Archiv für den Monat: Mai 2020

Akustische Teilhabe

 

Pech für alle, die die Hilsdorf-Inszenierung von Wagners Ring an der Oper am Rhein Duisburg sehen wollten, Glück für die CD-Aufnahme zumindest des ersten Teils,  Das Rheingold, denn da die Sprinkleranlage des Opernhauses das Gebäude unter Wasser gesetzt hatte, mussten die Vorstellungen in die Mercatorhalle verlegt und aus szenischen mussten konzertante Aufführungen werden. Dadurch konnten sich die Sänger ausschließlich auf ihren Gesang konzentrieren, eine ausgewogene Balance zwischen Orchester und Solisten garantiert werden, und die Mercatorhalle scheint generell mit einer besonders guten Akustik gesegnet zu sein. Axel Kober, bayreuth- und speziell ring-erprobt, garantiert einen so durchsichtigen wie wirkungsvolle Spannungsbögen aufbauenden Orchesterklang, deckt die Sänger nie zu und weiß die Qualitäten der Duisburger Philharmoniker besonders in den Verwandlungen, so mit einem majestätisch-ruhigen Walhall-Motiv bestens zu präsentieren. Da zahlt sich nicht zuletzt die langjährige Vertrautheit mit dem Orchester aus.

Auch die Solisten machen fast alle ihre Sache sehr gut. Natürlich trifft das auf den Alberich von Jochen Schmeckenbecher zu, nur Ingvar Wixell als Scarpia dürfte so unverzichtbar in einer Partie gewesen sein wie er als Nibelung. Eine bis in die letzte Silbe hinein ideale Diktion auch bei schnellen Tempi, ein durch Mark und Bein gehender Fluch sind seine besonderen Qualitäten. Er ist genau so unverwechselbar wie seine beiden Bariton-Kollegen, denn auch der Wotan von James Rutherford ist mit noblem, leicht erotisch angehauchtem Timbre, siegreicher Höhe und vokaler Autorität ein vorzüglicher Vertreter seiner Partie. Gegenüber seinen beiden Kollegen fällt David Jerusalem als Donner mit holprig-dumpfem Beitrag erheblich ab.

Die beiden Tenöre Raymond Very (Loge) und Florian Simson (Mime) wissen durch des einen gleißnerisches Timbre, durch lyrische Qualitäten und des anderen jämmerlich quäkendes Charaktertenororgan ihre Rollen unverwechselbar zu machen. Nachdrücklich in der Belehrung Wotans zeigt sich der Fafner von Lukasz Konieczny in weitausgespannten Bögen, Thorsten Grümbel als Fasolt klingt anders, aber nicht weniger eindrucksvoll.

Die Damen sind durchweg angenehm, wobei die Fricka von Katarzyna Kuncio eher mädchen- als damenhaft klingt, sich etwas hoheitsvoller geben könnte. Sylvia Hamvasi setzt einen frischen, jugendlichen Sopran für die Freia ein und Ramona Zaharia hat für die mahnende Erda einen eindringlichen, schönen Fluss der Stimme, die man sich allerdings auch noch „erdiger“ vorstellen könnte. Fein aufeinander abgestimmt sind die Stimmfarben der Rheintöchter (Heidi Elisabeth Meier, Roswitha Christina Müller, Anna Harvey),  verführerisch und jugendlich alle drei. Naserümpfen oder Brauenhochziehen erübrigt sich also, denn ein nicht ganz großes Haus hat den Grundstein für einen großen Ring gelegt (CAvi 2 CD Q 8553504). Ingrid Wanja  

Ein Leben an der Met

 

An die berühmte Mezzosopranistin Rosalind Elias  (* 13. März 1930 in Lowell, Massachusetts; † 3. Mai 2020 in New York City, New York) und das nachstehende  Gespräch zwischen ihr und meinem Freund und Kollegen Thomas Voigt erinnere ich mich ganz genau. Im eleganten Hotel-Foyer nahe der Oper von Monte-Carlo, 2001 zwischen den Aufführungen zu Barbers Vanessa, hatten wir einen Mordsspass bei der Begegnung mit dieser lebensfreudigen, ausserordentlich humorvollen und typisch amerikanischen Sängerin. Weitgereist und dennoch eine nicht fortzudenkende Säule des New Yorker Met-Opernbetriebes plauderte sie – mit raumgreifenden Gesten und durchaus auch die Gold-geschmückte Hand über das Mikrophon haltend bei den weniger öffentlich gedachten Bemerkungern über manche Kollegen – über ihr Leben, die Kunst und über die realistischen Seiten des Sängerberufes.

Rosalind Elias: Künstlerfoto (als Carmen)/ Foto Herbert Barrett Management

Sie war damals immer noch eine flamboyante Person mit schönen rotbraunen Haaren und jener typisch-lässigen  American-Upper-Class-Garderobe, eine ganz beeindruckende elegante Frau, wie man sie im New York jener Jahre häufiger antraf, eben Met-Kaliber.

 

Es ist uns eine Freude, dass Thomas Voigt (operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter und selber renommierter Opern-Fachjournalist) uns an dieser nunmehr historische Begegnung von 2001 noch einmal teilhaben lässt. Er hatte seine Eindrücke für die renommierte Zeitschrift Fono Forum niedergeschrieben, dessen Inhaber und Chefredakteur Rainer H. Nitschke wir ebenfalls für die sehr liebenswürdige Überlassung danken. Es wärmt mir das Herz, dass wir Kollegen im Dienste der Musik so zusammen halten. Nun also ein historisches Gespräch mit der jüngst verstorbenen Mezzospranistin Rosalind Elias, deren Einspielungen in keiner Opernsammlung fehlen.

 

Gibt es in der Geschichte der Metropolitan Opera einen ähnlichen Fall von Langlebigkeit? 1954 debütierte Rosalind Elias dort als eine der acht Walküren, und noch vor kurzem sang sie die Alte Priorin in Poulencs Dialogues. Thomas Voigt traf die Mezzosopranistin nach einer Vorstellung von Barbers Vanessa in Monte Carlo.

Rosalind Elias und Nicolai Gedda 1958 in der „Vanessa“-Uraufführung an der Met/ Photo: Courtesy of the Metropolitan Opera Archives

Mit Vanessa schließt sich ein Kreis: Bei der Uraufführung des Stücks, 1958 an der Met, sang Rosalind EIias die Partie der jungen Erika. 43 Jahre später, im Februar 200 l, ist sie in demselben Stück als Alte Baronin zu erleben. Viel zu singen hat sie in dieser Partie nicht, aber sie singt es mit erstaunlich voller Stimme. Und sie hat die Art von Bühnenpräsenz, die alle Blicke auf sieht zieht, ohne sich in Szene zu setzen. Sie kann zehn, zwanzig Minuten unbeweglich dastehen, ohne dass die Spannung einen Moment nachlässt. Wie sagte Anja Silja? Es ist ein großer Unterschied, ob man „rumsteht“ oder „dasteht“. Die Elias steht da, und das Standbild ihrer geheimnisvollen, still dominierenden Baronin kontrastiert mit zahlreichen Bildern der Erinnerung, Bilder einer fünfzigjährigen Laufbahn, eines Bühnenlebens, das sich hauptsächlich an der Metropolitan Opera New York abspielte.

 Es begann im Frühjahr 1954. Laut The New Grove Dictionary of Opera war Rosalind Elias zu diesem Zeitpunkt 25, hatte eine solide Ausbildung am New England Conservatory, vier Jahre Bühnenpraxis mit der New England Opera Company und zwei Studienjahre in Italien hinter sich. An der Met herrschte seit vier Spielzeiten Rudolf Bing, und bei ihm gaben sich die Stars die Klinke in die Hand: Björling, Milanov, Warren, Tucker, Peerce, de los Angeles, Barbieri, Siepi, London, Hotter, Welitsch, Steber, Varnay, Della Casa, Bastianini … in dieser Umgebung bewegte sich Rosalind Elias, als sie als Grimgerde in der Walküre debütierte und ihre Ochsentour begann. Kaum eine Solistin in der Geschichte der Met war so oft angesetzt wie sie in ihren beiden ersten Spielzeiten. Was sie rückblickend nur positiv sieht: „Es gab mir eine solide Basis, und dafür bin ich sehr dankbar. Ich sehe mich heute noch, wie ich durchs Haus gehe, schwer bepackt mit Klavierauszügen von den Knien bis zum Kinn. Da kommt Fernando Corena vorbei und fragt entsetzt: ‚Rosalind, was willst du mit all den Noten?‘ – ‚Das sind meine Stücke für die nächste Saison!‘ Ich habe sehr viel gelernt in diesen Jahren. Außerdem hatte ich die Naivität, die Unschuld und die Nerven, die man braucht, um durchzukommen. Wenn man das bloß für immer behalten könnte!“

 

Rosalind Elias: als Meg Page in der Zeffirelli-Produktion des „Falstaff“ an der Met 1964, mit Gabriella Tucci, Regina Resnik und Anselmo Colzani/ Foto Melancon/ Met Opera Archive

Was Mezzosoprane betrifft, so dominierten an der Met in jenen Jahren dramatische Kaliber à la Barbieri. Das lyrische Fach war zu erobern, und so bekam die Elias nach den „Wurzen“ immer häufiger ordentliche Partien: Siebel, Olga, Cherubin, Dorabella, Rosina, Hänsel, Maddalena und Nancy in Martha. Von Rise Stevens übernahm sie Carmen und Octavian, und als Laura, Preziosilla, Azucena und Amneris machte sie schließlich auch den dramartischen Mezzos Konkurrenz. Wobei die Elias immer so vorsichtig war, ihr Potential nie ganz auszureizen. Hört man beispielsweise ihre Azucena in der Trovatore-Aufnahme mit Price und Tucker, so wird klar, dass sie nie versuchte, größer und dramatischer zu klingen, als ihre lyrisch fundierte Stimme es von Natur aus erlaubte. Sie blieb im Rahmen ihrer Mittel und ging auch nach großen Verdi-Partien immer wieder zurück zu Mozart. Vor diesem Hintergrund berichtet sie von einem Schlüsselerlebnis in ihrer Studienzeit: „Ich hatte gehört, dass Toscanini eine Aufführung von Verdis Ballo in maschera plante. Also besorgte ich mir die Noten und brachte sie zur nächsten Gesangsstunde mit. ‚Was soll denn das?‘ fragte meine Lehrerin. Und naiv, wie ich war, erzählte ich ihr, dass ich die Partie der Ulrica studieren wollte, um sie Toscanini vorzusingen. Da nahm sie den Auszug, warf ihn quer durchs Zimmer und meinte: ‚Vergiss es. Wir beginnen mit Mozart.’“

Rosalind Elias: „Werther“-Szenen mit Cesare Valetti unter René Leibowitz bei RCA – eine der schönsten Aufnamen meiner Sammlung/ G. H.

Dem italienischen Maestro ist sie nie begegnet, aber sonst hat sie mit nahezu allen großen Dirigenten ihrer Zeit gearbeitet. Lebhaft erinnert sie sich an ihr erstes Verdi-Requiem mit Bruno Walter. Und an die Aufnahme desselben Stücks mit Fritz Reiner (eine Produktion, die nach wie vor als Referenz-Aufnahme gelten kann). „Ich hatte große Angst vor Reiner, weil alle sagten, dass er ein Tyrann sei. Aber er war ganz lieb, es gab überhaupt keine Probleme. Seine Bewegungen waren auf ein absolutes Minimum reduziert, nur ganz kleine Bewegungen mit den Fingern, selbst bei den Fortissimo-Schlägen im Dies irae. Dann Björling mit „Ingemisco“ und Leontyne Price mit „Libera me“ – das sind Momente, die ich nie vergessen werde.

Rosalind Elias gehört zu den Sängern, die sich rückhaltlos für ihre Kolleginnen begeistern können. Sie schwärmt von der raumgreifenden Stimme der Rysanek und der Schönheit der Schwarzkopf („Wenn ich Fotos von Marlene Dietrich sehe, denke ich immer an die Schwarzkopf und umgekehrt“), von den Aufnahmen der Muzio („Die haben mich zu Tränen gerührt“) und der legendären magischen Piano-Phrase der Milanov als Gioconda („Ah, come t’amo“). Mit Milanov, di Stefano und Warren hat sie Ende der 50er Jahre in Rom La Gioconda und La forza del destino aufgenommen. Als Mozart-Sängerin ist sie neben Lisa Della Casa und George London in Leinsdorfs Figaro-Aufnahme dokumentiert sowie in einem Salzburger Mitschnitt von Così fan tutte mit ihrer Freundin Teresa Stratas (Despina) und ihrer Rosenkavalier-Partnerin Anneliese Rothenberger (Fiordiligi). Mit ihrem warmen, sinnlichen Mezzosopran und einer prägnanten, sinnerfüllten Diktion hat die Elias auch kleinere Partien in Plattenproduktionen deutlich aufgewertet. Dazu zählen die Mary im Holländer neben dem Idealpaar Rysanek/London, die Meg in Soltis erster Falstaff-Aufnahme, die Maddalena im Rigoletto unter Solti und die Suzuki neben der Butterfly von Leontyne Price. Der Met-Mitschnitt ihrer sensibel gestalteten Charlotte (neben dem allzu robusten Werther von Franco Corelli) ist leider seit Jahren vergriffen. Nach wie vor verfügbar ist gücklicherweise ein Klassiker des RCA-Katalogs: Berlioz‘ Roméo et Juliette, dirigiert von Charles Munch.

Rosalind Elias: als Contessa di Coigny in „Andrea Chénier“ an der Met 1966/ Foto Winnie Klotz/ Met Opera Archive

Eine besondere Trouvaille, die bislang nicht veröffentlicht wurde, kursiert seit Jahren auf Bändern in Sammler-Kreisen: Salome aus Cincinnati mit Malisa Galvany in der Titelrolle  und Rosalind Elias als Herodias. Da findet sich eines der extremsten Beispiele in der Geschichte der „Opern-Schreie“ (vgl. Fono Forum 1/01), nämlich bei der zentralen Phrase: „Er soll schwaaaaigen!“ Dieser lang gezogene, mit einem Röcheln endende Schrei klingt bei der Elias so grausig echt, dass man noch nachträglich um ihre Stimme bangt. Sie lacht und winkt ab: „Ich war nie heiser danach. Wer so lange singt wie ich, hat Stimmbänder aus Leder!“ Deshalb hatte sie auch keine Mühe mit dem hysterischen Lachen und den Todesschreien der Klytämnestra.

Zwei weitere Charakterpartien aus späteren Jahren sind glücklicherweise auf Video dokumentiert: die Hexe in Hänsel und Gretel (in einer Met-Aufführung mit Judith Blegen und Frederica von Stade) und die Türken-Baba in der exemplarischen, von David Hockney, ausgestatteten Glyndebourne-Produktion.

Was in der Galerie ihrer Rollen-Portraits (2001!/ G. H.) noch fehlt, ist die Gräfin in Pique Dame. Und Menottis Medium. Wenn sie über ihre Pläne spricht, hat man den Eindruck, dass sie offen für vieles ist, die Dinge eher auf sich zukommen lässt, statt sie zu beeinflussen. Und man spürt auch, dass sie zu der Spezies von Bühnentieren gehört, die ihre Batterien nicht in Ruhephasen aufladen, sondern bei der Arbeit im Theater.

Thomas Voigt, renommierter Gesprächspartner vieler Diven, Musikjournalist, Musikmanager und bekannter Autor /Foto: Facebook

Bei den Proben zur Neuproduktion der Vanessa in Monte Carlo wurden natürlich auch Erinnerungen an die Uraufführung wach. Die Titelpartie (bei Kiri Te Kanawa in Monte Carlo eher ein Vorwand für samtige Töne, gutes Aussehen und schicke Kostüme) war 1958 mit Eleanor Steber besetzt, Gedda sang den Anatol, Mitropoulos dirigierte, Menotti führte Regie. Auch wenn sich Rudolf Bing zu dieser ersten Uraufführung seiner Amtszeit in seinen Memoiren eher ironisch geäußert hat („Cocktailparty-Erfolg“) – für Rosalind Elias sind es Erinnerungen an eine große Zeit. Sie sieht sich die alten Fotos an, blickt dann auf und lacht: „Dabei schaue ich nur selten zurück. Teresa Stratas und ich haben uns immer vorgestellt, dass uns eines Tages ein paar Opernfans zusammen in der Hotelhalle sitzen sehen und sagen: ‚Schaut, die schwelgen jetzt in alten Zeiten!‘ Und in Wirklichkeit reden wir über Kochrezepte!“ Thomas Voigt

 

(Texterfassung Daniel Hauser; Dank nochmals an den Autor und Rainer H- Nitschke vom Foto Forum, wo 2001 der Artikel von Thomas Voigt erschien; Foto oben Rosalind Elias als Amneris an der Met/ Foto Louis Melancon/ Met Opera Archive mit Dank!).

Barocke KANTATEN & Gesänge

 

Unter dem Titel Per la Sig.ra Geltruda hat PAN Classics Motetten und das Stabat mater für Alt-Stimme und Streicher von Antonio Vivaldi herausgebracht. Der Titel entspricht einer Angabe Vivaldis selbst, die er dem Manuskript seiner Solo-Motette „Clarae stellae, scintillate“ hinzugefügt hat, und das zu einer Zeit, in der die großen Kastraten dominierten. Dies hat natürlich die Neugier der Musikwissenschaftler herausgefordert, die die Identität dieser Geltruda vielfach hinterfragten. Inzwischen ist wohl geklärt, dass Geltruda della Violeta von 1684 bis 1752 in der Ospedale dalla Pietà (eines von vier Heimen in Venedig für Waisenmädchen) lebte, wo  Vivaldi bis 1718 zunächst als Kaplan, anschließend durchgängig als Lehrer für Streichinstrumente tätig war und zuletzt auch das Orchester leitete. Geltruda, die verschiedene Instrumente spielte, war eines der sechs Mädchen, die berechtigt waren, die Solostimmen wie die „Lehrer“ zu singen. Aus dem klugen, sehr aufschlussreichen Beiheft ergibt sich, dass die Sängerin, als sie einige Berühmtheit erlangt hatte, vom Marquis von Ferrara Luigi Bentivoglio d‘Aragona protegiert wurde, natürlich mit großer Diskretion. So war er es auch, der 1715 bei Vivaldi die für sie bestimmte, anfangs genannte Motette Clarae stellae, scintillate für 14 Lire in Auftrag gab. Der Korrespondenz zwischen Bentivoglio und dem Komponisten Giacomo Antonio Perti kann man entnehmen, dass Geltruda eine zarte Altstimme („assai delicata“) hatte, die durch Instrumente leicht überdeckt werden konnte. Dennoch soll sie sehr ausdrucksstark gewesen sein, die sich  besonders für „getragenen Stil“ geeignet habe. Dies wird in der Motette und in den wohl auch für Geltruda geschriebenen beiden Introduzioni al Miserere RV 638 und RV 641 deutlich, indem in der Führung der Solostimme virtuose Verzierungen fehlen, wie man sie in anderen Motetten Vivaldis findet. Das Stabat Mater wurde 1712 für die Kirche Santa Maria della Pace in Brescia in Auftrag gegeben; da es die gleiche Tessitura wie die für Geltruda geschriebenen Stücke aufweist, liegt die Annahme nahe, dass sie das Werk auch in Venedig aufgeführt hat.

Die in Italien in letzter Zeit vor allem im Konzertbereich bekannt gewordene Sängerin Alessandra Visentin  verfügt über einen volltimbrierten und zugleich schlanken, schön abgerundeten Alt, der sich für das Stabat mater und die Solo-Motetten aufs Feinste eignet. Das ausgezeichnete Ensemble Pietro Antonio Locatelli unter dem souveränen Luca Oberti begleitet durchweg stilgerecht und gestaltet zusätzlich zwei kleinere Instrumentalwerke von Vivaldi wirkungsvoll (PAN CLASSICS PC 10414). Gerhard Eckels

 

Neu bei Alpha: Jochanaan und Salome im Oratorium. Alpha setzt die systematische Pflege des barocken Repertoires mit der Herausgabe von Alessandro Stradellas Oratorium San Giovanni Battista fort, welches 1675 in der Kirche San Giovanni die Fiorentini in Rom uraufgeführt wurde (9748809). Der Komponist, 1643 in Bologna geboren, fiel 1682 im Alter von nur 40 Jahren in Genua einem Auftragsmord zum Opfer. In seinem Werk über Johannes den Täufer verbindet er auf geniale Weise die Tradition des römischen Oratoriums von Carissimi, mit dem er in der italienischen Hauptstadt freundschaftlichen Kontakt pflegte,  mit der venezianischen Oper Cavallis.

Die Musik ist von starker Erfindungskraft, weist faszinierende dramatische Effekte auf und erzeugt damit oftmals eine opernhafte Atmosphäre. Wenn in der Interpretation auch weniger die Bravour denn eine expressive Deklamation im Stil des recitar cantando gefordert ist, so finden sich in der Komposition dennoch anspruchsvolle legato-Passagen und schwierige Verzierungen.

Mit seinem Ensemble Le Banquet Céleste sorgt der Dirigent Damien Guillon für eine spannungsreiche Einspielung, die sich mit der bisher vorliegenden Aufnahme unter Alessandro De Marchi mit der Academia Montis Regalis bei hyperion messen muss. Die vibrierende Sinnlichkeit und der eindringliche Rhythmus der Musik sind überzeugend getroffen. Das Klangbild ist farbig, transparent und dynamisch.

Eine auf dieses Idiom spezialisierte Sängerbesetzung wird angeführt von dem Countertenor Paul-Antoine Benos-Djan in der Titelpartie, der mit weicher Stimme puren Wohlklang hören lässt. Wenn er zu Beginn seine arkadische Lebenswelt besingt und die Schönheit des Waldes beschreibt („Amichi selve“), ist sein schmeichelnder Ton besonders passend. Rhythmisch akzentuiert und souverän in der

Beherrschung der lebhaften Koloraturläufe erklingt „Soffin pur“. Danach nimmt die Stimme zunehmend einen berührend schmerzlichen Klageton an, gipfelnd im eindringlichen Todesschrei.

Olivier Dejean als Erode ist mit hellem Bass zu ihm ein starker Kontrast. Der  energische Nachdruck seines Vortrages steigert sich immer mehr ins Wildhafte. Seine Stieftochter (bei Richard Strauss später die Salome) ist hier Erodiade La Figlia. Alicia Amo lässt im ersten Auftritt einen sinnlichen Sopran mit kristallklarer Höhe von kapriziösem, beinahe somnambulem Ausdruck hören. Aber sie kann auch ganz mädchenhaft und lieblich klingen wie in „Sorde dive“ oder „Vaghe ninfe“ zu Beginn des 2. Teils. Später im Duett mit Erode („Freni l’orgoglio“) wird die Stimme zunehmend aufgeregter, artikuliert atemlos und fiebernd. In „Bramo sol“ schließlich hört man gehetzte, sich beinahe überschlagende Koloraturen und hysterische Spitzentöne. Ihre Mutter Erodiade La Madre ist Gaia Petrone mit strengem Mezzo, der in „Figlia se un gran tesoro“ zu energischen Koloraturen findet und sich im Terzett mit ihrer Tochter und dem Consigliero (Artavazd Sargsyan mit prägnant deklamierendem Tenor) perfekt mischt. Der Tenor Thibault Givaja als Discepolo komplettiert die Besetzung. Bernd Hoppe

 

Wer kennt schon Alessandro Melani? Aber wie oft hilft Wikipedia da weiter: Der von 1639 bis 1703 lebende Alessandro Melani entstammte einer Musikerfamilie aus Pistoia (Toskana). Seine sechs Brüder wurden allesamt Musiker; darunter waren vier Kastraten, deren berühmtester Atto Melani war. Alessandro war Kapellmeister an den Kathedralen von Orvieto, Ferrara, Pistoia und an der Papstbasilika Santa Maria Maggiore, der vom kurz zuvor gewählten Papst Clemens IX. bevorzugten Kirche. 1672 wurde er Kapellmeister an der römischen Kathedrale San Luigi dei Francesi, eine Position, die er 26 Jahre lang bekleidete. Melani war im 17. Jahrhundert neben Bernardo Pasquini und Alessandro Scarlatti einer der führenden Komponisten in Rom. Vor allem machte er sich einen Namen als Opernkomponist; seine Werke gelangten in vielen Städten Italiens, aber auch in Wien, zur Erstaufführung. Er war der erste, der die Legende von Don Juan und dessen Einladung an den „Steinernen Gast“ musikalisch verarbeitete und sie mit L’empio punito (Der bestrafte Bösewicht) auf die Bühne brachte (Teatro Colonna 1669). Außerdem zählen zu seinen Kompositionen acht Oratorien sowie drei Sammlungen von mehrstimmigen Motetten.

Aus dem dritten Band dieser Sammlungen sind jetzt bei Brilliant Classics 18 Concerti Spirituali herausgekommen, die das Ensemble I Musici del Gran Principe unter Samuele Lastrucci aufgenommen hat. Dieser sorgt mit seiner Leitung für gleichmäßig stilechtes Musizieren. Gut aufeinander abgestimmt präsentieren in jeweils wechselnder Besetzung die Sopranistinnen Benedetta Corti, Valentina Vitolo und Francesca Caponi , die Altistinnen Margherita Tani und Elisabetta Vuocolo sowie der Altist Vincenzo Franchini, der Tenor Francesco Marchetti und der Bass Alessandro Ravasio, begleitet von  Orgel, Harfe, Theorbe, Cello und Kontrabass, die Motetten für 2, 3 oder 5 Stimmen. Positiv fällt dabei das durchweg schlankstimmige, intonationsreine Singen auf, mit dem die mit allerlei Koloraturen und anderen technischen Schwierigkeiten versehenen Motetten ausgedeutet werden (BRILLIANT CLASSICS 95970/1+2, 2 CD).

 

Komponist und Gesangslehrer, zu dessen Schülern u.a. der Kastraten-Star Farinelli gehörte, hat neben seinen unzähligen Opern auch viele Kantaten für Singstimme und Basso continuo komponiert. Von denen hat Christina Grifone in Begleitung von Renato Criscuolo (Barockcello) und Alberto Bagnai (Cembalo) sieben aufgenommen, die bei BRILLIANT CLASSICS erschienen sind. Unter dem Titel der ersten Kantate der Aufnahme Dalla Reggia di Flora erklingen kleine Dramen über Glück und Last der Liebe vor dem Hintergrund von Blumen und blühenden Landschaften. Die italienische Sopranistin gefällt durch klare, schlanke Stimmführung in den vielen Arien, auf die jeweils Rezitative hinführen. Dabei ist oft einiges an Virtuosität erforderlich, mit der die Sängerin abgesehen von gelegentlichen Intonationstrübungen keine Probleme hat. Die instrumentale Begleitung ist durchweg stilsicher; auch hier überzeugt das stets durchsichtige Musizieren (BRILLIANT CLASSICS 96077).

Für Spezialisten, die die Musik im Übergang von der Renaissance zum Barock mögen, gibt es ebenfalls bei BRILLIANT CLASSICS überwiegend Instrumentalmusik, die das Ensemble Zenit, bestehend aus Gilberto Scordari (Orgel), Pietro Modesti (Cornetto) und Fabio De Cataldo (Barock-Posaune) aufgenommen hat. Es spielt Stücke von dem vor allem in Venedig wirkenden Komponisten Giovanni Legrenzi (1626-1690), teilweise unter Beteiligung der Altistin Isabella Di Pietro und des Tenors Roberto Rilievi. Bei den beiden Bläsern fällt positiv auf, dass es ihnen gut gelingt, auf den historischen Instrumenten die Intonation zu halten, was ja bekanntlich nicht selbstverständlich ist. In den einzelnen Sätzen aus Sonaten von Legrenzi passen die schlanken, ruhig geführten Stimmen der Sänger mit den Instrumenten bestens zusammen. Zwischen diese Stücke sind kleinere Werke allein für Orgel von Tarquinio Merula (1595-1665), Luigi Battiferri (1600-1682), Giovanni Paolo Colonna (1637-1695) und Carlo Francesco Pollarolo (1653-1723) eingestreut, die versiert präsentiert werden (BRILLIANT CLASSICS 96006).   Gerhard Eckels

 

Alessandro Scarlatti komponierte Vokalmusik in beeindruckenden Dimensionen: 114 Opern, 38 Oratorien, 13 Messen, 111 Motetten und 783 Kantaten werden ihm zugeschrieben, einiges davon wahrscheinlich auch fälschlich, in den Archiven könnten aber auch noch weitere Werke ruhen. Die Kantate war für Scarlatti auch Gelegenheit für Experimente, als Begründer der neapolitanischen Oper leistete er einen nicht zu unterschätzenden Beitrag – seine anspruchsvollen Kantaten haben also durchaus Aufmerksamkeit verdient und das stellt die vorliegende Neuaufnahme auch unter Beweis. Das Ensemble Scherzi Musicale widmet sich arkadischen Kantaten über Liebe und ihre Wirrnisse. Die titelgebende Kantate O penosa lontananza ist zweistimmig und ambivalent angelegt – der Sopran leidet unter der Abwesenheit des Geliebten, der Bariton ist froh über den Freiraum. Der Wechsel von Rezitativ und Arie ist ansonsten wie üblich für Solostimme und Basso Continuo, z.B. qualvoll in „Fiero acerbo destin“, verängstigt in „Imagini d’orrore“, verführerisch in „Sotto l’ombra d’un faggio“ oder poetisch in „Sovra carro stellato“. Melodie, Harmonik und Kontrapunkt – Scarlatti ist einfallsreich und kompositorisch abwechslungsvoll, die acht Musiker verleihen dieser Aufnahme stilistische Eleganz und einen warmen Klang und erreichen zusammen mit Sopran Deborah Cachet eine innige Interpretation voller Gefühl, bei der die Sängerin mit klarer, schön timbrierter Stimme eine Geradlinigkeit ausdrückt, die nie fad wird. Der Belgier Nicholas Achten ist Herz und Seele dieses Ensembles, er ist Dirigent, spielt Theorbe und Harfe und singt auch noch die Baritonrolle. Im informationsreichen mehrsprachigen Beiheft erklärt Achten, wie Francesco Gasparinis Abhandlung L’armonico practico al cimbalo von 1708 und das Konzept des Suonar pieno die Interpretation inspirierte. Eine stimmungsvolle Aufnahme, die Aufmerksamkeit verdient. (1 CD, Ricercar, RIC 396)

 

Auch für andere kleine Barock-Ensembles und junge Sänger scheint dieses Genre aktuell attraktiv, wie drei weitere engagierte Einspielungen mit Kantaten zeigen. Der in Neapel wirkende Franceso Nicola Fago (1677-1745) ist heutzutage nur noch wenigen Barockfreunden ein Name. Sechs Kantaten, die aus den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stammen dürften und sich an Alessandro Scarlatti und Domenico Sarro orientieren, liegen als Erstaufnahmen vor. Es handelt sich bereits um „Volume two“ der beim englischen Label Toccata Classics erscheinenden Cantatas and ariettas for solo voice and continuo. Die von Sabino Manzo dirigierte Capella Musicale ‚Santa Teresa dei Maschi‘ aus dem Aufnahmeort Bari klingt durch den Kirchenraum etwas zu hallig, doch mit Countertenor Riccardo Angelo Strano rückt sich ein junger italienischer Countertenor in den Mittelpunkt. Damit die Dauerkantatenbeschallung nicht zu monoton wirkt, sind fünf Toccaten für Solo-Cello von Franceso Paolo Scipriani dazwischen gestellt, die von Claudio Mastrangelo virtuos gespielt werden. (1 CD, Toccata Classics, TOCC 0437)

 

Auch beim Label Brilliant kann man sich in Erstaufnahmen neapolitanischer Kantaten vertiefen: Neapolitan Cantatas vereint Werke von Hasse, Mancini, Porpora und Porsile, die neben einer Stimme auch oft eine Flöte fordern und durch die kammermusikalische Besetzung mit Giuseppina Ledda (Flöte), Fabio Catania (Viola da gamba) und Pierluigi Morelli (Cembalo) musiziert werden. Es handelt sich um Werke für Flötenliebhaber, anderen mag die ungewohnte Flötenbegleitung auf die Dauer etwas einseitig vorkommen. Zu hören sind Hasses Passa da pena in pena, Francesco Mancinis „Filli mea, tu infidele“, Porporas „Freme il mar e col sussurro“ und ein anonymes „Non lasciarmi o belle spem“e. Giuseppe Porsiles drei Arien „La constanza con amore“, „E prigioniero questo mio amore“ und „Ho visto al pianto mio“ gehören nicht zu einer Kantate, sondern stammen aus  „In ritorno die Ulisse alla patria“, einer 1707 erfolgreich in Neapel aufgeführten Oper. Vor allem der junge italienische Countertenor Antonello Dorigo macht neugierig auf mehr. (1 CD, Brilliant, 95778)

 

Ebenfalls bei Brilliant kann man weltliche Kantaten von Cristofaro Caresana (1640-1709) entdecken. In Secular Chamber Cantatas musiziert das mit Cembalo (Paola Erdas), Cello (Alberto Guerrero) und Theorbe (Franco Pavan) besetzte Ensemble Démesure sieben Kantaten des überwiegend in Neapel tätigen Venezianers, der bereits vor Scarlattis Ankunft in Neapel 1683 das Genre prägte. Schon bei ihm ging es bukolisch zu, musikalisch gibt es Einflüsse durch Monteverdi und Venedig. Das 2006 gegründete, auf Kantaten spezialisierte Ensemble begleitet engagiert die Mezzosopranistin Juliette de Banes Gardonne, die mit ihrer sanften Stimme den Zuhörer in ihren Bann zu ziehen vermag. (1 CD, Brilliant, 95923) Marcus Budwitius

So fundiert wie spannend

 

Einmal aufgeschlagen, möchte man es nicht mehr aus der Hand legen, die 450 Seiten in einem Zug lesen, von der dritten und sowohl überarbeiteten wie erweiterten Ausgabe von Herbert Haffners Wilhelm Furtwängler – Im Brennpunkt von Macht und Musik (im Wolke Verlag). Gleichermaßen Intellekt wie Gefühl fordert diese einmalig informationsreiche wie aufwühlende Geschichte des „Jahrhundertdirigenten“, dessen Tragik nicht zuletzt darin lag, dass er sich in erster Linie als Komponist sah, der dazu zerrissen wurde von dem Konflikt, in Nazideutschland durch sein Bleiben und Wirken die deutsche Kultur, vor allem vertreten durch die Musik, zu repräsentieren und damit zu retten, und der gerade durch diese Entscheidung sich nach dem Krieg schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt sah. Dem Verfasser ist diese Tragik bewusst und sie wird dem Leser verdeutlicht, wenn am Schluss des Buches davon berichtet wird, dass auf dem Grabkranz der Berliner Philharmoniker der verhasste Name Karajan steht und sein Nachfolger als Träger des Ordens Pour le mérite ausgerechnet Thomas Mann wird, der ihn unbarmherzig wegen seines Bleibens in Deutschland verfolgte. Nicht besser sieht es für Furtwängler gleich zu Beginn des Buches aus, wenn der Autor mitteilt, dass noch 2004 die zum 50. Todestag geplante Aufführung von Furtwänglers Te Deum am Einspruch von UNESCO-Delegierten scheitert. So erscheint sein gesamtes Leben und Wirken quasi eingerahmt in die Äußerungen bösartigen oder schlecht informierten Missverstehens seines Anliegens, sich zum Sachwalter dessen zu machen, was er nicht nur durch die Nazis, sondern auch später noch, so durch amerikanische Unkultur, gefährdet sah.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat und einem Hinweis auf seinen Inhalt. Dem Leser wird bereits in der Schilderung von Kindheit und Jugend deutlich, wie schwer es Furtwängler haben wird, nicht nur wegen der Widersprüchlichkeiten in seinem Charakter, die der Autor nicht nur berichtend schildert, sondern die, wie im weiteren Verlauf in allen Lebensbereichen, durch Zeugnisse von Zeitgenossen und Weggefährten, aber auch durch eine Unzahl  von Selbstzeugnissen verdeutlicht werden. Dabei verhält sich Haffner „neutral“, ist objektiver Berichterstatter, erweckt aber doch im Leser nicht nur ein zunehmendes Interesse, sondern auch ein immenses Mitgefühl mit dem sich immer wieder auf Grund seiner Naivität, manchmal auch seiner verletzten Eitelkeit in Schwierigkeiten bringenden Dirigenten. Der Autor urteilt nicht vom hohen Ross des besserwissenden Spätgeborenen her über die tragischen Verstrickungen, sondern ermöglicht es dem Leser, gerade weil eine Fülle von Quellen herangezogen wird, ein mitfühlendes Urteil über den Künstler zu fällen, der glaubte, die Nazis manipulieren zu können, während diese dasselbe mit ihm vorhatten.

Plastisch wird die Jugend Furtwänglers geschildert, seine besonderen Gaben, das Aufwachsen ohne Mitschüler, weil die Erziehung früh ganz auf die Musik ausgerichtet wird, die große Rolle, die Sexualität für den jungen wie den älteren Furtwängler spielt, seine Anfänge in Breslau, Straßburg, Lübeck, Mannheim. Seine ausufernden Bewegungen beim Dirigieren wie seine Schwierigkeiten mit der zunehmenden Schwerhörigkeit sind ebenso Thema wie eine Gegenüberstellung mit Toscanini, der ihn unbarmherzig auch noch verfolgt, als lange nach dem Krieg ein Gastspiel in Chicago oder an der Scala geplant ist.

Das unheimliche Arbeitspensum erschreckt den Leser , Leipzig, Wien, Berlin mit ihren Starorchestern sind seine Wirkungsorte, zunächst viel moderne Musik auf dem Konzertplan, ehe er vor allem Beethoven-, Brahms-, Wagnerdirigent ist. Hin- und hergerissen ist er von Furtwänglers Bekenntnis zur tonalen Musik und bei aller Sachlichkeit der Darstellung entfaltet das Buch eine zunehmende Sogwirkung auf ihn und lässt ihn nicht mehr los.

Bereits aus anderen Büchern kennt man die Geschichte des Berliner Kulturlebens in Nazideutschland. Hier wird es noch einmal äußerst interessant und faktenreich dargestellt, werden die verzweifelten Versuche Furtwänglers, jüdische Musiker zu schützen ebenso aufgeführt wie die eigentlich lächerlichen, mit denen er den Hitlergruß zu umgehen versucht. Die Briefwechsel des Künstlers mit den Nazipotentaten wie Goebbels oder Göring sind aufschlussreichste Dokumente.

Die Fragwürdigkeit der amerikanischen Entnazifizierungsmethoden wird am Beispiel Furtwängler deutlich, wenn der Leser erfährt, dass sein Verfahren nur deswegen immer wieder verzögert wurde, weil ein im Gefolge General Clays nach Deutschland gekommener amerikanischer Musiker nach des Dirigenten Stellung bei den Berliner Philharmonikern gierte. Furtwänglers Geisteshaltung spiegelt sich in seiner Argumentation für die deutsche und gegen die ihm angebotene österreichische Staatsbürgerschaft wider: er wolle Deutschland in seiner schweren Stunde nicht allein lassen.

Gründlich, kenntnis- und aufschlussreich werden zwei „Fälle“, die des Eintretens  für Hindemith und des Artikels „Das Wunder Karajan“ von Edwin von der Nüll beschrieben, anders als viele andere Autoren weiß der Verfasser um die allgemeine Verbreitung eines diffusen Antisemitismus nicht nur in der deutschen Gesellschaft. Mit Rührung nimmt der Leser den Einsatz Menuhins für den verfemten Furtwängler zur Kenntnis wie auch die ewige Dankbarkeit Barenboims, der ihm als 11jähriger vorgestellt wurde.

Für die Auseinandersetzung um die Rückgabe ehemaliger Besitztümer an die Hohenzollern aufschlussreich sein könnte die im Buch dokumentierte Aussage eines Prinzen , der die Sekretärin des Dirigenten als „Judensau“ bezeichnete, für die Haltung der Nazis gegenüber Furtwängler Goebbels‘ er habe „Furtwängler zerbrochen“.

Die Fülle von Tatsachen, Quellen, Meinungen, Zitaten ist einfach überwältigend und in einer Kritik nur andeutungsweise zu übermitteln. Und eindeutiger als es jede Rezension sein kann, ist ein Zitat wie „So wird er in seinem Durchhalten in Deutschland- das Ideal einer deutschen Musik stets vor Augen- eben tatsächlich ein Aktivposten der NS-Kulturpolitik und zahlt dafür den Preis, mit ihr verquickt zu werden“ und man teilt mit Auréle Nicolet die Meinung:“Furtwängler war nie ein Opportunist. Furtwängler war ein Utopist“. „Wehrlose Weltfremdheit“ wird ihm attestiert.

Weniger aufregend, aber nicht minder genau recherchiert und erhellend ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Furtwängler und Walter Legge. Umso berührender das Bemühen von Boleslav Barlog um das angeblich nicht vorhandene Papier, das man braucht, um Furtwängler endlich zu einem Entlastungsurteil zu verhelfen.

Man könnte noch seitenlang seiner Begeisterung Ausdruck verleihen über dieses kenntnisreiche, ideologiefreie, den Leser zwar in seinen Bann ziehende, ihn aber nie indoktrinierende Buch.

Es  genügt nicht nur- so durch einen umfangreichen Anhang- höchstem wissenschaftlichem Anspruch, sondern ist zugleich spannend wie der beste Kriminalroman und dazu noch ein würdiges Denkmal für einen großen Künstler und unglücklichen Menschen( 455 Seiten Wolke Verlag 2020; ISBN 978 3 95593 046 2). Ingrid Wanja 

Oper über Miklós Radnóti

 

Hintergrund und Inhalt sind bewegender als die Oper, die Tom Cipullo in guter Absicht daraus gemacht hat. Es geht um den ungarischen Dichter Miklós Radnóti, einen assimilierten Juden („Ich fühle mich nicht als Jude… Wenn ich mit einer Religion überhaupt etwas im Sinn habe, dann mit dem Katholizismus“), der, um sich keinen Vorteil zu verschaffen, auf die Konversation zum Katholizismus verzichtete. Wie die Dichter Antal Szerb, Gabor Halász, György Bálint und mehr als eine halbe Million ungarischer Juden wurde Radnóti Opfer des Holocaust: zusammen mit 21 Mithäftlingen wurde der 35jährige am Ende eines Gewaltmarsches in der Nähe von Györ und der österreichischen Grenze erschossen. 1946 wurde das Massengrab exhumiert, wobei Radnótis letzte Gedichte gefunden wurden, die heute in keiner Anthologie moderner ungarischer Dichtung fehlen, vergleich der Todesfuge Celans in einer deutschen Sammlung. Radnóti wurde zur moralischen Instanz. Das Todesbewusstsein war für Radnóti, der dem von Söldnern getöteten spanischen Kollegen Federico Garcia Lorca seine erste Ekloge widmete und dessen Weggefährte der ungarische Dichter József Attila war, der sich 1937 vor den Zug geworfen hatte, Bestandteil seines Schaffens.

Der New Yorker Komponist Tom Cipullo (*1956), zu dessen bekanntesten Lehrern David Del Tredici und Thea Musgrave gehören, beschreibt in seiner Oper The Parting Radnótis letzte Nacht mit seiner Frau Fanni bevor er wieder zum demütigenden Arbeitsdienst musste. Dem Paar war bewusst, dass es sich vielleicht nie wiedersehen würde. Fanni blieb in der gemeinsamen Wohnung. Sie starb mit 102 Jahren 2014. Fünf Jahre später erinnern Tom Cipullo und David Mason zu dessen 75. Todestag an den hierzulande und vermutlich auch in den USA unbekannten ungarischen Dichter. Cipullos Oper The Parting, (World Premiere Recording Naxos 8.669044), zu der Mason unter Verwendung von Gedichten, die Radnóti bis zuletzt in ein kleines Büchlein schrieb, das Libretto verfasste, widmet sich diesem Abschied, bei dem neben Miklós (Bariton) und Fanni (Sopran) durchgehend der Tod (Mezzosopran) gegenwärtig ist.

Gelegentlich blickt die undramatische Handlung in den 13 Abschnitten auf das Ende voraus,  konzentriert sich aber vor allem auf die Beziehung der in unendlicher Liebe verbundenen Miklós und Fanni, in der Fanni, die großes Verständnis und Geduld für sein Schaffen aufbringt, häufig auch zurückstehen muss. Lapidar und zynisch liefert der Tod seine Kommentare, „You never have to look far to see that for some, evil is right next door“.  Cipullos neoromantisch, lyrisch sentimentale Musik erlaubt es Michael Mayes sich als Miklós in schwärmerisch breiten und intensiven Bögen von sämiger Schönheit zu entfalten und gibt Laura Stricklings Fanni wiederkehrende melodische Abschnitte von einiger Lieblichkeit; Catherine Cooks Mezzo ist recht unruhig, was dem Tod gut ansteht. Cipullo hält das von Alastair Willis dirigierte Quintett aus Flöte, Klarinette, Violine, Cello und Klavier mit einer abwechslungsreich sprechenden Musik auf Trab, die die Stimmungen und die Melancholie einzufangen versucht. Das ist alles gut gemeint. Wirkt aber als Gegenstück etwa zu Erkki-Sven Tüürs Budapester Holocaust-Oper Wallenberg doch wie ein literarisch-musikalisches Volkshochschul-Projekt. Auftraggeber war die in Seattle ansässige Organisation Music of Remembrance „dedicated to remembering the Holocaust through music with conert performances, educational programs, recordings and commisions of new works“.   Rolf Fath