustellen …

In vielen Szenen wird das Rezitativ im Aeneas zu einem integralen Rahmen für die gesamte Szene, einer Grundlage, auf der ein kunstvolles Gebäude aufgebaut ist. Die formale Struktur und Unterscheidung zwischen Dialog und Lied ist für die Schaffung eines musikalischen Abbildes der laufenden Ereignisse von untergeordneter Bedeutung. Diese Auflösung formaler Parameter ist am auffälligsten im Finale des fünften Aktes, wo Dido, als sie Zeugin der trojanischen Flotte unter Segeln wird, sich vor einem schockierten Publikum von Karthagern das Leben nimmt. Dieses Rezitativ erweitert die Definition von Rezitativ mit seiner integralen Begleitung von Streichern und Bläsern bis an die Grenzen. In der Tat ist der Übergang in die Arie so reibungslos, dass er praktisch unbemerkt bleibt, wenn sich die Musik dem unvermeidlichen Höhepunkt von Didos Selbstmord nähert, wobei letzterer musikalisch durch eine „unheimlichen Dissonanz“ dargestellt wird, die eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Akkord zu Beginn des Finales von Beethovens neunter Sinfonie aufweist. Dieses überraschend fortschrittliche und emotionale Finale mit seinem romantischen Tonfall und Gefühl ist weit entfernt vom konventionelleren Finalchor oder dem lieto fine. Es ist ein adäquater Zenit in einer Oper mit vielen musikalischen Höhepunkten.

Es gibt jedoch ein Problem. Eine der größten musikwissenschaftlichen Fragen zum Aeneas ist, ob Kraus seine Oper tatsächlich fertiggestellt hat. Obwohl die Seiten, die ursprünglich Kraus‘ Finale enthielten, aus der Partitur herausgetrennt wurden, zeigen andere Revisionen von Haeffner im fünften Akt, dass Kraus‘ Nachfolger, weit davon entfernt, der unbeholfene Mann fürs Grobe zu sein, nur wenige tatsächliche Änderungen vorgenommen und die Musik mit großer Sensibilität behandelt hat.

Der Autor: Bertil H. van Boer/ Discogs/ Wikipedia hat weitere biographische Informationen über den renommierten Forscher und Musikwissenschatler.

Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Oper ein Werk von monumentalen Ausmaßen ist; ein Bühnenstück, das sowohl die bestmögliche Zusammenarbeit von Komponist, Librettist, Bühnenbildner usw. verkörpert als auch die Philosophie hinter der gustavianischen Oper symbolisiert. Es ist ein Gesamtkunstwerk, wenn auch nicht im wagnerischen Sinne, wo ein Einzelner für jeden Aspekt verantwortlich ist. Der Begriff definiert vielmehr eine Arbeit, die als enge Zusammenarbeit vieler Künstler konzipiert wurde, welche für alle Teile der Produktion verantwortlich sind: Text, Musik, Tanz, Bühnenbild und Rollenbesetzung. Wenn Aeneas unter diesen Aspekten zu betrachten ist, erscheint es notwendig, eine ungeschnittene Fassung in voller Länge zu produzieren. Mit dieser Rekonstruktion ist die Möglichkeit einer Wiederbelebung dieser Essenz der gustavianischen Oper realisierbar geworden. Bertil H. van Boer/ Übersetzung Daniel Hauser

Den Artikel des eminenten Musikwissenschaftlers Bertil H. van Boer übernahmen wir in unserer eigenen Übersetzung aus dem Englischen und mit großem Dank an den Autor aus den „Publikationen der Kgl. Schwedischen Musikakademie N. 45, 1984“ aus Anlass des Symposiums zu „Kraus und das Gustavianische Stockholm“, das im selben Jahr in eben Stockholm in Zusammenarbeit mit der Dresdner Semperoper stattfand. Proserpin von Kraus wurde im Schlosstheater von Drottningholm aufgeführt; im alten Opernhaus gab es Gustaf Wasa von Naumann konmzertant, wonach bei Virgin/EMI auch eine CD-Aufnahme erschien. Zu einer avisierten Aufführung von Kraus´Aeneas i Cartago kam bis es bedauerlicherweise bis heute nicht, wenngleich Naxos daran sehr interessiert war und die meisten musikalischen Dokumente von Kraus im Katalog hat, darunter auch die Ballettmusiken aus der Oper. Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit den Naxos-Aufnahmen zu Kraus. G. H.

Wir danke im Besonderen Bertil van Boer (dem langjährigen Forscher und Champion für die Gustavianische Oper) für seine spontane Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit, aber auch dem deutschen Fachmann für Kraus, Jens Dufner. Weiter halfen bei der Vorbereitung Klaus Pietschmann, Frederik Wetterquist (Präsident der Kgl. Musikakademie), Kar-Erik Norrman und viele mehr. Danke an alle. Abbildung oben: „Aeneas bei Dido“ von Guerrin/ Louvre/ Wikipedia. G. H.

Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Rudolf Kempe in Bayreuth

 

Wer sich als Ersatz für die coronabedingte Absage der Bayreuther Festspiele 2020 sein ganz persönliches Festival in den eigenen vier Wänden veranstalten will, hat die Qual der Wahl. Was auflegen oder in den DVD-Player schieben? Ein Ring sollte es schon sein. Schließlich wäre die Tetralogie, mit der 1876 das Festspielhaus eröffnet wurde, in neuer Inszenierung durch den jungen Österreicher Valentin Schwarz über die Bühne gegangen. Ebenfalls als Premiere stand Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner 1960 auf dem Spielplan. Erstmals lag die Regie in den Händen von Enkel Wolfgang. Er löste die erste Nachkriegsdeutung seines Bruders Wieland ab und wurde anfangs kritisch beäugt. Doch schon im zweiten Jahr legte sich die Skepsis. Zustimmung überwog. Mit dieser Arbeit etablierte sich Wolfgang Wagner endgültig auch als Regisseur.

Die musikalische Leitung lag in den Händen des Bayreuth-Neulings Rudolf Kempe. Während Orfeo (C 928 613Y) die Reprise von 1961 in seiner Festspielserie mit dem ausdrücklichen Segen der Festspielleitung herausgeben hatte, erinnert sich PanClassics (Note 1) jetzt des Premieren-Mitschnitts, der allerdings längst in gut sortierten Sammlungen zu finden sein dürfte (PC 10418). Golden Melodram brachte ihn in den Achtzigern in einer schwarzen Sammelbox auf den Markt. Eine emsige Plattform in Übersee verschickt ihn wahlweise auf CD oder als Link über das Internet. Für die Angabe im Booklet, wonach dieser Ring 2011 auch bei Myto erschienen sein soll, habe ich keinen Beleg gefunden. Vielmehr sind von diesem Label alle vier Teile aus dem Jahr 1962 u. a. bei Melodram überliefert (immer noch die beste Technik, dank des Tonmeisters Stefan Felderer). Es empfehlt sich, beide Mitschnitte vergleichend auf sich wirken zu lassen.

 

Für die neue Ausgabe spricht zunächst einmal die Versammlung der zwölf CDs in einer gefälligen platzsparenden Box. Gestandene Wagnerianer lieben es haptisch, wollen etwas in der Hand haben. Ein solides Booklet enthält alle wesentlichen Informationen wie Besetzungen, Aufnahmedaten und Tracklisten. Michael Tanner steuert einen lesenswerten Text über die Inszenierung von Wolfgang Wagner und seine Sänger bei und lässt Probleme, die sich „aus dem Mangel an Vorbereitungszeit erklären“, nicht unerwähnt. Mich stören Patzer und Ungenauigkeiten nicht. Sie sind ein zutiefst menschlicher Faktor. Wer Übertragungen aus Bayreuth hört, wird Ohrenzeuge des Entstehens und Werdens und nicht der Vollendung im Sinne musikalischer Exaktheit, wie sie allenfalls unter Studiobedingungen zu erzielen ist. Bayreuth ist Werkstatt, wo unter schwierigen Bedingungen und in relativ kurzer Zeit komplexe Musikdramen erarbeitet werden. Und das nicht nur hinter verschlossenen Türen sondern auch in aller Öffentlichkeit. Das Publikum im Saal und an den Radioapparaten rund um den Erdball ist Zeuge dieses Ringens um Annäherung. Die Mitschnitte sind auch deshalb so interessant, weil sie – wie beim Kempe-Ring – künstlerische Prozesse über mehrere Jahre hintereinander dokumentieren.

Doch nun zurück ins Jahr 1960. Kempe, so Tanner, habe – wie die meisten Dirigenten vor ihm – feststellen müssen, „dass die Koordination der Bühne und des Orchesters von einer Position aus, wo keiner den anderen hören konnte, eine große Herausforderung war“. Die Eröffnungspremieren bilden das in sehr gutem Mono ab. So steht das Klangbild als entscheidender Vorzug auf der Habenseite der Neuerscheinung. Exemplarisch ist die erste Rheingold-Szene. Kempe findet tastend hinein, lässt es fließen. Mal etwas behäbig, gar stockend, dann breitet und üppig. Der Dirigent gibt den Solisten Zeit, sehr viel Zeit. Er hetzt sie nicht. Dorothea Siebert (Woglinde) und Claudia Hellmann (Wellgunde) bringen hörbar Bayreuth-Erfahrung mit und greifen der Debütantin Sona Cervená als Floßhilde schwesterlich unter die Arme. Erstmals singt der 1909 in Prag geborene Otakar Kraus den Alberich in Bayreuth. Offenbar hat ihn Kempe aus London mitgebracht, wo er 1957 in der Produktion in Covent Garden sein Alberich gewesen ist. Davon gibt es bei Testament einen Mitschnitt. Internationale Berühmtheit erlangte Kraus durch Nick Shadow in der Uraufführung von Stravinskys The Rake’s Progress 1951 in Venedig. Mit Robert Lloyd, Willard White, John Tomlinson und Gwynne Howell hatte er gleich vier Schüler, die später berühmt wurden. Ein Schönsänger war Kraus nicht. Bei ihm überwiegt das gestalterische Element. Mich stört, dass die Stimme gelegentlich zu sehr schwingt. Sein Fluch im Rheingold verflüchtigt sich rasch in Sprechgesang. Mit der Rolle, die er auch im Siegfried und in der Götterdämmerung verkörpert, ist er weit gereist. Nun gehörte er zu den Stützten dieses Zyklus, in dem er bis 1963 auftrat. Er singt deutlich und versiert, im Vergleich mit seinem Kollegen Gustav Neidlinger, der mit dem Alberich Musikgeschichte schrieb, etwas harmloser. Sein Markenzeichen ist die Genauigkeit, die fast an Wortklauberei grenzt. Es lässt nicht vergessen, dass Wagner seinen Sängern vor allem Deutlichkeit ins Stammbuch schrieb. Kraus zelebriert den oft belächelten Stabreim, der im Rheingold auf die Spitze getrieben scheint. Plötzlich wird deutlich, dass Wagner mit seinen Alliterationen die Sänger auch stilistisch an die Kandare nahm.

 

Hermann Uhde, der seit 1951, dem Jahr des Neubeginns, dabei war, singt den Wotan im Rheingold, den er schon einmal 1952 gegeben hatte, und den Wanderer. Es war seine letzte Saison. Stimmliche Abnutzungserscheinungen, die er durch Gestaltungswillen zu relativieren versteht, sind nicht zu überhören. Majestätisch klingt er nicht, ehr kernig und resigniert, womit er der Rolle seinen ganz eigenen Stempel aufdrückt. In der Walküre probiert sich der Amerikaner Jerome Hines als Wotan aus. 1961 übernahm er dann auch im Rheingold. Den Wanderer aber blieb er Bayreuth schuldig. Nach dem etwas glücklosen Uhde war es im Jahr drauf James Milligan. Mit Ausnahme des Holländers Anton van Rooy, der den Wotan von 1897 an sang, dürfte bis in die 1960er Jahre kein anderer Ausländer besetzt gewesen sein. Nach dem ewigen Hans Hotter, der in mindestens sechs Spielzeiten hintereinander als Wotan in Bayreuth Wurzeln geschlagen hatte und auch unter Kempe gelegentlich einsprang, waren plötzlich neue Töne zu vernehmen. Der vierzigjährige Hines verbreitet Frische in Stimme und Erscheinung, versehen mit einem Schuss Beliebigkeit. Ohne Schaden zu nehmen, kommt er über die nicht enden wollenden Erzählungen im zweiten Aufzug der Walküre. Da hatte ihm Hotter, der mehr Geheimnis und Spannung hineinlegte, einiges voraus. Bei Hines dauern sie gefühlt noch etwas länger. Dennoch hört er sich sehr gut an. Milligan war gerade mal dreiunddreißig. Ihm sollten nur noch wenige Monate bleiben. Er starb im November desselben Jahres bei einer Probe in Basel an den Folgen einer Herzkrankheit. Auf der Schwelle zur Weltkarriere. Um so einen ist es wirklich schade. Er hatte das Zeug für einen Heldenbariton mit einer tragfähigen und stabilen Mittellage, aus der er sich gewaltig steigern konnte. Davon weiß er 1961 vor allem in der Rätselszene im ersten Siegfried-Aufzug Gebrauch zu machen. Sein Deutsch ist nahezu perfekt. So auf den Punkt wie er singt heute kaum jemand mehr. Dem ersten Eindruck nach lässt die Stimme auf einen reiferen Sänger schließen. Ein derartiges Volumen und diese Kraft sind für sein Alter ungewöhnlich. Noch sind nicht alle Kanten und Ecken dieser Naturstimme abgeschliffen. Das wirkt zusätzlich reizvoll. Für mich ist James Milligan die eindrucksvollste Gestalt des Mitschnittes von 1961, mit dem ihm nun ein klingendes Denkmal gesetzt wurde. Nur in wenigen anderen Aufnahmen hat er mitgewirkt. Einiges gibt es von Arthur Sullivan, aus Kanada hat sich ein Messiah erhalten und bei der EMI ein Glyndebourne-Idomeneo, in dem er den Arbace singt.

In den drei Sommern, die Rudolf Kempe als Ring-Dirigent in Bayreuth verbrachte, stand ihm Gottlob Frick mit seinem ehernen Bass als unerschütterlicher Hunding und Hagen zur Verfügung. Auch er eine sichere Bank für gutes Gelingen. Mit einem kernigen Donner, der in der Gewitterszene mächtig auftrumpft, gab Thomas Stewart 1960 seinen Einstand in Bayreuth. Bis 1972 war er ständiger Gast und hinterließ als Amfortas, Holländer und Wotan bleibende Spuren. Der Zufall wolle es, dass er zum Abschied für Franz Mazura nochmals als Gunther einsprang. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Im eigenwilligen Tenor von Gerhard Stolze erkennen dessen Bewunderer, zu denen ich mich auch zähle, einen der besten Loge. Immer herauszuhören, agiert er verschlagen und empathisch zugleich. Stolze, dem eine besondere schauspielerische Begabung zu Gebote stand, konnte sich – dem Halbgott gleich – in die unterschiedlichsten Figuren verwandeln. Selbst für die kleinsten Rollen war er sich nicht zu schade, was in Bayreuth zu seiner Zeit besonders geschätzt wurde. Schon 1951 ist er als ein Knappe im Parsifal und als Augustin Moser in den Meistersingern dabei gewesen. Bis 1969 gehörte er zum solistischen Inventar.

Und Siegfried? „Der bläst so munter das Horn.“ Was Hagen im ersten Aufzug der Götterdämmerung so treffend über den Helden bemerkt, liest sich wie eine Beschreibung der Leistungen von Hans Hopf. Obwohl schon 1951 als Walther von Stolzing in den Eröffnungs-Meistersingern unter Herbert von Karajan und als Solist bei der von Wilhelm Furtwängler geleiteten 9. Sinfonie von Beethoven mit dabei – Mitschnitte sind offiziell bei der EMI erschienen – sollten acht Jahre bis zu seiner Rückkehr auf den Hügel im Jahr 1960 verstreichen. Bis 1964 sang er durchgehend den Siegfried – mit unvergleichlichem Timbre – versiert, zuverlässig, robust. An die Stelle von Jugendlichkeit setzt er Erfahrung. Etwas knapp fällt hin und wieder die Höhe aus. Es gab in seiner Anwesenheit nie eine doppelte oder gar alternative Besetzung, geht aus den Annalen der Festspiele hervor. Hopf sagte auch nie ab. An seiner Unersetzbarkeit ließ er nicht den geringsten Zweifel. Dadurch erweist er sich als eine der Stützen dieser Produktion. Rekordverdächtige neunzehn Jahre – von 1951 bis 1970 – hielt Wolfgang Windgassen den Festspielen die Treue. Er war 1960 als betont lyrischer und in sich gekehrter Siegmund besetzt, der gegen Ende des ersten Aufzug stimmlich zu kämpfen hat. Ihm zur Seite als Sieglinde die Schwedin Aase Nordmo-Loevberg, die ein makelloses Deutsch singt, in den dramatischen Steigerungen aber an Grenzen kommt. Regine Crespin folgte ihr im Jahr darauf. Eine Muster an vorbildlicher Diktion ist Hertha Töpper, die nach etlichen kleinen Rollen 1960 zur Fricka aufgerückt war, im Folgejahr aber durch die fulminantere Regina Resnik ersetzt wurde. Erstmals trat Birgit Nilsson 1960 mit ihren Trompetenhöhen als Brünnhilde in Erscheinung, wurde aber in der Walküre durch Astrid Varnay ersetzt. Die nun ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie die erste Brünnhilde im Nachkriegs-Bayreuth gewesen ist. Rüdiger Winter

 

Foto oben: Rudolf Kempe/ findagrave/peterboroughWeitere Information zu den CDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei https://www.note1-music.com/shop/. und bei und bei www.naxosdirekt.de.

Absoluter Gewinn

 

Kurz bevor das Berufsbild des Postkutschers dem technischen Fortschritt weichen musste, erwies ihm Adolphe Adam 1836 seine Referenz mit einer komischen Oper, die sechzig Jahre lang bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, als schon längst die ersten Luxuszüge Europa durchquerte, über die Bretter der Opéra Comique ging. Knapp 600-mal. Dann stellte Le Postillon de Lonjumeau seinen Pariser Betrieb ein. In Deutschland erfreute sich der Postillon von Lonjumeau, seit er ein Jahr nach der Uraufführung an der Berliner Hofoper gegeben wurde, besonderer und langer Beliebtheit, die, wie im Fall von Aubers Fra Diavolo und im gewissem Sinn auch Boieldieus La dame blanche, zwei Weltkriege überdauerte. Kaum zu glauben, dass sich die Opéra Comique in Zusammenarbeit mit der Opéra de Rouen erst 2019 auf eines der Schlüsselwerke ihres Repertoires besann. 120 Jahre nach seiner letzten Aufführung bekam der Postillon eine zweite Chance. Dafür hatten der Schauspieler und Regisseur Michel Fau, sein Ausstatter Emmanuel Charles und der seit Aufgabe seines Modeimperiums immer häufiger als Kostümbildner tätige Christian Lacroix an nichts gespart, und sich Fau zusätzlich die Sprechrolle der Kammerzofe Rose gekrallt. Der König selbst, Louis XV., enttäuscht über die Absage von „Castor und Pollux“, gibt sich in einem kurzen Prolog die Ehre und beauftragt seinen Intendanten „Cherchez les voix“, was doppelt Sinn macht, da die die Autoren die Handlung in die Zeit seiner Regentschaft verlegten und Louis XV. der Opéra Comique den Status einer royalen Truppe verlieh und zu dem Stück Land verhalf, auf dem sich die heutige Salle Favart befindet. Man wird das Gefühl nicht los, dass die opulente Aufführung (DVD Naxos 2.110662) mögliche Zweifel an der Tauglichkeit des Werkes durch überbordende Dekors und Kostüme, ziselierte Korsagen und Bordüren, aufgetürmte Rokokoperücken und zeichenstarke Maquillage zu zerschlagen versucht. Dabei hat der Postillon übereifrige Nachsicht nicht nötig. Es handelt sich um perfektes Stück musikalischen Unterhaltungstheater, in dem die Rädchen einer Geschichte um den zum Tenorstar der Opéra aufgestiegenen Postillon Chapelou originell ineinandergreifen und die auf drei Akte verteilten 13 Nummern neben charmierenden Arien und Ensembles, wie die an Rossini erinnernde Bassarie von Chapelous ebenfalls Opernsänger gewordenen Freunds Biju alias Alcindor und das Angst-Terzett „Pendu! pendu!“, vor allem mit dem Tenorschlager „Mes amis, écoutez l’ histoire“ auftrumpft, eine Art Remake von Fra Diavolos berühmter Romanze; beide Werke wurde von Monsieur Chollet kreiert.

Während eines Halts in Lonjumeau entdeckt der königliche Intendant Marquis de Corcy den Postillon mit dem sicheren hohen D und verspricht ihm eine Karriere in Paris. Chapelou verlässt seine ihm soeben angetraute Gattin Madeleine. Zehn Jahre später: Chapelou ist zum Tenorstar Saint-Phar avanciert, Madeleine wurde dank des Erbes ihrer Tante zur reichen Madame Latour. Chapelou erkennt Madeleine nicht, verliebt sich neuerlich in sie und lässt sich sogar zu einer Heirat mit ihr breitschlagen – statt einer Scheinehe wird die Trauung tatsächlich vollzogen. Chapelou, der sich der Bigamie schuldig fühlt, steht größte Ängste aus, bis Madeleine die zweimalige Heirat aufklärt und der Chor nochmals die Weise vom schönen Postillon anstimmt.

Fau hat die schmale Bühne der Opéra Comique in die Auslage einer Patisserie mit rosa und blau beleuchteten Gateaux verwandelt, in der sich der Postillon Chapelou und die Wirtin Madeleine anlässlich ihrer Hochzeit zu Beginn auf einer gigantischen Torte feiern lassen. Das ist allerliebst, pittoresk, und wenn sich Michael Spyres im adretten Postillions-Kostüme adrett dreht und wendet und kokett dessen selbstverliebtes „Il etait beau“ ausstellt, wirkt er, nicht mehr jung, was die aufdringliche Schminke unterstreicht, nicht ganz schlank, ganz so wie Chollet beschrieben wurde, der zwanzig Jahre nach der Uraufführung bei seiner Rückkehr nach Paris neuerlich den Chapelou verkörperte: Formidable Diktion, gezierte Gestik, Eleganz und Stilgefühl im geschmeidig kolorierten (fast schon zu heroischen) Gesang, ein süßes Timbre und eine geschmeidige, nie auftrumpfende Höhe. Ein Gesamtkunstwerk. Die niedliche Kutsche, die himmelwärts stürmenden Pferde, die feinst dekorierten Chöre, ein Bilderbuch ist nichts dagegen. Klar, das ist ein vordergründiges Ausstattungstheater, dessen Feinschliff in den gedrechselten Bewegungen liegt, die aus älteren Molière-Aufführungen der Comédie Française zu stammen scheinen, viele Rampen-Aktionen und ausgedehnte Sprechszenen. Doch was soll‘s. Mit seiner musikalischen Delikatesse und dem reichen Kulissenzauber ist dieser Mitschnitt ein absoluter Gewinn.

Übertroffen werden diese Bilder durch das Fortuny-Rokoko, das sich Emmanuel Charles ausgedacht hat, wo die mit einem Perückenturm belastete Madeleine, jetzt Madame de Latour, in ihrem Salon der Liebe zu Chapelou hinterher trauert. Die etwas spitz herbe Florie Valiquette gewinnt in ihrer Arie dem leichten Sopran einige dramatische Akzente ab, während Michel Fau als Rose, wie die Herrin ein Traum in Pink, prätenziöse Sentenzen beisteuert. Franck Leguérnel ist als Marquis de Corcy, wie stets, von darstellerischer Präsenz, während sein Bariton kaum noch nennenswerte Substanz besitzt. Eine weitere Steigerung und oftmals groteske Überzeichnung erfährt das Dekorationstheater durch das „Theater auf dem Theater“ im zweiten Teil des zweiten Aktes, auf dessen übertriebene barocke Pracht jede historisierend Händel-Aufführung neidig sein könnte, und in der Saint-Phar, ausstaffiert wie einst die teuersten Kastraten, mit seiner kleinen Romance „Assis au pied d’un hétre“ und dem goldenen Kostümgefieder glänzt. Der Belgier Laurent Kubla erweist sich mit robustem Bassbariton in Alcindors witziger Zéphire-Arie über die Chorsänger der Oper („Qui, des choristes du théatre“) als fescher Nebenrollensänger. Im dritten Akt, wo man des Ausstattungsplunders langsam überdrüssig wird und – leider – auch der von Spyres grell ausgestoßenen Höhen in Saint-Phars Grand Air „A la noblese, je m’aille“ kommt als Stütze für das erwähnte Trio noch der unauffällige Bass Julien Clément als Bourdon dazu. Sébastien Rouland und das Orchestre der Opéra de Rouen und der dortige accentus Chor musizieren mit wohltuender Selbstverständlichkeit und lyrischer Feinheit. Das ist französische Oper in Idealbesetzung. Rolf Fath

 

(Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

Leon Fleisher

 

Im Alter von 92 Jahren ist der große US-amerikanische Pianist Leon Fleisher gestorben (Juli 23, 1928 – August 2, 2020) . Seit seinem Schallplattendebüt 1956 glänzte der ehemalige Schüler von Artur Schnabel mit warmen, konturierten Ton bei so unterschiedlichen Komponisten wie Schubert, Liszt, Debussy, Ravel, Rachmaninow oder Copland. Seine Konzerteinspielungen von Beethoven und Brahms – kongenial begleitet vom Cleveland Orchestra unter George Szell – zählen bis heute zu legendären und besten Aufnahmen der Tonträgergeschichte, den „lebendigsten und bewegendsten“ (New York Times) überhaupt. Aufgrund einer Nervenerkrankung konnte Fleisher ab Mitte der Sechziger Jahre seinen rechten Arm nicht mehr benutzen und konzentrierte sich, neben dem Unterrichten, auf Musik für die linke Hand. In den späten Neunziger Jahren gab er wieder Konzerte – dank medizinischer Botoxbehandlung auch mit Werken für beide Hände. (Foto und Quelle: Sony Classical)

 

Dazu auch ein Auszug aus dem vielzitierten Wikipedia: Leon Fleisher begann mit dem Klavierspiel im Alter von vier Jahren. Mit acht hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt. Bereits als Jugendlicher trat er mit den New Yorker Philharmonikern auf. Artur Schnabel nahm ihn in seinen kleinen Schülerkreis auf und beeinflusste seine Spielweise stark.

Bekannt ist Fleisher für seine Aufnahmen in Zusammenarbeit mit George Szell und dem Cleveland Orchestra aus den 1950er und frühen sechziger Jahren. Sie waren das Resultat einer Vertragsvereinbarung mit der Firma „Columbia Masterworks“. Darunter sind die Aufnahmen der Klavierkonzerte von Beethoven und Brahms, daneben des Klavierkonzertes Nr. 25 von Mozart sowie der Klavierkonzerte von Grieg und Schumann, der Symphonischen Variationen von César Franck und von Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini.

In den 1960er Jahren verlor Fleisher aufgrund einer Erkrankung, die schließlich als fokale Dystonie diagnostiziert wurde, den Gebrauch der rechten Hand weitgehend. Daher verlagerte er den Schwerpunkt seiner musikalischen Tätigkeit auf die Lehre, insbesondere am Peabody Institute der Johns Hopkins University.[2] Außerdem nahm er noch verschiedene Werke aus dem Repertoire für die linke Hand auf. Er trat wegen seiner Einschränkung über dreißig Jahre ausschließlich als linkshändiger Konzertpianist auf. Ab 1998 ermöglichte es ihm die regelmäßige Injektion von Botulinumtoxin (Botox), mit der rechten Hand wieder nahezu ohne Einschränkungen zu spielen.

1992 wurde Fleisher in die American Academy of Arts and Sciences gewählt. 2007 wurde er mit dem Kennedy-Preis ausgezeichnet.

Zuletzt war Fleisher, trotz seines hohen Alters, als Dirigent und Lehrer an mehreren musikalischen Hochschulen tätig. Unter anderem wirkte er am Tanglewood Music Center. Zu seinen Schülern gehörten Jonathan Biss, Yefim Bronfman, Naida Cole, Enrico Elisi, Elena Fischer-Dieskau, Enrique Graf, Hélène Grimaud, Margarita Höhenrieder, Hao Huang, Kevin Kenner, Louis Lortie, Jura Margulis, Stephen Prutsman, Wonny Song, André Watts, Jack Winerock, Moritz Winkelmann, Daniel Wnukowski, Orit Wolf und Einav Yarden.

Im November 2010 erschien Fleishers Autobiografie unter dem Titel My Nine Lives, verfasst gemeinsam mit Anne Midgette, einer Musikkritikerin der Washington Post. (Wikipedia)

Eldar Aliev

 

Nicht einmal 50Jahre alt geworden ist der aserbaidschanische Bass Eldar Aliev (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Tänzer und Choreographen), der von den Nachbarn, die sich regelmäßig um ihn gekümmert hatten, am 4. August 2020 in Mailand tot in seinem Wohnwagen aufgefunden wurde. Nur kurze Zeit hatte er sich des relativen Komforts erfreuen dürfen, hatte zuvor jahrelang auf Parkbänken geschlafen, mal als Clochard in er Via Carnovali, später der Via Mariani gelebt, war wohlgelitten von den Anwohnern, nicht zuletzt wegen seiner Bescheidenheit, die ihn Almosen von mehr als zwei Euro ablehnen ließ, auf einen Geldschein gab er stets das den Münzwert überschreitende Geld heraus.

Ein Geheimnis blieb bis zuletzt, warum die glanzvolle Karriere, die ihn die anspruchvollsten Rollen des italienischen und russischen Repertoires singen ließ, so abrupt beendet wurde, der Umschwung von der Scala auf die Straße sich urplötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund vollzog.

In seinem Geburtsort Baku hatte Aliev seine Ausbildung zunächst als Pianist, dann als Sänger erhalten. Sein Lehrer war Anatoli Gussev.  1992 kam er im Alter von 21 Jahren nach Italien, gewann ein Stipendium für das Studium an der renommierten Musikakademie von Osimo in den Marken. Auch den Amici del Loggione del Teatro alla Scala war sein Talent aufgefallen, und sie verhalfen ihm zu einem Preis, der Gesangsunterricht bei keinem Geringeren als Carlo Bergonzi bedeutete. Mit der ersten bedeutenden Rolle verbunden war der Gewinn des „Concorso Toti dal Monte“ 1994 in Treviso, für viele Sänger, da stets mit einem vielbeachteten Auftritt verbunden, das Sprungbrett in eine Karriere. Elda Aliev sang den Don Giovanni unter Peter Maag, ein Jahr später in Rom nach seinem Debut bedeutende Partien wie Banquo, Sparafucile, Timur oder Colline. Auch Triest wurde zu einer seiner bevorzugten Bühnen, hier sang er unter anderem Oroveso und  Filippo. Nach Pesaro wurde er für den Leuthold in Guglielmo Tell gerufen, unter Vladimir Jurowski sang er hier auch den Pharao in Moise et Pharaon. Davon gibt es eine CD, außerdem von Donizettis Parisiana d’Este.

Auch außerhalb Italiens war er gefragt, sang beim Festival von Wexford in Siberia von Giordano. Unter den Linden in Berlin konnte man ihn als Don Giovanni erleben. Die Bühnen der ganzen Welt standen ihm offen, ehe er vor 15 Jahren, so titelte eine italienische Zeitschrift, „dal Teatro alla Scala alla miseria“ wechselte.

Seine Mailänder Freunde haben die aserbaidschanische Botschaft kontaktiert, die dafür sorgen will, dass der Sänger in seiner Heimat würdig bestattet wird (Foto youtube). Ingrid Wanja   

Saint-Saëns: „Le Timbre d’argent“

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Das sei keine Oper, das sei Alptraum, meinte selbst ihr Autor. An keinem seiner Werke hatte Camille Saint-Saens so lange herumgedoktert wie an seiner ersten Oper Le Timbre d‘argent, mit der er sich, längst als Organist und Pianist ein anerkannter Virtuose, den Durchbruch erhoffte. Und dieser war nur auf der Bühne zu erreichen. Das silberne Glöckchen, ein Gegenstand, wie man ihn einst in großbürgerlichen Haushalten oder an Hotelreceptionen zum Herbeirufen des Personals benutzte, ist eine Totenglocke, die, wäre ihm nicht der Erfolg der im gleichen Jahr uraufgeführten Oper Samson et Dalila hilfreich zur Seite gesprungen, durchaus auch das Ende des Opernkomponisten Saint-Saëns hätte einläuten können. Nachdem Le timbre d’argent eine einigermaßen erfolgreiche Uraufführung und immerhin 18 Aufführungen erlebt hatte, der sich Produktionen in Brüssel, Elberfeld, Köln, Berlin, Monte-Carlo und 1914 abermals in Brüssel anschlossen, folgte das endgültige Aus für das Silberglöckchen. Mehr als hundert Jahre später versuchte jetzt die nach 18monatiger Sanierungen wiedereröffnete Opéra-Comique im Verbund mit dem koproduzierenden Palazzetto Bru Zane, der die Opern-Ausgrabung in sein fünftes „Festival Palazzetto Bru Zane à Paris“ 2017 einbettete, dem Stück Leben einzuhauchen. Die gut gemeinte Reaktion der Premierenbesucher kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Saint-Saëns’ „Alptraum“ vermutlich für immer verstummen würde, wenn Palazzetto Bruno Zane, wie auch von den anderen Opern des Festivals, nicht eine CD (BZ 1041, 2 CD mit vielen zweisprachigen Aufsätzen und dto. Libretto, alles nur englisch-französisch, wogegen sich der deutschsprachige Fan wieder einmal wehrt, sind denn die drei deutschsprachigen Länder Europa der größte Kaüferblock…) folgen ließe. Und hört sich das nun prickelnder an?

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Saint-Saëns‘ „Le Timbre d’argent“ an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Es ist ein großer Stoff. Halb Faust, halb Pygmalion. Ein Ringen des Teufels mit dem Künstler. Gold und Verführung, Tod und Leid, Sinnenlust und kleines Glück. Alles in einem, ein Kunstgewebe aus deutscher Romantik, dunklem Teufelspiel, Theaterglanz, Phantasmagorien und Künstlertragödie, und der Begeisterung der Franzosen für dunkle, alptraumhafte Szenarien, wie sie auch durch Edgar Allen Poe nach Frankreich gelangten und nicht nur bei Maupassant auf literarische Resonanz stießen. Der Maler Conrad liegt am Weihnachtsabend elend danieder. Er wird vom Freund Bénédict, seiner Geliebten Hélène und dem Arzt Spiridion umsorgt, den er beschuldigt, ihn nicht zu heilen. Haltlos verliebt er sich in die Tänzerin Fiammetta, die lebendig geworden Circé seines Gemäldes, die ihn in vielerlei Gestalt umwirbt und der er immer wieder erliegt. Ebenso wie den teuflischen Verführungen Spiridions, der ihn lockt, das Silberglöckchen zu läuten, um Wohlstand, Gold und Glück im Spiel und in der Liebe zu finden. Bei jedem Läuten stirbt ein Mensch. Was soll’s, meint Spiridion. Als der Vater von Hélène und ihrer Schwester Rosa stirbt, dann auch der gute Bénédict, sträubt sich Conrad, will den teuflischen Gegenstand beseitigen. Spiridion greift zu immer stärkeren Mitteln der Verführung, bis Conrad endlich nach Hélène ruft, wie Tannhäuser nach Elisabeth, „Chère Hélène, c’est toi, toi seule que j’ adore“. Er wirft die verdammte Glocke von sich. Zurück an den Anfang: Alles nur ein Alptraum. Conrad ist geheilt. Der Chor macht alles gut, „Dieu clément jette un regard paternel! Alléluia!“. Der accentusChor serviert diese Bitte um Vergebung wirkungsvoll aus dem Auditorium, wie mehrfach an diesem Abend. Die Chöre, harmonisch raffiniert gebaut, gehören zu den zentralen Momenten der Oper. Ein reiner Opernchor hätte ihnen vielleicht mehr theatralischen Zunder gegeben, gleichwohl singen die accentus-Sänger gerade und klangreich. La damnation de Faust, Les contes d’ Hoffmann, Faust sie alle umgeistern diese Oper, die keinen eigenen Ton findet.

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Es scheint, als ob man Saint-Saëns bewusst ins Messer laufen ließ. Zweimal hatte man ihm den Prix de Rom verwehrt. Einmal war er zu jung, einmal zu alt. Auber soll sich für Saint-Saens eingesetzt haben, so dass ihm Léon Carvalho, Direktor des Théatre-Lyrique, 1864 einen Stoff von Jules Barbier und Michel Carré anbot, den wohlweislich bereits drei andere abgelehnt hatten, darunter Gounod. Saint-Saëns griff natürlich zu. Die Umgestaltung der ursprünglichen Opéra comique in eine Opéra und abermalige Rückführung in eine Opéra comique usw. hing mit den in Aussicht gestellten Uraufführungsorten zusammen. Das Unternehmen platzte. Dann kam der Krieg von 1870. Als die Oper schließlich am 23. Februar 1877 herauskam, waren dreizehn Jahre seit den Anfängen verstrichen. Saint-Saëns war kein Anfänger mehr, sondern ein gestandener Mann von 42 Jahren. Selbstkritisch genug, nahm er bis zu letzten Brüsseler Produktion von 1914, deren Version jetzt an der Opéra-Comique gespielt wurde, über ein halbes Jahrhundert Modifizierungen vor. Das dürfte einzigartig sein. Saint-Saëns wollte alles richtigmachen, packte alles in das Stück hinein. Das ist souverän, meisterhaftes Handwerk, orchestral von ausladender Kunstfertigkeit, etwa die ausgedehnte Ouvertüre, die mit ihren ländlerisch derben und walzend eleganten Anklängen – das Stück spielt in und um Wien – nachvollziehen lässt, weshalb die Zeitgenossen sich auch an Weber erinnert fühlten.

Francois-Xavier Roth und das Orchester Les Siècles spielen den langen Vorspann, dessen Reiz sich auch erschöpft, mit einer magistralen Hingabe, die sie auch während des zwei-einhalb-stündigen Abends im Juni 2017 (aufgenommen wurde am 26 und 27. ) nicht verlässt. Doch nun muss man schon wie Aschenputtels Tauben anfangen, das Gute herauszupicken, die auffallenden Nummern hervorheben. Das sind einige, das keusche Lied des Bénédict „Demande à l’oiseau“, das ebenso schlichte sinnfällige Hochzeitsduett mit Rosa, das rührende, fast einfältige Lied der Hélène „Le bonheur est chose légère“, die elegisch leidenschaftlichen Gesänge des Conrad, deren Anlage und Tessitur genau zwischen Faust und Hoffmann ausgependelt ist, vor allem aber zwei Szenen des Spiridion, die vergessen machen, dass er Bösewicht auch viel Ödes zu singen hat, das coupletgewitzte springlebendige „De Naples à Florence, et de Parme à Vérone“ (klingt das nicht schon nach „We open in Venice“ in Porters Kiss me Kate!) und seine Ballade „Sur le sable brille“. Wenn man anfängt aufzuzählen, zeigt dies auch, wie dürftig die Oper musikdramatisch zusammengeleimt ist, wie es ihr an vokaler Dringlichkeit, an Feuer und Leidenschaft fehlt. Man sehnt sich nach Faust und Hoffmann. Dabei ist eigentlich alles drin, schillernde Orte, eine kräftige Handlung, Figuren, die nach Musik rufen – Fiammetta freilich ist wie in Aubers La muette de Portice eine Tänzerin. Und doch springt der Funke nicht über. Man ist durchgehend interessiert, aber auch gelangweilt.

Saint-Saëns‘ „Le Timbre d’argent“ an der Pariser Opéra-Comique/ Szene/ Foto Pierre Grosbois

Und die vokale Seite?  Anfangs will der graue, schlierige und erschöpfte Gesang von Edgaras Montvidas gar nicht gefallen. Nicht der Einheitston, nicht die gespreizten und angestrengten Höhen und dramatischen Bemühungen; und das Französisch finde ich auch nicht impeccable. Doch die Stimme des litauischen Tenors hat ein Gesicht, als Conrad überzeugt er durch Persönlichkeit. Alles was man sich von einem leichten französischen Tenor an flüssiger Tongebung und Süße der Phrasierung erwartet, kann Yu Shao als Bénédict aufbieten, der zusammen mit der koloratursauberen Edelsoubrette Jodie Davos als Rosa ein bezauberndes Paar abgibt; als Hélène hat die stimmlich etwas steif gewordene Hélène Guilmette fast das Nachsehen. Tassis Christoyannis, wie Montvidas eine Säule der Bru Zane-Produktionen, hat als Spiridion, ein bisschen Mephistophélès, ein bisschen Les contes d‘Hoffmann-Bösewicht, eigentlich eine Paraderolle, die er mit Nonchalance ausfüllt, doch fast auch wie nebenbei. Aber für den Opernfan, namentlich den am französischen Repertoire interessierten, ist es doch gut, diese Aufnahme gehört zu haben – wiederum einmal mehr chapeau für den tüchtigen Palazetto Bru Zane. Rolf Fath

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Schwan am Spiess

 

Am Ende der Einspielung seiner Carmina Burana im Oktober 1967 in Berlin bedankt sich Carl Orff in seiner unverwechselbaren Art bei den Mitwirkenden für die Zusammenarbeit. Er hatte die Aufnahme mit Chor und Orchester der Deutschen Oper sowie den Schöneberger Sängerknaben unter der Leitung von Eugen Jochum durch seine Anwesenheit und seinen Rat autorisiert. So ist es auch auf dem Cover ausdrücklich vermerkt. Diese besonderen Umstände machten es also möglich, ein Werk genau so für die Ewigkeit festzuhalten, wie es dem Komponisten vorgeschwebt hat. Orff erzählt unter viel Räuspern, wie erst das Medium Schallplatte zur Verbreitung des Stückes beitrug. 1952 sei ebenfalls gemeinsam mit Jochum die erste Aufnahme gemacht worden, die über den Rundfunk auch in die USA gelangte. Dort hätten zwar längst die Noten vorgelegen. Sie seien aber unbeachtet geblieben, Erst diese Platte habe eine Flut von Aufführungen und weiteren Einspielungen zur Folge gehabt. Die Carmina Burana, die bei der Uraufführung 1937 in Frankfurt am Main wegen ihres teils deftigen Inhalts gespaltene Aufmerksamkeit fand, entpuppte sich als eines der erfolgreichsten musikalischen Schöpfungen obwohl die Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert in mittellateinischer und mittelhochdeutscher Sprache überliefert sind – Sprachen, die nur Gelehrte verstehen. Orff sieht darin aber einen Vorteil. Man könne das Stück überall aufführen und brauche keine Übersetzung. Jeder und keine verstehe es. Obwohl dem Chor die größten Aufgaben zukommen, haben auch die drei Solisten gut zu tun. In gefürchtete schwindelerregende Höhen steigt Gundula Janowitz auf, wenn sie sich stimmlich dem unbekannten Süßesten ganz hingibt. Herzzerreißend brät Gerhard Stolze als Schwan am Spieß. Dietrich Fischer-Dieskau, der am häufigsten gefordert ist, agiert gespalten. Er muss in ein Wechselbad der Gefühle steigen, besingt die Liebe in höchsten Tönen, verspricht sich von einem Kuss, dass er ihn ins Leben zurück bringt und muss sich auch mit wildem Grimm und voll Bitterkeit an die Brust schlagen.

Die Produktion – einschließlich der Ansprache von Orff – eröffnet eine neue Edition der Deutschen Grammophon anlässlich der 125. Geburtstages des Komponisten, der am 10. Juli 1895 in München auf die Welt gekommen ist (00289 483 8639). Angeboten hätte sich auch die erwähnte erste Einspielung, die ebenfalls mit dem Gelblabel erschien und in der Elfride Trötschel, Hans Braun und Paul Kuen mitwirkten. Obwohl historisch bedeutsam, kann sie klanglich mit der späteren Einspielung nicht mithalten. Die Carmina schreit – wie alle Kompositionen des Visionärs Orffs – nach Stereo, damit die rasanten und kühnen Effekte wirkungsmächtig zum Klingen gebracht werden. Aber es geht auch nicht ganz ohne Mono in so einer Sammlung, mit der Rezeptionsgeschichte betrieben werden soll. Von 1949 haben sich einige Nummern aus der Carmina Burana mit Kammerchor und Symphonie-Orchester des RIAS unter der Leitung von Ferenc Fricsay erhalten. Als Solisten treten Anny Schlemm und ebenfalls Fischer-Dieskau in Erscheinung. Sie sind Teil der Bonus-CD, die auch die zwei Ohrwürmer aus der Oper Die Kluge „Ach hätt’ ich meiner Tochter nur geglaubt“ und „Als die Treue ward geboren“ – enthält, die bereits 1944 in Dresden mit Lorenz Fehenberger, Hans Löbel, Gottlob Frick und Kurt Böhme eingespielt wurden. Da die Grammophon keine eigenen Gesamteinspielung im Katalog hat, ist die populäre Oper wenigstens bruchstückhaft berücksichtigt. Das Lamento d‘Arianna nach Monteverdi und die freie Transkriptionen Entrata nach The Bells von William Byrd, der eine Zeitgenosse Shakespeares war, zeugen davon, wie stark sich der Komponist von alter Musik, mit der alles begann, inspirieren ließ. Das Lamento wird bewegend von Elisabeth Höngen vorgetragen, während für Entrata eine der seltenen Aufnahme des Stückes mit Hermann Scherchen und dem Orchester der Wiener Staatsoper gewählt wurde. Gleichfalls von Jochum betreut wurden die Kantaten Catulli Carmina und Trionfo di Afrodite, die Orff erst nachträglich mit der Carmina Burana zum Tryptichon Trionfi verband.

Wenn ich nichts übersehen habe, existierte die Szenenfolge aus Die Bernauerin mit Chor und Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks, die von Ferdinand Leitner dirigiert werden, bislang nur als Schallplatte. Nun liegt dieser Mono-Querschnitt von 1957 auch als CD vor. Orff, der auch den Text schrieb, war direkt an der Produktion beteiligt, was ihr Authentizität verleiht. Dargestellt werden die wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre im Leben von Agnes Bernauer (1410-1435). Sie stammte aus dem Volk und war die Geliebte und vermeintliche Ehefrau des bayerischen Herzogs Albrecht III. Dessen Vater hintertrieb die nicht standesgemäße Verbindung, indem er Agnes in der Donau ertränken ließ. Ihrem Andenken sind noch immer Festspiele im Innenhof des Straubinger Herzogschlosses gewidmet, die alle vier Jahre von Laienschauspielern veranstaltet werden. Orff betrieb für seine Version, die 1947 in Stuttgart uraufgeführt wurde, intensive Studien, um – wie es bei Wikipedia heißt – „sein Stück in einer Sprache auf die Bühne zu bringen, die seiner Meinung nach im 15. Jahrhundert in Bayern gesprochen wurde. Dieser Umstand erschwert aber auch den Zugang zu dem Werk für Menschen außerhalb des süddeutschen Sprachraums“. Das Werk steht sich quasi selbst im Wege, weil es nur in seiner originalen Form erfahrbar – und nicht zu übersetzen ist. Man muss sich tief hineinhören, um es zu verstehen. Wem das gelingt, dem ist ein packendes hochdramatisches Erlebnis sicher. Überwiegend hat die Musik jedoch nur untermalenden Charakter. Die Chöre sind Sprechgesängen, die handelnden Personen werden bis auf zwei Ausnahmen von Schauspielern dargestellt. Ihren Rang bekommt diese Produktion auch durch die Mitwirkung von Käthe Gold (Agnes) und Fred Liewehr (Albrecht).

Als großes Theater geben sich auch Antigonae und Oedipus der Tyrann. Beide Stereo-Produktionen haben legendären Status im Katalog der Deutschen Grammophon. Zuerst war Antigonae mit Inge Borkh in der Titelrolle auf CD gelangt und mehrfach neu aufgelegt worden. Außerdem mit dabei: Claudia Hellmann (Ismene), Carlos Alexander (Kreon), Gerhard Stolze (Wächter), Fritz Uhl (Hämon), Ernst Haefliger (Tiresias), Kim Borg (Bote), Hetty Plümacher (Eurydike) und Kieth Engen (Chorführer). Wieder liegt die musikalische Leitung in den Händen von Ferdinand Leitner, der viel für Orff getan hat. Hingegen fristete Oedipus für lange Zeit in einer in Leinen gebundene Schallplattenkassette ein luxuriöses Dasein. In meinem Regal sticht sie allein durch ihr eigenwilliges Orange hervor. Dort wird sie zumindest ehrenhalber bleiben, weil die Aufnahme in der neue Edition schon deshalb kein vollwertiger Ersatz ist, da es überhaupt keine Libretti gibt. Nicht alles lässt sich im Netz so einfach beschaffen. Umso mehr ist man auf sein Gehör angewiesen und muss auch auf zwei klugen Essays von Erich Emigholz und Karl Schumann sowie wunderbare Fotos der Solisten verzichten, die da wären: Gerhard Stolze (Oedipus), Astrid Varnay (Jokaste), Karl Christian Kohn (Priester), Kieth Engen (Kreon), Hans Günter Nöcker (1. Chorführer), Rolf Boysen (2. Chorführer), James Harper (Tiresias) und Hubert Buchta (Bote aus Korinth). Musikalisch betreut wurde die Aufnahme in Anwesenheit des Komponisten von Rafael Kubelik. Für beide Einspielungen gilt, dass sich durchweg namhafte Sänger leidenschaftlich und hochprofessionell zur Verfügung stellten, um den sperrigen Werken zum Durchbruch zu verhelfen. Dies trifft auch auf die jüngste Aufnahme in dieser Edition zu: De temporum fine comoedia (Das Spiel vom Ende der Zeiten). Sie entstand im Juli 1973 parallel zur Uraufführung bei den Salzburger Festspielen. Es gab drei Vorstellungen und keine Reprisen in den Folgejahren. Kein Geringerer als Herbert von Karajan hatte sich als Dirigent zur Verfügung gestellt und mit ihm Colette Lorand, Jane Marsh, Kay Griffel, Gwendolyn Killebrew, Kari Lövaas, Anna Tomowa-Sintow, Heljä Angervo, Sylvia Anderson, Glenys Loulis als Sybillen, die das Ende der Zeit verkünden. Zudem wirkten Christa Ludwig, Peter Schreier, Josef Greindl, Hans Helm, Wolfgang Anheisser und der Schauspieler Rolf Boysen als Lucifer mit. Für die Tomowa-Sintow war es der erste Auftritt bei den Salzburger Festspielen, bei denen sie über mehr als zehn Jahre in vielen großen Partien gefeiert wurde. Beim Publikum kam das letzte große Werk von Orff gut an, die Kritik gab sich zurückhaltend.  Rüdiger Winter

Hommage an einen Vergessenen

 

Friedhöfe sind – namentlich an heißen Sommertagen – nicht nur für die Erholung unter alten Bäumen in würdiger Ruhe ein Gerwinn (selbst wenn mir da nicht alle zustimmen  werden…). Auch für die Bildung vermitteln sie überraschende Aha-Effekte. Wie unser Daniel Hauser nachstehend schreibt: Wer kennt den Komponisten Woldemar Bargiel, dessen Grab auf dem Friedhof an der Berliner Bergmannstrasse (nähe Südstern, dem Haupteingang)  zu finden ist? Wie manche seiner Kollegen nicht nur auf diesem Friedhof liegt Bargiel versteckt und vergessen.

Woldemar Bargiels Grabstein auf dem Berliner Friedhof an der Bergmannstrasse/ Wiki

Da ragen in Berlin nur Mendelssohns am Mehringdamm und wenige andere heraus (so Leon Jessel auf dem Friedhof an der Berliner Strasse in Berlin-Wilmersdorf), die kennt man wenigstens. Von Leo Blechs Grab bewahrte die Witwe des Literaturwissenschaftlers Wapnewski wenigsten den Stein, der nun diskret neben dem von Peter Wapnewski auf dem Friedhof am Olympiastadion seine Heimstatt behalten hat, nachdem er aus der Reihe der Berliner „Ehrengräber“ getilgt (!!!) wurde. Woldemar Bargiel war uns einen Artikel wert. Und seine Musik stößt bei Daniel Hauser auf Begeisterung. Die Firmen Toccata und Sterling (auch cpo und einige andere Labels) haben seiner, wie manchem anderen Vergessenen, gedacht. Wir auch. G. H.

 

 

Wer kennt heute noch Woldemar Bargiel? Selbst klassik-affinen Zeitgenossen dürfte dieser exotisch klingende Name wenig sagen. Dass Bargiel, immerhin der Halbbruder von Clara und somit der Schwager von Robert Schumann, im 19. Jahrhundert als einer der bedeutendsten akademischen Komponisten aus Deutschland betrachtet wurde, ist genauso Expertenwissen wie die Tatsache, dass zu seinen Schülern u. a. auch der Komponist und Dirigent Leo Blech sowie der spätere langjährige Präsident der Reichsmusikkammer Peter Raabe gehörten. 1828 in Berlin als Sohn eines Gesangs- und Klavierlehrers sowie einer Pianistin und Sängerin geboren, war im das musikalische Gen gleichsam in die Wiege gelegt worden. Er arbeitete als Musiklehrer in seiner Heimatstadt, unterrichtete ab 1859 am Konservatorium in Köln und übernahm 1864 die Musikschule der Tonkunst in Rotterdam, wo er auch seine spätere Frau Hermine Tours kennenlernte. Erst 1874 kehrte er schließlich abermals nach Berlin zurück und folgte einem Ruf zum Professor für Komposition. Diese Tätigkeit übte er in den 23 Jahren bis zu seinem Tode 1897 aus und galt als einer der wichtigsten Kompositionslehrer seiner Zeit.

 

Woldemar Bargiel 1885/ Wiki

Lange hatte die Musikwelt Werke Bargiels vergessen. Erst im letzten Jahrzehnt kam etwas Bewegung in die Sache. cpo legte zwischenzeitlich seine vier Streichquartette sowie das Streichoktett vor, und beinahe zeitgleich brachten Toccata (TOCC 0277) und Sterling (CDS 1105-2) die wichtigsten seiner Orchesterwerke auf den Markt. Dies sind die viersätzige Sinfonie in C-Dur op. 30 (1864), die Ouvertüren zu Prometheus op. 16 (1852; rev. 1854 u. 1859), zu einem von Shakespeares Romeo und Julia inspirierten Trauerspiel op. 18 (1856) sowie zu Medea op. 22 (um 1861) und ferner das Intermezzo für Orchester op. 46 (1880), womit ein knapp 30-jähriger Rahmen abgedeckt ist. Zeitlich lässt sich das Gros der Stücke tatsächlich in die Lücke zwischen Schumanns überarbeiteter vierter Sinfonie (1851) und Brahms‘ erster Sinfonie (1876) einordnen, eine Zeit, in welcher weniger die klassische Sinfonik als vielmehr die sinfonische Dichtung á la Liszt tonangebend war. Bargiel war gewiss kein Neuerer und bewegte sich innerhalb der bis dahin üblichen Formen, insgesamt klassizistischer ausgerichtet als sein Schwager Schumann und mit deutlicheren Anklängen an Mendelssohn und insbesondere Beethoven. Gleichwohl gelang ihm zwischen all diesen Titanen eine eigene Tonsprache, eingewoben in eine handwerklich tadellose Orchestrierung. Die Melodie steht bei Bargiel, hierin nicht unähnlich Beethoven, weniger im Mittelpunkt als ihre thematische Verarbeitung. Während die Sinfonie womöglich den spannendsten Beitrag zur deutschen Sinfonik in den 1860er Jahren darstellt, sind die genannten Ouvertüren (von denen vor allem Medea herausragt) im Grunde genommen und trotz anders lautender Bezeichnung Tondichtungen im Liszt’schen Geiste.

Dass Bargiels Musik durchaus hörenswert und auch aufführungswürdig ist, belegen die genannten Produktionen durchaus. Es ist freilich ein Wermutstropfen, dass sowohl die CD von Toccata (die 2014 als Vol. 1 einer kompletten Einspielung sämtlicher Orchesterwerke Bargiels angekündigt wurde, der bis dato allerdings nichts nachfolgte) als auch jene von Sterling interpretatorisch und klanglich ihre Schwächen haben. Weder das Sibirische Sinfonieorchester unter Dmitry Vasilyev (Toccata) noch das mexikanische Orquesta Sinfónica de San Luis Potosí unter José Miramontes Zapata (Sterling) können auf ganzer Linie überzeugen; in letzterem Falle werden die orchestralen Defizite noch deutlicher. Findet sich denn kein deutsches Symphonieorchester? Genauso problematisch ist allerdings die in beiden Fällen nicht ideale Tontechnik. Während die Toccata-Ausgabe klanglich zwar bassstark, aber teils zu verschwommen und wenig detailreich daherkommt (Aufnahme: Philharmonie, Omsk, Juni/Juli 2014), klingt die Sterling-Einspielung (Aufnahme: Teatro de la Paz, San Luis Potosí, Juni 2014) dünn und schrill und weist im stereophonen Klangbild mittig eine seltsame Leere auf, die fast an die Stereo-Frühzeit erinnert. Hier wurde an der falschen Stelle gespart. Trotz dieser ärgerlichen Einschränkungen liefern die Interpretationen ein Plädoyer für eine ausgedehntere Pflege des Œuvre dieses Komponisten, wobei der Toccata-Einspielung trotz der genannten Makel der Vorzug gegeben werden muss. Mit einem Spitzenorchester in klangtechnisch ausgereifterer Präsentation wäre hier gewiss noch deutlicher Spielraum nach oben. Die Textbeilagen sind durchaus brauchbar. Daniel Hauser

Sanfte Töne in der alten Scheune

 

Es ist dringend geraten, erst einen tiefen Blick in das Booklet zu werfen, bevor die CD in den Player geschoben wird. Für eine Neuerscheinung hat das das englische Label Chandos nämlich etwas Besonderes ausgedacht, was sich – wie ich finde – auf Anhieb nicht von selbst erschließt, sondern der Erklärung bedarf. Ludwig van Beethovens An die ferne Geliebte und Franz Schuberts Schwanengesang wurden nämlich auf unterschiedliche Weise aufgenommen bzw. abgemischt (CHAN 20126). Wer sich also nicht vorher informiert, wird sich womöglich wundern. Es singt der Bariton Roderick Williams. Für das Booklet hat er einen bemerkenswert offenen und sehr aufschlussreichen Text beigesteuert, in dem er einräumt, dass sein Respekt vor diesen Komponisten so groß gewesen sei, dass er sich zunächst gefürchtet habe, deren Lieder zu interpretieren. Schließlich ist der Engländer Williams selbst als Komponist hervorgetreten. Er wolle gar nicht erst versuchen, den einen so wie den anderen zu singen. Beethoven sei noch der Klang der späten Klassik eigen“, während Schubert „bereits die Dunkelheit der frühen Romantik“ erkunde. „Daher entschieden wir uns, die beiden Werke in leicht unterschiedlichen Klangeigenschaften einzuspielen.“ So sei bei Beethoven – am auffälligsten bei dem den Zyklus abschließenden Lied „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ die Stimme mitunter „etwas weiter entfernt platziert, um dem Klavier gebührende Prominenz einzuräumen“. Es klinge fast, als sänge er, Williams, über die Schulter seines Pianisten Iain Burnside, mit dem er künstlerisch hervorragend harmoniert. Wenn man es also weiß, ist die Wirkung groß und überzeugend.

Dagegen wurde Schwanengesang „auf traditionelle Art und Weise aufgenommen“. Bei diesen „höchst außergewöhnlichen und fortschrittlichen Liedern wird die Gesangslinie in gleichwertiger Partnerschaft von Klavier unterstützt“, so Williams. Er bedient sich einer transponierten Fassung. Sie wurde von der Edition Peters für tiefe Stimme herausgegeben, ist aus dem Booklet zu erfahren. Produziert wurde die mit gut fünfundsechzig Minuten nicht überstrapazierte CD im April und Mai 2019 in der Potton Hall, einer umgebauten ehemaligen alten Scheune mit Holzboden und Gewölbedecke in der stimmungsvollen Landschaft von Suffolk, von der sich der Komponist Benjamin Britten inspirieren ließ. Die für die kleine Form offenkundig ideale Akustik fließt in die Aufnahme als sehr weicher, gar milder Klang ein. Als würden die Töne schweben. Es sind keine Härten und kein Widerhall zu vernehmen. Unter solchen Bedingungen kann sich Roderick Williams mit seinem ausgesprochen lyrischen Bariton besten verwirklichen. „Der Atlas“ und „Der Doppelgänger“, hochdramatisch wie sie sind, verführen ihn nicht dazu, die Stimme unnötig zu strapazieren. Es bleibt beim Schöngesang. Obwohl Mitte fünfzig, kommt er deutlich jünger herüber. Sänger und Pianist nehmen sich viel Zeit. Sie haben überhaupt keine Eile und hetzen sich nicht gegenseitig. Die Lieder können sich also in Text und Musik so entfalten, dass alles gut zu verstehen ist. Rüdiger Winter

Lieder aus Argentinien, Russland und Frankreich

 

Welch wunderliche Beinamen es gibt. Den „Schubert der Pampas“ nannte man den argentinischen Komponisten Carlos Guastavino (1912-2000). Vor allem wohl wegen seiner mehr als 150 Lieder, die einen Großteil seiner 500 Kompositionen bilden. Anders als sein 16 Jahre jüngerer Landsmann Ginastera zeigte sich der in seiner Geburtsstadt Santa Fe de la Vera Cruz und Buenos Aires ausgebildete Guastavino unbeeindruckt von der Moderne, pflegte auch in den Kammermusikwerken und den sinfonischen Stücken einen luziden, lokal gefärbten, folkloristisch romantischen Stil, so dass seine Lieder, die Einfluss auf die Popularmusik hatten, wie eine andere Seite der populären Tangos wirken. Es war deshalb recht geschickt von der italienischen Sopranistin Letizia Calandra und ihrem kubanischen Pianisten Marcos Madrigal ihre im März 2018 in Lugano entstandenen Auswahl von Liedern Guastavinos in einen Sepiaklang wie bei den Gardel-Aufnahmen der 1940er Jahre zu hüllen (Brillant Classics 95798), was dem Unternehmen eine gefällige nostalgische Klangkulisse gibt. Guastavino vertonte bedeutende lateinamerikanische Poeten, darunter Neruda, Borges, Alberti und Benaros, dazu gehören die das Programm eröffnenden 12 Lieder nach Leon Benaros Flores Argentinas (1969), die einen unmittelbaren morbiden Reiz besitzen, sehr melodiös und sanft verführerisch sind, wobei Calandra mit Farben und Vokalen spielt und mit einem modernen Recitarcandando-Stil sehr eindringlich gestaltet und Madrigal seinen klingend klöpfelnden, perkussiven Part mit Verve und  Eleganz versieht. Ein früherer Zyklus, die sieben Lieder “Sobre poesias de Rafal Alberti“, stammt aus dem Jahr 1946, ein Jahr bevor Guastavino mit einem Stipendium für zwei Jahre nach London ging. Ansonsten scheint er sein Leben in Argentinien verbracht zu haben, wo er mit seinen argentinischen Themen in Ballett- und Orchestermusik, zu einer Größe wurde und sich seine Musik eine Unberührtheit bewahrte. Es fehlen auch nicht das von Calandra mit Leidenschaf gesungene „La rosa y el sauce“, die bekannte „Elegia para un gorrion“ und sein, so sagt man, berühmtestes Lied „Se equivocó la paloma“, die unbedingt als Volkslieder durchgehen können (Brilliant 95798). Eine Entdeckung.

 

Kein Unbekannter ist Nikolai Medtner (1880-1951), der deutsche und skandinavische Verfahren hatte, nach der Oktoberrevolution nach Deutschland emigrierte, in Berlin und Paris lebte und sich nach ausgedehnten Konzertreisen, die er als Pianist unternahm, 1935 in England niederließ, wo er als Pianist und Komponist seine treueste Anhängerschaft fand. Anfangs als Avantgardist betrachtet, kultivierte Medtner über die Jahrzehnte einen gleichbleibend klassisch-romantischen Stil, der sich auch in den mehr als hundert Liedern zeigt, viele darunter, entsprechend der im Elternhaus gepflegten deutschen Kultur, auf deutsche Gedichte, vor allem die drei Goethe-Sammlungen op. 6., 15. und 18. In der aus den Jahren 1903 bis 1914 stammenden Auswahl der Mezzosopranistin Ekaterina Levental und des Pianisten Frank Peters (Brillant Classics 96056), also aus Medtners russischen Jahren, findet sich nur das Goethe Gedicht „Auf dem See“, wobei Medtner hier ausnahmsweise eine Übersetzung von Afanasy Fet benutzte, von dem er auch einige Gedichte vertonte. Alle anderen Lieder, darunter die acht Gedichte op. 24 und die sieben Gedichte op. 28, benutzen russische Vorlagen, größtenteils Gedichte Fets und Tyutchevs, und als bekannteste die sieben Puschkin-Gedichte op. 29. Medtner wurde als Pianist in einem Atemzug mit seinen Landsmännern Rachmaninoff, Hofmann, Lhevinne und Scriabin genannt. Entsprechend gewichtig ist der virtuose Klavierpart in den schönen gefühlvollen, melodiösen Liedern, dem eigentlich die dominierende Rolle zufällt. Die Stimme hat sich in den im Stile von Rachmaninoffs Romanzen gehaltenen Liedern quasi unterzuordnen, wodurch in den silbisch vertonten Versen eine verinnerlichte, subtile Gestaltungskunst gefragt ist. Ekateria Levental muss mehr malen und andeuten, Ausdruck und Bilder unterschwellig entwerfen, um einer gewissen Monotonie zu entgehen.

 

Die Pianistin Anna Cardona und der Bariton Victor Sicard haben im Herbst 2019 in Paris Mélodies von Maurice Ravel aufgenommen, die einmal mehr Ravels immense Fähigkeit der Anverwandlung und seinen spielerischen Umgang mit Stilen, Sprachen und Regionen zeigen ( Harmonia Mundi LMU 020). Ausgewählt wurden die bekannten Zyklen von den Don Quichotte-Liedern über die Deux mélodies hébraïques, Chansons madécasses (mit Aurélien Pascal und Mathilde Calderini als Instrumentalsolisten), Cinq chants populaires und Cing Mélodies populaires grecques bis zu den fünf Histoires naturelles. Sicard reizt dieses Panorama vollkommen aus, lädt im Versuch, jedem Lied einen eigenen Charakter zu geben, seinen dunklen Spielbariton vielfach über Gebühr auf, ist oft mehr ausdruckvoll knarzend als subtil und verführerisch oder spielerisch locker und will den Hörer nicht aus seinen Fängen lassen, was auf die Dauer etwas strapaziös gerät. Dass das erste der Lieder aus Madagaskar, Nahandove, ein Liebeslied ist, vermittelt sich beispielswiese nicht unbedingt. Das umfangreiche Kaddisch gerät dagegen zu einer wuchtig eindrucksvollen Szene. Rolf Fath