Archiv für den Monat: Oktober 2019

A View from the Podium

 

Eve Queler, berühmte Dirigentin des Belcanto und mehr mit ihrem legendären Opera orchestra of New York, aber auch Leiterin vieler Opernorchester in Europa, Südamerika und den USA, hat die Summe ihres langen musiklebens in einem Buch zusammengefasst: A view from the Podium im xlibris-Verlag (Xlibris Corp; ISBN: 9781984566836). Eine Rezension folgt.

Barnes & Nobles schreibt in ihrer Ankündigung: From humble beginnings as a student of music in the Bronx to the founding of one of New York City’s iconic performing arts organizations, Eve Queler ventured into the male-dominated world of orchestral conducting in the 1960s when there were few, if any, women in the field. She soon found herself invited to guest conduct orchestras and opera companies all over the world. With the Opera Orchestra of New York, she conducted over 100 highly praised, successful performances at the great Carnegie Hall to sold-out audiences and standing ovations. This is the story of her struggles and determination to enter the field, along with the accomplishments, support, and recognition she encountered along the way.

SEIT ZEHN JAHREN AUF ENTDECKUNGSKURS

 

Als sich im Oktober 2009 die Tore des Palazzetto Bru Zane nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten für die Öffentlichkeit öffneten, wurde eine Institution mit dem Auftrag geboren, einen wichtigen Teil des musikalischen Repertoires zu erforschen: die Musik des langen 19. Jahrhunderts (1780-1920), die zu einem großen Teil vergessen und bis heute unterschätzt wird. Der kleine Palazzetto wurde zu einem idealen Laboratorium für die Auswahl, Planung und Einspielung der Werke Hunderter von Komponisten. Die Epoche der Romantik wird hier so umfassend wie möglich erkundet: von den Neuerern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (und Gründern des Pariser Konservatoriums) bis zum Ende des Lebenswegs jener Komponisten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Nachfolge von Camille Saint-Saens und Jules Massenet standen. Unter ihnen befinden sich Reynaldo Hahn und André Messager, die wichtige Perspektiven auf die Moderne öffneten.

„The french romantic experience“ – 10 CDs mit Ausschnitten aus den Produktionen des Palazetto

Die Forschung widmete sich abwechselnd wenig beachteten Komponisten, großen Werken, die dem Vergessen anheim fielen, und unbekannten Seiten berühmter Komponisten wie Jacques Offenbach, Paul Dukas, Charles Gounod, Edouard Lalo etc. Eklektizismus als Methode ist gewollt, ohne Voreingenommenheit, wobei ebenso historische Instrumente und historische Aufführungspraxis wie moderne Künstler und Orchester mit einer traditionelleren Herangehensweise zum Zuge kommen sollen. Jede Gattung ist willkommen, keine wird als zweitrangig betrachtet: Lied, Kantate, Sinfonie, Kammermusik und Tragédie lyrique bekommen die gleiche Aufmerksamkeit. Insbesondere Operette, Musical und Cafe-Concert-Chansons erfahren eine neue Wertschätzung.

Zur Dokumentation der zehnjährigen Entdeckungsreise veröffentlicht die Stiftung Palazzetto Bru Zane eine 10-CD-Box mit Ausschnitten aus einigen der Werke, die wir ans Licht gebracht haben: Operette, Tragédie lyrique, Kammermusik, Sinfonik, Lied, Oper, Konzert, Kantate und geistliche Musik aus der Zeit zwischen 1780 und 1920 werden präsentiert und eröffnen ein weites musikalisches Spektrum. Diese Box beinhaltet auch Aufnahmen, die seit 2009 in Zusammenarbeit mit Partnerlabeln der Stiftung Palazzetto Bru Zane verwirklicht wurden. Veröffentlichung: September 2019: Werke von Massenet, Dukas, Godard, Saint-Saens, Halévy, Méhul, Dubois, Boulanger, Gounod, Offenbach, Spontini …

Mit Marc Minkowski, Hervé Niquet, Francois-Xavier Roth, Christophe Rousset, Diana Damrau, Veronique Gens, Marie-Nicole Lemieux, Charles Castronovo, Bertrand Chamayou, Xavier Phillips… Palazetto Bru Zane

Umberto Grilli

 

Mit Bedauern hörten wir vom Tode des italienischen Tenors Umberto Grilli am 30. September 2019, den ich noch gut aus Edinburgh 1972 erinnere, wo er neben Leyla Gencer eine der beiden Tenorrollen in Rossinis Elisabetta sang (die Nozzari-Partie des Leicester; wie auch 1970 auf dem Mitschnitt aus Palermo) – eine elegante Erscheinung mit einer markanten, typisch italienischen und gut geführten Stimme, ein tenore di grazia mit Charakterfarbe, ungemein versiert in den geforderten Koloraturen, aber auch kraftvoll in frühen Verdi-Opern. Wie seine Kollegen Lazzari oder Monti ein Vertreter einer ausgestorbenen Spezies, wie man sie in der Multi-Tenor-Oper Otello von Rossini antrifft, den er ja auch gesungen hat. Wieder ist eine der Sängersäulen meiner langen Opernreise weggebrochen – was mich an die Vergänglichkeit des Sänger-Pantheons meiner Erinnerungen gemahnt. G. H.

 

Umberto Grilli als Alamiro in Donizettis „Belisario“ am Teatro La Fenice/ Künstlerfoto

Zu seiner Vita ein Ausszug aus dem unersetzlichen Opern-Lexikon von Kutsch/ Riemens: Grilli, Umberto, Tenor, * 4.9.1934 Pavia; er wollte ursprünglich Bildhauer werden, studierte dann aber bei Adelaide Saraceni in Mailand Gesang. Er begann seine Karriere 1957 im Baritonfach am Teatro Politeama von Genua in der Rolle des Silvio im »Bajazzo«. 1959 debütierte er dann als Tenor am Teatro Nuovo Mailand in der Titelpartie von Mascagnis »Amico Fritz«. Er kam bald an den führenden italienischen Theatern zu großen Erfolgen. Man hörte ihn an der Mailänder Scala, an der Oper von Rom, in Triest, Venedig, Turin, Parma, Palermo, bei den Festspielen von Florenz (Maggio musicale) und in den Thermen des Caracalla in Rom. Weltweite Gastspiel- und Reisetätigkeit mit Auftritten an den Staatsopern von Wien und Hamburg, am Théâtre de la Monnaie Brüssel und an der Oper von Monte Carlo, am Teatro Colón Buenos Aires, an den Opern von Dallas und Philadelphia, an den Nationalopern von Warschau und Bukarest, in Amsterdam, Lyon, Bordeaux, Nizza und Toulouse. 1985 gastierte er beim Festival von Ravenna als Herzog im »Rigoletto«. Bei den Festspielen von Edinburgh und Bregenz wie überhaupt bei seinen Auftritten erwies er sich als bedeutender Interpret der schwierigen Belcanto-Partien in den Opern von Rossini, Bellini und Donizetti. 1963 sang er beim Holland Festival, 1964-65 bei den Festspielen von Glyndebourne in Rossinis »La pietra del paragone«.

Schallplatten: Melodram (»Le Pescatrici« von J. Haydn, »Stiffelio« von Verdi), MRF (»Maria di Rohan« von Donizetti, Mitschnitt einer Aufführung aus Venedig, 1974), BRF (»Elisabetta Regina d’Inghilterra« von Rossini), Italia (»Oberto« von Verdi), Haydn Foundation-Records.

[Nachtrag] Grilli, Umberto; Partien aus seinem Repertoire für die Opernbühne: der Percy in »Anna Bolena« von Donizetti, der Roberto in »Maria Stuarda« vom gleichen Meister, der Rodrigo in »La Donna del lago« von Rossini, der Ernesto im »Don Pasquale«, der Rodolfo in »La Bohème«, der Cavaradossi in »Tosca«, der Pinkerton in »Madama Butterfly« und der Gérald in »Lakmé« von Delibes. – Schallplatten: Mondo Musica (Enzo in »La Gioconda«, Teatro Fenice Venedig 1971; [Lexikon: Grilli, Umberto. Großes Sängerlexikon, S. 9511 (vgl. Sängerlex. Bd. 2, S. 1407; Sängerlex. Bd. 6, S. 347) (c) Verlag K.G. Saur]

 

Max Lichtegg

 

Auf den Tenor Max Lichtegg bin ich vor Jahren durch ein Foto gekommen. Es zeigt ihn als Lohengrin. Ein schöner junger Mann mit blonden Locken. Ja, so hatte ich mir meine liebste Gestalt von Wagner immer vorgestellt, die in einem Nachen von einem Schwan gezogen angefahren kommt, um der bedrängten Elsa in höchster Not beizustehen. Das Foto stammt aus einer Inszenierung der Wiener Staatsoper von 1949. Mein erster Bühnen-Lohengrin in Weimar, wo die Oper bekanntlich uraufgeführt worden ist, war einen Kopf kleiner als seine Elsa, dunkelhaarig und neigte zur Fülle. Stimmlich machte er durchaus etwas her. Ich erinnere mich an einen leichten italienischen Einschlag. Wie mag nun Lichtegg geklungen haben? Es ist keine Aufnahme und kein Mitschnitt überliefert. Das ist schade, zumal es in London Pläne für Szenen im Studio gab. Erstmals hatte Lichtegg den Lohengrin 1944 in Zürich gesungen. Kritiker konnten und wollten sich den Tenor, der in Operetten und Mozart-Opern beschäftigt war, in dieser Rolle nicht vorstellen. Schließlich kam die Neue Zürcher Zeitung zu dem Schluss: „Die unerquicklichen und teilweise wenig taktvoll geführten Diskussionen um unseren neuen Lohengrin scheinen dem Publikumszuspruche keineswegs geschadet zu haben. Sämtliche Wiederholungen waren bis jetzt ausverkauft, und an begeisterten Dankeskundgebungen fehlte es ebenso wenig.“ Lichtegg sei „sehr erfreulich in die anspruchsvolle Titelpartie hineingewachsen und hält sie nach wie vor über die Gralserzählung hinaus bewundernswert durch bis zur letzten Note“. Mit monatelanger Unterbrechung folgte in Basel, schließlich 1947 Bern, wo ein amerikanischer Agent auf ihn aufmerksam wurde, dessen Interesse ursprünglich Marko Rothmüller galt, der den Heerrufer gab. Die Folge war ein Vertrag für die USA, wo vier Konzerte zu absolvieren waren. Ein Auftritt als Lohengrin an der Mailänder Scala scheitert daran, dass Lichtegg die Rolle nicht – wie damals an diesem Haus üblich – auf Italienisch beherrschte.

Mit einem Umfang von 560 Seiten ist die Biographie von Alfred A. Fassbind im Römerhof Verlag Zürich erschienen (ISBN 978-3-905894-31-8).

All diese Fakten hat der Schweizer Sänger und Musikschriftsteller Alfred A. Fassbind in seinem Buch Max Lichtegg – Nur der Musik verpflichtet zusammengetragen. Mit einem Umfang von 560 Seiten ist es im Römerhof Verlag Zürich erschienen (ISBN 978-3-905894-31-8). Es folgt dem klassischen Muster einer Biographie, beginnt mit Schilderungen des sozialen Umfeldes in Buczacz, einer Kleinstadt in Galizien, wo Lichtegg nach offiziellen Angaben am 17. Januar 1910 als Sohn Munio des jüdischen Hutfabrikanten David Lichtmann geboren wurde und endet mit dem plötzlichen Tod des Sängers am 22. September 1992 in Zürich. Als der Junge drei Jahre alt war, zog die Familie nach Stanislaw, die Gebietshauptstadt, wo im Gefolge des Ersten Weltkriegs das Anwesen der Eltern – der Vater war bereits gestorben – niedergebrannt wurde. Dabei kamen auch die Mutter und der jüngere Bruder Benjamin ums Leben. Verloren gingen auch alle Dokumente und Nachweise, sodass das Geburtsdatum später amtlich festgesetzt wurde. In Wien fand das Waisenkind 1919 Aufnahme bei einem Onkel. Im Knabenchor der Synagoge fiel sein Stimme auf. Damit war der Weg in seine künstlerische Laufbahn vorgegeben. Nach dem Tod des Onkels bezog er 1929 die Universität als Student der philosophischen Fakultät, verfolgte nebenbei aber zielstrebig seine musikalischen Interessen und nahm Gesangsunterricht. Der renommierte Pädagoge Victor Fuchs verschaffte ihm einen kostenlosen Platz in seiner Klasse. Aus Munio Lichtmann wurde Max Lichtegg. Unter diesem Künstlernamen debütierte mit seiner ersten Opernrolle bei einer Werbevorstellung der Gesangsschüler als Almaviva in Rossinis Barbier von Sevilla. Im Buch findet sich sogar der Programmzettel wieder.

Die CD-Edition bei Andromeda gibt einen Überblick über das musikalische Schaffen des Tenors. Auf dem Cover ist er als Lohengrin zu sehen. 

Dieserart ist die dokumentarische Fülle. Man muss lange nach einer vergleichbaren Biographie suchen, die so in die Einzelheiten geht, dabei aber nicht bei der Hautperson verharrt. Im Umkreis von Lichtegg begegnen den Lesern die großen und weniger großen Namen der Zeit. Georg Solti und Lisa Della Casa müssen unbedingt genannt werden. Der ungarische Emigrant Solti lebte bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz, wo er sich auch als Pianist betätigte und Lichtegg 1946 bei der Schöner Müllerin in der Tonhalle in Zürich begleitete. Fassbind hat die Kritiken aufgetan, in denen dieser Liederabend regelrecht nachklingt. In einer dem Tenor gewidmeten CD-Edition, die beim Label Andromeda erschienen ist (ANDRCD 9127), wird diese Zusammenarbeit, die leider keine nachhaltige Fortsetzung fand, mit den Schubert-Liedern „Abschied“ und „In der Ferne“ von 1947 für die Decca belegt. Zeugnis der kurzen künstlerischen Partnerschaft mit der schon damals unverkennbaren Lisa Della Casa legt das Duett „Tat ich dir weh, verzeih‘ mir“ aus der Operette Tic-Tac von Paul Burkhard ab, der beide am Pult des Studio Orchesters von Radio Zürich auch begleitete.

Lisa Della Casa als Gräfin und Max Lichtegg als Flamand in Capriccio von Richard Strauss 1954 am Opernhaus in Zürich/ Foto Andromeda

Statt Lichtmann also Lichtegg. Nomen est omen. Für mich leuchtet die Stimme hell. Als habe sie Licht gespeichert. Sie verbreitet Wohlklang, Eleganz und Geschmeidigkeit. Es tut gut, ihm zuzuhören. Er bohrt nicht in der Tiefe, scheut Misstöne, um einem Gedanken dramatischen Nachdruck zu verleihen. Das brachte ihm den Vorwurf von Melomanen ein, zu oberflächlich zu agieren, zu unbeteiligt, zu gut gelaunt. Vieles klinge immer gleich. Ich kann diese Einwände sogar nachvollziehen, teilen möchte ich sie nicht. Denn dann müsste ich das, was ich als eine seiner Stärken empfinde, in Schwäche ummünzen. Lichtegg hat nicht das kräftigste Organ. Auch wenn er den Lohengrin bis zum Schluss mühelos durchstand, stellt sich eine gewisse Empfindlichkeit und Verletzlichkeit ein. Mir scheint, er hätte noch mehr an seiner Technik arbeiten können, um die Höhe, die gelegentlich aufgesetzt wirkt, zu stabilisieren. Man gewinnt manchmal den Eindruck, als habe er sich zu sehr auf seine Naturstimme verlassen. An Talent und Begabung gebrach es nicht. Damit war er überreich gesegnet. Immer wieder rühmen Kritiker seinen schwebenden und beseelten Vortrag. Das Timbre hat einen hohen Wiedererkennungswert und erinnert an Richard Tauber, der – wie zu lesen – sein Idol war, Josef Traxel und Karl Friedrich, die dasselbe Repertoire sangen wie er – neben Oper und Lied auch Operette.

In der ersten deutschsprachigen Aufführung von Igor Strawinskys „The Rake‘s Progress“ im Jahr 1951 in Zürich war er der Tom Rakewell/ Foto Andromeda

Sowohl das Buch als auch der akustische Nachlass vermitteln anschaulich, wie breit dieser Sänger aufgestellt war. Alfred A. Fassbind hat auch das Vorwort im Booklet der Andromeda-Edition beigesteuert und dürfte auch selbst an der Zusammenstellung maßgeblich beteiligt gewesen sein. Dadurch ist ein direkter Zusammenhang mit seinem Buch gegeben. Schon bei der Lektüre kam es mir vor, als würde Musik aus den Seiten erklingen, so plastisch sind die Beschreibungen und viele der ausführlich zitierten Kritiken. Damals konnten deren Verfasser noch Stimmen beschreiben. Gäbe es keine Tondokumente, der interessierte Musikfreund hätte zumindest eine Vorstellung von der Stimme Lichteggs gewonnen. Nun ist zum Glück kein Mangel an Aufnahmen, auch wenn der undankbare Sammler gern gerade das vermisst, was es nicht gibt. Wie den Lohengrin. Dass Lichtegg Wagner singen konnte, vermittelt die große Schlussszene aus dem ersten Aufzug der Walküre, beginnend mit „Ein Schwert verhieß mir der Vater“. Mitgeschnitten wurde sie am 14. Dezember 1947 beim USA-Gastspiel im kalifornischen Escondido. Die Tonqualität der Radioübertragung mit der originalen An- und Absage ist im Großen und Ganzen superb. Sieglinde wird von Rose Bampton, die in dieser Partie sehr gefragt war, betont energisch gesungen. Dirigent Alfred Wallenstein schlägt mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra ein geruhsames Tempo an, so dass beide Solisten alle Zeit der Welt haben, die berühmte Szene musikalisch genau und absolut textgetreu auszubreiten.

Georg Solti begleitete Max Lichtegg in Zürich bei Liederabenden/ Foto Andromeda

In den starken Eindruck mischt sich die Klage darüber, dass nicht mehr Wagner mit Lichtegg überliefet ist. Dafür gibt es in der Box Hoffmanns Erzählungen, Frau Diavolo, Verkaufte Braut, Freischütz, Zauberflöte und Don Giovanni – wenn auch nicht durchweg in perfektem Klang. Mozart war für Lichtegg von zentraler Bedeutung. Er sei „Balsam für die Stimme“, wird er zitiert. Selbst im Alter von 76 Jahren überraschte der Sänger noch mit der vom Klavier begleiteten Bildnis-Arie, die auch in der Box zu finden ist. „Nicht zufällig fand er als Tamino-Interpret die größte Anerkennung, und keine seiner 120 Partien hat er länger im Repertoire behalten“, so Biograph Fassbind. Seltenheitswert besitzt der Auftritt als Schujskij 1955 in Monte Carlo neben Nicola Rossi-Lemeni als Boris Godunow unter der Leitung von Otto Ackermann. Der hatte die Oper zuvor in Zürich dirigiert und bestand darauf, dass Lichtegg auch diesmal dabei war.

Von Gastspielreisen unterbrochen blieb Zürich für den Familienmensch, der die Geborgenheit schätzte, zentrale Wirkungsstätte, wo er nach Angaben des Buchautors zwischen 1940 und 1956 als festes Ensemblemitglied 44 Opernrollen gestaltete, darunter bemerkenswert viele zeitgenössische Komponisten wie Schoeck, Hindemith, Menotti und Henze. In der ersten deutschsprachigen Aufführung von Igor Strawinskys The Rake‘s Progress im Jahr 1951 war er der Tom Rakewell. Noch mehr als fünfundzwanzig Jahre später sang er die Szene „Hier steh“ – wie ein privater Mitschnitt mit Klavierbegleitung in der Box verdeutlicht – mit erstaunlicher Sicherheit. Fassbind folgt seinem Sänger auf allen Stationen, als sei er selbst dabei gewesen, und lässt auch diskrete Einblicke in persönliche Ereignisse zu. Mit ordnender Hand fügt er die Fülle des Materials zu einer reich bebilderten Beschreibung einer Lebensreise zusammen, auf der sich Leser mitgenommen fühlen können.

Max Lichtegg als Lohengrin mit Monika Huber als Elsa bei einer Aufführung der Oper 1943 in Zürich/ Foto Andromenda

Das Buch endet mit einem akribischen Rollenverzeichnis und einer Diskographie. 59 Opernrollen stehen 67 Rollen in Operetten gegenüber. Beide Seiten halten sich in etwa die Waage. Im Opernblock dominiert Mozart auch bei internationalen Gastspielen mit Tamino, Don Ottavio, Belmonte und Idomeneo. Ferrando ist lediglich mit einem Auftritt 1956 in Straßburg verzeichnet. Vergleichsweise oft sang er den Hans in der Verkauften Braut, den Alfred in der Traviata, den Herzog im Rigoletto und den Fenton im Falstaff. Sogar Don Carlos ist 1939 in Basel dokumentiert. Als Max im Freischütz war er ebenfalls in Basel und in Monte Carlo zu hören. Lohengrin sang auch an der Wiener Staatsoper, wo er in zwölf verschiedenen Werken insgesamt fünfundzwanzigmal gastierte. Den Stolzing in den Meistersingern hatte er zwar für Amerika studiert, letztlich aber nicht realisieren können. Bei den Operetten dominiert Franz Lehár mit Sou-Chong in Land des Lächelns, Goethe in Friderike, Paganini und Alexej in Zarewitsch. In Strauß-Operetten ist Lichtegg ebenfalls sehr umtriebig gewesen, so als Eisenstein in der Fledermaus, Herzog Urbino in der Nacht in Venedig und Barinkay im Zigeunerbaron.

Das Studium der Diskographie ergibt eine deutliche Diskrepanz zwischen Oper und Kunstlied auf der einen und so genannter heiterer Muse auf der anderen Seite. Es dominiert die leichte Kost. Fassbind hat insgesamt 257 einzelne Titel nachweisen können. Gesamtaufnahmen sind nicht dabei, lediglich einige Querschnitte wie durch Lehárs Lustige Witwe von 1951 (Decca) sowie ein Jahr später durch Kálmáns Gräfin Mariza und Benatzkys Weißes Rössl (Elite). Gemessen an der Diskographie würde Max Lichtegg als Operettenstar und Unterhaltungskünstler in die Musikgeschichte eingehen. Das würde ihm nicht gerecht. Und er hat auch selbst immer wieder gegen diese Image angesungen, das die Aufgaben, die ihm schon frühzeitig übertragen worden waren, mit sich brachten. Dennoch kommt mir es so vor, als habe die lebenslange Tätigkeit im leichten Fach auch sein Wirken auf der Opernbühne und als klassischer Liedsänger stimmlich nachhaltig geprägt. Wer sich davon ein Bild machen möchte, greife zum Auftrittslied des Boccaccio. Es ist, als ob Lichtegg beim Singen den Text diktiert. So genau und pointiert singt er. Wem das gelingt, der versteht sich auf Gesang aller Sparten. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt Max Lichtegg als Lohengrin im Ausschnitt des Covers der CD-Box zu sehen, die bei Andromeda erschienen ist. Alle anderen Fotos sind dem Booklet mit Dank entnommen, Sie finden sich teilweise auch in der Biographie, die Alfred A. Fassbind über den Tenor im Römerhof Verlag verfasst hat. 

Maßstäbe setzend

 

In ihrer Geburtsstadt Luzern beim renommierten Musik Festival gab Edith Mathis im Jahr 1975 einen Liederabend mit Werken von Mozart, Bartok, Brahms, Schumann und Strauss, der jetzt bei audite veröffentlicht wurde und immer noch als Maßstab für perfekten Liedgesang gelten kann. Die Zugabe war Wolfs  „Auch kleine Dinge können uns entzücken“, und wie das Einstiegslied „Das Veilchen“ passen sie wunderbar zu der Schweizer Sängerin, deren besonders hervorstechender Charakterzug die Bescheidenheit war, die nie sich selbst, sondern immer das zu interpretierende Werk in den Vordergrund stellte, die die anrührendste Pamina war, die man erleben konnte.

Zu den Mozart-Liedern passen der silbrige Schimmer des Soprans, die leichte Emission der Stimme, der mädchenhafte Gestus des Singens und natürlich zum Liedgesang generell die gute Diktion. Die feine Melancholie in der Stimme, die Reinheit und Klarheit sprechen in „Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte“   direkt zum Herzen des Hörers, und bei „Abendempfindung“ entzückt die Schwerelosigkeit des Gesangs. Aber auch Humor kann in dem wandlungsfähigen Sopran sich ausdrücken, wie „Der Zauberer“ beweist.

Bei den derberen Bartok-Liedern wird die Balance zwischen Kunst- und Volkslied gewahrt, ist das Wiegenlied von wunderschöner Innigkeit, beweist die Sängerin in „Burschentanz“ aber auch, dass sie vokal beherzt zupacken kann.

Besonders gefallen können die Deutschen Volkslieder von Brahms, mit einem schönen Aufblühen des Soprans in „In stiller Nacht“, feinen Pianissimi und der Gewissheit des Hörers, dass die Sängerin empfindet, was sie singt. Von raffinierter Schlichtheit ist „Da drunten im Tale“ mit im Untergrund loderndem Feuer, am Schluss nachdenklich dunkel. Der Stimmungswechsel in „Feinsliebchen“ ist von bezwingender Unmittelbarkeit.

Aus „Mythen“ von Schumann  stammt „Widmung“, der Mathis einen schönen Jubelton, wechselnd mit Innigkeit verleiht, zartes Naturerleben lässt sie den Hörer in „Der Nussbaum“ nachempfinden, eine selbstbewusste Braut spricht aus dem ersten Brautlied, tränenverhangen und in einem schönen Pianissimo verhauchend zeigt sich „Was will die einsame Träne“. „Hauptmanns Weib“ beweist, dass die Mathis auch Forte singen konnte, die Stimme bei aller lyrischen Anlage viel Substanz besaß.

Das gilt auch für Strauss „Schlechtes Wetter“, ehe der Sopran in „Die Nacht“ ein duftiges Gebilde zaubert, schillernde Farbigkeit für „Ach, Lieb“ hat und schließlich ganz eins ist mit Wolfs Kleinen Dingen. Karl Engel ist der ideale Begleiter, der die Sängerin auf akustischen Händen trägt (audite 95.647). Ingrid Wanja

Raymond Leppard

 

Dachte man vor einem halben Jahrhundert an Protagonisten der sich allmählich etablierenden Alten Musik, so musste sein Name fast zwangsläufig fallen: Raymond Leppard, geboren am 11. August 1927 in London, ausgebildet als Cembalist und Bratschist am Trinity College in Cambridge und zunächst Chorleiter und musikalischer Leiter der Cambridge Philharmonic Society. Sein offizielles Dirigentendebüt erfolgte 1952, jenes als Operndirigent 1959. Er war eng am Aufbau des Goldsbrough Orchestra, des späteren English Chamber Orchestra, beteiligt. Seine Heimat waren dann auch zunächst die Kammerorchester. Doch bereits in den 1970ern zog es ihn vermehrt auch zu den großen Sinfonieorchestern. Zwischen 1973 und 1980 leitete er das BBC Northern Symphony Orchestra (das heutige BBC Philharmonic) in Manchester. Besonders prägend aber seine langjährige Tätigkeit als Musikdirektor des Indianapolis Symphony Orchestra in den USA (1987-2001). Ob Covent Garden, Glyndebourne oder an der Met – Leppard war überall gern gesehen. Sein Repertoire reichte von Cavalli über Spohr und Tschaikowski bis Schostakowitsch und Britten, so dass eine Reduzierung auf die Alte Musik verfehlt wäre. Daneben trat er auch als Komponist in Erscheinung, schrieb u. a. die Filmmusiken zu Lord of the Flies (1963),  Alfred the Great (1969, Hotel New Hampshire (1984). Leppard, bereits 1983 als Commander of the Order of the British Empire (CBE) ausgezeichnet, wurde 2003 amerikanischer Staatsbürger – wo er schon lange seinen Lebensmittelpunkt hatte. Vielleicht war es allein dies, was ihm den Ritterschlag vorenthielt. Seine britische Sozialisation kann indes nicht in Zweifel gezogen werden. 1986 dirigierte er, gleichsam als Beweis, die Last Night of the Proms in der Royal Albert Hall in London. In den letzten Jahren wurde es ruhiger um den greisen Maestro. Am 22. Oktober 2019, am selben Tage wie Hans Zender, ist er hochbetagt mit 92 Jahren in seiner Wahlheimat Indianapolis gestorben, bis zuletzt Ehrendirigent des dortigen Orchesters (Foto oben Raymonf Leppard. open.spotify.com). Daniel Hauser

Oratorium der Grausamkeit

 

Auf rund 35 Quadratmetern verewigte Géricault in seinem 1819 entstandenen und heute im Louvre hängende Kolossalgemälde einen brandaktuellen Skandal, der kurz zuvor zur Entlassung des Marineministers und 200 Offizieren geführt hatte. Gerne hätte die französische Öffentlichkeit vergessen, was der Maler in La Radeau de la Méduse schilderte: die Überfahrt der französischen Fregatte Méduse, die nach dem Sturz Napoleons, nebst dem neuen Gouverneur, Seeleuten, Passagieren und Soldaten, rund 400 Personen in die wiedergewonnene Kolonie Senegal bringen sollte. Durch Unfähigkeit des Gouverneurs und des Kapitäns kommt es am 2. Juli 1816 zur Havarie, die Méduse läuft auf Grund, der Gouverneur und seine Familie, Offiziere und weitere Passagiere werden auf Rettungsboten in Sicherheit gebracht, die restlichen 147 Menschen werden auf einem seeuntüchtigen Floß sich selbst überlassen. Panik bricht aus. Es herrscht Gewalt. Kannibalismus. Die Schwachen werden über Bord geworfen. 15 Menschen werden schließlich geborgen, wovon an Land fünf sterben, auch das Besatzungsmitglied Jean-Charles, der ein Tagebuch der Gräuel führte.

Neben dem Fährmann Charon, der in der Mythologie die Toten in die Unterwelt bringt, fungiert Jean-Charles als einer der beiden Erzähler in Hans Werner Henzes vom NDR in Auftrag gegebenen „Oratorio volgare e militare“ mit dem Text des ehemaligen Intendanten des NWDR Ernst Schnabel, dessen Hamburger Uraufführung 1968 die Hörer am Radio in Form einer Aufzeichnung der Generalprobe, nicht aber die Besucher im Saal live erleben konnten. „Die Barometer standen auf Sturm“, schreibt Walter Weidringer im ungemein lesenswerten Text im Beiheft (SWR Classic 19082) über die Umstände der geplatzten Uraufführung vom Floß der Medusa.

Erst gut drei Jahrzehnte später – das Oratorium war inzwischen 1971 von Caridis in Wien uraufgeführt und u.a. von Kegel in Leipzig, Gierster in Nürnberg und Florenz, Rattle in London aufgeführt worden – holte Ingo Metzmacher, der sich schon in den 1990er Jahren für das Stück stark gemacht hatte, die Hamburger Aufführung nach. In Hamburg in der Elbphilharmonie entstand 2017 eine willkommene Neuaufnahme des Oratoriums mit dem SWR Symphonieorchester unter Peter Eötvös, die den zeitlos aufrüttelnden Charakter des Werkes unterstreicht – Weidringer nennt es zurecht eine „neue politische Dringlichkeit“ – und dessen historische Ereignisse Franzobel 2017 in seinem Roman Das Floß der Medusa mit geradezu besessener Ausmalung aller Grausamkeiten nochmals in Erinnerung rief.

Es beginnt wie ein Dokumentarspiel. Der große Peter Stein schildert im Prolog des Charon akribisch genau alle Umstände der Reise. Nach knapp 70 Minuten, in denen der Bariton Peter Schöne zurückhaltend als Jean-Charles fungierte, Camilla Nylund mit festem Sopran und oftmals verführerischen Tönen als Tod lockte (La Mort), der Chor (SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben) sich, nachdem die größte Zahl der Chorsänger auf die Seite des Todes gewechselt ist, zuletzt auf 14 Lebende reduzierte, endet dieses aufrüttelnde Oratorium der Grausamkeit nüchtern mit Charons Worten: “Am 17. Juli 1816, vor sieben Uhr morgens, sichtete die Brigg „Argus“ das Floß der „Medusa“, der Mulatte Jean-Charles, der – den Blick auf das rettende Schiff gerichtet – den roten Fetzen geschwenkt hatte, lag in Agonie, als man ihn barg, und ist nicht mehr erwacht. Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen“. Man ist gebannt. In einer Mischung aus Distanz und Überwältigung gestaltet Eötvös das Oratorium mit luzider Klarheit, klangsinnlich, aber auch zukrallend in den szenisch entworfenen Teilen zwischen Chor und den Protagonisten, ohne die theatralische Kraft der Medusa auszureizen und deshalb umso stärker in der Wirkung.   Rolf Fath

Lehrreich und unterhaltsam

 

Fünf Jahre nach dem Richard Strauss gewidmeten Jubiläumsjahr 2014 erscheint dem Leser das bereits 2013 erschienene Buch von Christoph Wagner-Trenkwitz wie eine Art Vorspeise, leicht und Appetit auf mehr machend, und mehr kam dann ja auch mit einer Flut von Strauss-Büchern, einige davon sich der fragwürdigen Aufgabe widmend, Charakter und Verhalten des Komponisten insbesondere in der Nazizeit von der Warthe des wissenden Nachgeborenen her scharf zu verurteilen. Das Buch Sie kannten Richard StraussEin Genie in Nahaufnahme hingegen ist eher ein Liebesbekenntnis als eine Abrechnung, eher eine Plauderei als eine wissenschaftliche Untersuchung und nicht zuletzt deswegen auch heute noch ein höchst angenehmer, Genuss bereitender Lesestoff, den man am liebsten gar nicht aus der Hand legen möchte.

Der Verfasser betont, dass er wohl kaum Neues an Tatsachen über den Komponisten bieten kann, wohl aber sehr Persönliches, wofür einer der Enkel von Strauss einer der Garanten ist, Opernfanatiker Marcel Prawy Freunden und Kollegen Interessantes entlockt, Literaten wie natürlich Hofmannsthal oder Bahr kein Blatt vor den Mund nehmen und das Zeugnis Stefan Zweigs, der sich im Exil das Leben nahm, ein ganz besonders berührendes ist. Wie unterschiedlich man eine Äußerung auslegen kann, je nachdem, wie übel oder wohl man dem Zitierten will, zeigt die berühmte Formulierung, mit der in einem Brief  Zweig „jüdischer Starrsinn“ vorgeworfen wird, was Eiferer als antisemitischen Ausfall interpretieren möchten, während sich der Leser dieses Buches selbst ein Bild machen kann und eher zu dem Schluss kommen wird, dass Strauss, was die Politik angeht, doch recht naiv war.  Um beim „Bild“ zu bleiben, das Buch ist wertvoll auch durch die zahlreichen Fotos teils aus Privatbesitz und bisher unveröffentlicht.

Ein umfangreiches Kapitel widmet das Buch der Strauss-Gattin Pauline, berüchtigt als hysterischer Zanketeufel und durch den Briefwechsel und Aussagen von Strauss und seinen Weggenossen zweifellos rehabilitiert und durchaus  als Muse des Komponisten anerkannt, wenn auch streng auf Regeln zum Erhalt seiner Gesundheit achtend. Ganz nebenbei kommt der Leser zu der Einsicht, dass der Kultur des Briefeschreibens ein hoher Wert beizumessen ist, vergleicht man mit dem schriftlichen Umgang zwischen heutigen Zeitgenossen.

Belustigend ist „die Affäre Mieze Mücke“, die keine war, berührend sind die Erinnerungen der Enkel, so daran, wie Strauss den Untergang Dresdens beweinte, wie sich Klaus Mann als angeblicher Amerikaner in Garmisch aufführte,  wie der Großvater für den Enkel und dessen Geige eine Daphne-Etüde komponierte. Der Geschichte, die Baldur von Schirach betrifft, und der Tatsache, dass er Pauline Strauss  („wenn der braune Spuk vorbei ist“) vor Unannehmlichkeiten bewahrte, hätte man wohl den Hinweis darauf, dass dieser Mann die deutsche Jugend mit auf dem Gewissen hatte, hinzufügen sollen. Ein Geburtstagsbrief 1944 an einen der Enkel  ist ebenso aufschlussreich wie der Bericht über die Entstehung der Vier letzten Lieder.

Zahlreiche Zeugnisse von Künstlerfreunden sind ebenso interessant wie Anmerkungen über die Generalprobe zur Liebe der Danae, bevor auch Salzburg alle kulturellen Aktivitäten einstellen musste.

Die Gesprächsrunde mit Prawy, zu der Hans Hotter, Karl Böhm und Viorica Ursuleac gehörten, räumt endlich auch mit dem Vorurteil auf, Strauss sei beim Skat ein schlechter Verlierer gewesen. Man liest das Buch gern und erfährt einiges, was man noch nicht wusste. Was will man mehr?

Und der Anhang ist streng wissenschaftlich mit Zeittafel, Literaturauswahl, Anmerkungen und Namensregister (225 Seiten,  2013 Amalthea Verlag Wien ISBB 978 3 85002 746 5  / Foto oben: Richard Strauus, Portrait von Liebermann/ Wikipedia.nl). Ingrid Wanja

 

Samiel*innen

 

Noch ein Freischütz. Für Marek Janowski ist es nicht die erste Aufnahme. Er und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin spielten die Oper 1994 im Studio für die RCA ein. Mit seiner Euryanthe hatte er zwanzig Jahre zuvor seinen Ruf als ein Sachwalter deutscher Romantik begründet. Diese in Dresden entstandene Einspielung behauptete sich auch deshalb dauerhaft am Markt, weil sie eine der ersten großen Schallplatteneinspielungen der kürzlich verstorbenen Jessye Norman ist. Sie wurde aber nie auf diese Sängerin reduziert, zumal sie keine Idealbesetzung war. Den Stempel hatte der Dirigent der Platteneinspielung aufgedrückt.

Nun ging Janowski abermals vor die Mikrophone. Diesmal im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Er dirigiert die Frankfurter Radio Symphony. Erschienen ist die Aufnahme bei Pentatone (PTC 5186 788; VÖ Ende Oktober 2019). Selbst übertroffen hat er sich nicht. Seine erste Einspielung ist bis heute hörenswert geblieben, nicht zuletzt wegen Peter Seiffert als Max. Sie entstand auf der Grundlage des Originals, also auch mit den Dialogen. Es wird sogar noch etwas mehr gesprochen als bei der Mutter aller Freischütz-Aufnahmen von 1958, die Joseph Keilberth für die EMI betreut hatte. Der immer wieder als zu biedermeierlich bekrittelte Text von Friedrich Kind hat heutzutage keinen guten Stand. Regisseure misstrauen ihm. Es gab viele Versuche, als besonders peinlich empfundene Stellen zu tilgen, wenigstens aber abzumildern. Dabei erwächst das gesungene Wort über weite Strecken doch sehr anschaulich und nicht unwirksam aus dem gesprochenen Text des 1821 uraufgeführten Werkes. Im Team der aktuellen Produktion wirkte der niederländischen Schauspieler Kasper van Kooten mit. In seiner Freischütz-Analyse im Booklet kommt er zu dem Schluss, dass Weber „das Singspiel als Gattung auf eine neue Ebene der Kultiviertheit“ gehoben habe. Gleichzeitig plädiert auch er dafür, die gesprochenen Dialoge zu reduzieren „ohne die Geschichte dabei unverständlich zu machen“.

Die vorliegende Version „soll es dem modernen Hörer erleichtern, die unvergängliche Frische und Kraft dieser außergewöhnlichen Oper uneingeschränkt zu erleben“. Janowski geht mit der Zeit und lässt sich auf diese Bearbeitung ein, mit der die Dialoge nach einer Vorlage von Katarina Wagner und Daniel Weber, die auch die Einstudierung übernahmen, neu erzählt werden. Als Sprecher treten Samiel (Corinna Kirchoff) und der Eremit (Peter Simonischek) in Aktion. Das Verständnis dieser Fassung, die im Booklet mitgelesen werden kann, setzt allerdings eine gewisse Kenntnis des Originals voraus, sonst kann ihr Nutzen auch vom „modernen Hörer“ gar nicht erfasst werden. In der melodramatischen Wolfsschlucht kommt die unkonventionelle Lösung vernehmlich an Grenzen. Denn dort müssen die Sänger schließlich auch sprechen. Alan Held, der amerikanische Bariton, macht dabei mit seinen Ausspracheschwierigkeiten nicht die glücklichste Figur und die viel beschworene Gleichberechtigung geht dann doch etwas zu weit, indem das nicht nur erzählende, sondern auch handelnde böse Prinzip in Gestalt des schwarzen Jägers Samiel weiblich ist. Also Samiel*innen! Dadurch fällt die Wolfsschlucht aus der Dramaturgie des Konzeptes heraus, mit dem die Probleme des Originals nicht gelöst werden. Sie wirkt wie isoliert und büßt an Dämonie ein. Auch die Szenen im Forsthaus gewinnen nicht durch die Bearbeitung. Jetzt tritt der Eremit mit milder Stimme als Erzähler auf. Gegen Ende wird er von Franz-Josef Selig sehr würdig, machtvoll und grüblerisch zugleich gesungen.

Musikalisch ist dieser Freischütz kein besonders großer Wurf. Janowski ist um Klarheit, Durchsichtigkeit und deutliche Strukturen bemüht, setzt immer wieder überraschende Akzente. Vom Holz sind betörende Klänge zu vernehmen, die Bässe werden effektvoll bemüht. Seine erste Aufnahme fand ich romantischer, stimmungsvoller und versonnener. Lise Davidsen aus Norwegen, die in diesem Jahr in Bayreuth als Elisabeth debütierte und für 2020 als Sieglinde angekündigt ist, singt die Agathe. Es scheint, als sei die 32jährige der Rolle, die ihr schwer in der Kehle liegt, bereits entwachsen. Sie klingt reif, sehr reif, singt zu groß und zu wenig lyrisch. Sie produziert einzelne schöne Töne, aber keine überzeugendes Rollenporträt. In den Szenen im Forsthaus will keine rechte Stimmung aufkommen, weil besonders hier der Erzähler mehr stört, als dass er den Fluss der Handlung erhellend befördert. Jetzt fängt auch Ännchen, die mit gebrochenem Deutsch wie eine junge Verwandte von sehr weit her wirkt, plötzlich zu sprechen an, indem sie nach dem Original von Friedrich Kind vorgeben muss, ein „grausenerregendes Beispiel“ zu kennen, das sie dann in ihrer berühmten Basen-Arie ausführt. Nach dieser unfreiwilligen Parodie macht die Russin Sofia Fomina eher zu viel als zu wenig. Sie überinterpretiert diese aus der Tradition des Singspiels kommende Arie und wird der Agathe nicht unähnlich. Max ist der meist als Heldentenor engagierte Andreas Schager. Der viele Wagner scheint nicht ganz spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Besonders bei herausgestellten Vokalen wie zu Beginn im Terzett „Oh, diese Sonne, furchtbar steigt sie empor!“ ist mir die Stimme zu unruhig. Schager läuft aber in seiner von einem Rezitativ raffiniert unterbrochenen Arie, die er sehr mächtig vorträgt, zu großer Form auf. Singend überzeugt der Kaspar Alan Held mehr als sprechend. Dann verliert sich sein Akzent, und er ist auch gut zu verstehen. Positiv fällt auf, dass Kaspar und Max stimmlich als etwa gleichaltrig zu erkennen sind, was für die Geschichte nicht unwichtig ist, denn schließlich kämpfen in ihnen auch zwei Rivalen um Agathe miteinander. Einen stimmgewaltigen Kuno steuert Andreas Bauer bei. Marcus Eiche ist ein energischer Ottokar, der junge begabte Christoph Filler singt den Kilian mit Biss. Mit dabei ist auch der Rundfunkchor des MDR aus Leipzig. Rüdiger Winter

Marcello Giordani

 

Die Wiener Staatsoper (und die Welt der Oper)  trauert um den italienischen Tenor Marcello Giordani, der am 5. Oktober 2019 zuhause in Augusta (Provinz Syrakus, Sizilien) im Alter von 56 Jahren einem Herzinfarkt erlegen ist. (…) Der 1963 in Augusta geborene Marcello Giordani gewann 1986 den Gesangswettbewerb in Spoleto und debütierte im selben Jahr ebendort als Rigoletto-Herzog. Er avancierte bald zu einem der international gefragtesten Tenöre seines Fachs mit Auftritten an den bedeutendsten Häusern der Welt, so an der Mailänder Scala, der New Yorker Met, dem Royal Opera House Covent Garden in London, an der Pariser Oper, in San Francisco, Chicago, Barcelona, an der Dresdner Semperoper, der Arena di Verona u. v. a. m. An der Wiener Staatsoper gab er bereits 1992 sein Debüt als Sänger im Rosenkavalier, es folgten Hauptpartien u. a. in I puritani, Rigoletto, La traviata, La Bohème, Roméo et Juliette, La forza del destino oder Aida. 2016 gab er seine Staatsopern-Rollendebüts als Calaf in Turandot und als Des Grieux an der Seite Anna Netrebkos in Manon Lescaut. Insgesamt gestaltete Marcello Giordani 14 verschiedene Partien in 72 Vorstellungen im Haus am Ring. Sein letzter Auftritt auf dieser Bühne war Radames (Aida) am 2. Oktober 2016.
Marcello Giordani war auch sehr um den Sängernachwuchs bemüht: 2010 gründete er die „Marcello Giordani Foundation“ mit dem Ziel, junge Sängerinnen und Sänger zu Beginn ihrer professionellen Karriere zu unterstützen; 2011 fand der erste Marcello Giordani Gesangswettbewerb auf Sizilien statt (Foto Wiener Staatsoper). Quelle Wiener Staatsoper

 

Eve Queler, die berühmte Dirigentin aus New York, die am Pult des legendären Opera Orchestra of New York so unendlich viele Aufführungen aus dem Repertoire des Belcanto und der nachfolgenden Perioden geleitet und ermöglicht hat, schreibt tief betroffen zum Tode von Marcello Giordani: I am so very sad to hear of the passing of Marcello Giordani. From the year 2000, Marcello made it possible for me to do the operas which were particularly difficult for the tenor, in particular Les Huguenots and William Tell where the tenor sings above high C but also needs to be sizeable and dramatic.Marcello’s voice rang out beautifully in the most exposed passages. Most important, he was so nice and cooperative and enthusiastic about my concerts. Operas he sang with me with Opera Orchestra of New York: Lucrezia Borgia, Les Huguenots, Adriana Lecouvreur, La Gioconda, Guillaume Tell, Edgar, L’Africaine. He also sang at a Gala celebrating the 100th performance at Carnegie Hall of my orchestra The Opera Orchestra of New York..

Sie schreibt in ihrem Buch über ihre Arbeit mit Marcello Giordani: Lucrezia Borgia 2000 would be the last complete opera Renée Fleming would sing at the OONY. (…) It would be , however, my first time working with Marcello Giordani (…) It was my pleasure to resurrect Guillaume Tell for Marcello in 2005. Although the title character of the opera is a baritone, the most spectacular vocal writing is for the tenor. The high C sharp, which occurs in the second act in the middle of a trio for three men, was executed with ease. A far more grueling and exposed section for the tenor arrives in his  Act 4 aria. This aria is in C major, which means the climactic note will be a high C. But in this aria, there are eight  of them if you do  all ofthe repeats. They are particularly difficult to sing because they were written with a slow ascent up to the C, requiring huge stamina, somewhat more difficult than the high C in La Boheme. Clearly, Rossini had a tenor who could sing this or he would not have written it this way. When I do operas that were written for a particular person, this is  my  challenge:  to  find a  voice with  a  similar color (…)After the aria, our performance was literally stopped by a prolonged ovation. I knew it would be a few minutes and stepped offthe podium to sit for a moment in one of the chairs in front of me which had been set for the singers. After acknowledging his ovation, Marcello came over to me and pulled me off the chair, saying, „We are going to do it again!“ I said, “Are you crazy?“ thinking that we might go into overtime. He said, –“ Only the cabaletta,“ the second part of the aria which is the fast section. As we began, I suddenly thought to myself, I wish Marcello would move to the other side of the stage so that the audience on that side would get a closer look  at him. Unbelievably he seemed to  read my mind, and darted across the stage, shook his fist at the chorus who were urging him on to the fight, and turned to finish the aria. There followed another prolonged ovation…. (A View from the Podium, xlibris 2018)

And this from Italo Marchini, my choral director. “ Always friendly, a wonderful colleague-….He brought such joy and light into our lives“. E. Q.

 

Dazu auch das englische Wikipedia: Marcello Giordani was born in 1963 in the small Sicilian town of Augusta. His father, a former prison guard, was the owner of a major gasoline station in the town, and his mother was a housewife. He showed a talent for singing at an early age and took private lessons in Augusta as well as singing in his church choir. When he was nineteen, he quit his job in a bank and moved to Milan where he studied voice with Nino Carta. Giordani made his professional operatic debut in 1986 as the Duke in Rigoletto at the Festival dei Due Mondi in Spoleto. His debut at La Scala came two years later when he sang Rodolfo in La bohème. He went on to sing throughout Italy and Europe, and in 1988, he made his American debut singing Nadir in Les pêcheurs de perles with Portland Opera, a company with which he frequently appeared early in his career. Engagements with several other American opera companies followed, including San Francisco OperaSeattle OperaLos Angeles Opera and the Opera Company of Philadelphia. Giordani made his Metropolitan Opera debut in 1993 as Nemorino in a Parks performance of L’elisir d’amore opposite Maria Spacagna as Adina. His first performance on the actual stage at the Metropolitan Opera House was on December 11, 1995 as Rodolfo to Hei-Kyung Hong’s Mimì with Carlo Rizzi conducting.

In 1994, vocal problems that begun to surface in the previous years became more acute. He began to retrain his voice with Bill Schuman in New York but did not cancel his engagements. In 1995 he sang Alfredo in La traviata at Covent Garden under Sir Georg Solti, whose guidance he credits as a great help in the rebuilding of his career. In 1997, Giordani again sang at Covent Garden under Solti (as Gabriele Adorno in Simon Boccanegra), in what turned out to be the final opera performances that Solti would ever conduct. His career at the Met, which had initially been sporadic, began to flourish. By the end of 2008, he had sung over 170 performances with the company, including the leading tenor roles in the Metropolitan Opera premieres of Benvenuto Cellini and Il pirata. He also sang in the Met’s season opening performances in both 2006 (Pinkerton in Madama Butterfly) and 2007 (Edgardo in Lucia di Lammermoor), and on 18 September 2008, he was the tenor soloist in the Met’s performance of Verdi’s Requiem in memory of Luciano Pavarotti.

Amongst the other opera houses and festivals where Giordani performed during his career were the Opernhaus ZürichVienna State OperaOpéra National de ParisGran Teatre del Liceu in Barcelona, Deutsche Oper BerlinHouston Grand OperaMaggio Musicale FiorentinoTeatro dell’Opera di RomaTeatro Regio di ParmaTeatro Regio di TorinoTeatro Massimo Bellini di CataniaArena di Verona, the Verbier Festival, and the Festival Puccini in Torre del Lago. In August 2008, Giordani appeared in concert with Salvatore Licitra and Ramón Vargas in Beijing’s Great Hall of the People during the first week of the 2008 Olympic Games.2008 also saw his appointment as Artistic Director for Musical Events at Città della Notte, a new arts center near Augusta. In December 2008 he gave his first master classes there.

In 2010, Giordani created the Marcello Giordani Foundation to help young opera singers at the beginning of their careers. The first annual Marcello Giordani Vocal Competition was held in Sicily in 2011. Giordani met his wife, Wilma, when he was singing in Lucerne in 1988. They married two years later. The couple and their two sons lived in New York and Sicily. Giordani died of a heart attack on 5 October 2019 at the age of 56.

Erika Wien

 

Erika Wien (* 2. September 1928 in Wien; † 10. Oktober 2019 in Zürich war eine österreichische Sängerin (Mezzosopran) und Schauspielerin. Erika Wien wurde am 2. September 1928 in Wien geboren und absolvierte ein Gesangsstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu ihren Lehrern zählten Hans DuhanJosef WittWolfgang Steinbrück oder Erik Werba. Ihre ersten Engagements nach beendetem Studium hatte sie in den Jahren 1952 bis 1953 an der Wiener Volksoper und war danach von 1953 bis 1959 am Theater Bremen aktiv. In den Jahren 1959 bis 1964 trat sie an der Deutschen Oper am Rhein in Erscheinung, gefolgt von einem von 1964 bis 1980 andauernden Engagement am Opernhaus Zürich. Als dramatische Altistin gehörte sie vor allem in der Direktionsära von Hermann Juch zu den profiliertesten Ensemblemitgliedern des Opernhauses Zürich.

Gastauftritte hatte Wien unter anderem an der Deutschen Oper Berlin, der Staatsoper Berlin, den Staatsopern von WienMünchenHamburg und Stuttgart, sowie den Opernhäusern von Frankfurt am MainHannoverKölnNürnbergWiesbaden und Wuppertal. Des Weiteren hatte sie auch Gastengagements am Holland Festival, dem Maggio Musicale Fiorentino, in Brüssel und Bordeaux, in Lyon und Marseille, am Teatro Colón in Buenos Aires, in der Grand Opéra Paris, den Opernhäusern von Los AngelesSan Diego und San Francisco, in Nantes und Toulouse, sowie in Turin und Genua.

Zu ihrem Repertoire zählten unter anderem die Titelrolle in CarmenMarcellina in Le nozze di FigaroMaddalena in RigolettoAzucena in Il trovatoreAmneris in AidaEboli in Verdis Don CarlosUlrica in Un ballo in mascheraMrs. Quickly in Verdis FalstaffFenena in NabuccoMary in Der fliegende HolländerOrtrud in LohengrinErda und Fricka in Der Ring des NibelungenBrangaene in Tristan und IsoldeVenus in Tannhäuser und der Sängerkrieg auf WartburgOrfeo in Orfeo ed EuridiceMarina Mnischek in Boris Godunow, die Gräfin in Pique DameMilada in Dalibor, die Hexe Ježibaba in RusalkaKlytaimnestra in Strauss’ ElektraMarie in Bergs WozzeckKontschakowna in Fürst Igor, die Künstlerin in Jenůfa, die Oberpriesterin in PenthesileaAdelaide in Strauss’ Arabella oder Leokadja Begbick in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny.

Im Opernhaus Zürich war sie an den Premieren von Madame Bovary unter dem Kompanisten Heinrich Sutermeister, dem Regisseur Michael Hampe und dem musikalischen Leiter Reinhard Peters (26. Mai 1967) und im Juni 1977 in Ein Engel kommt nach Babylon des Komponisten Rudolf Kelterborn beteiligt.

Erika Wien hatte auch großen Erfolg als Konzert- und Oratoriumssolistin, wo sie vor allem in Werken von Johann Sebastian BachLudwig van Beethoven oder Johannes Brahms überzeugen konnte. Außerdem trat sie bei Liederabenden in Erscheinung und war Konzertsängerin in Deutschland, der Schweiz, sowie in Wien, MadridGranada und Paris. Erika Wien starb in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 2019 in Zürich. Quelle Wikipedia

Antônio Gomes: „Lo schiavo“

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Schnell hatte sich die Kunde von der italienischen Erstaufführung (!!!) des Schiavo von Carlos Gomez am Teatro Lirico von Cagliari im letzten Februar/März (2019) auch bei zisalpinen Opernfreunden herumgesprochen, und ungeduldig wartete man auf den versprochenen Mitschnitt auf Bluray (37845) und CD (2 CD CDS 784502) bei Dynamic, der nun dieser Tage eintraf und John Neschlings Championship in Sachen Gomes einmal mehr bestätigt. Wie nur wenige Dirigenten setzt er sich seit Jahren für seinen Landsmann ein und hatte bereits 1994 in Bonn die Herzog-Fitzcaraldo-Inszenierung des Guarany mit Plácido Domingo (Sony) dirigiert – musikalisch wie auch optisch damals ein Regenwald-Fest. Optisch gilt dies auch für die Aufführung in Cagliari, die sich stimmungs- und farbenvoll auf der DVD bietet (davon im Atikel von Ingrid Wanja nachstehend mehr).

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Danilo Prefumo, italienischer Musikwissenschaftler von Rang, schreibt im Beiheft zur neuen CD/ DVD-Ausgabe bei Dynamic: Zunächst müssen wir einen kurzen Überblick geben hinsichtlich der politischen und ökonomischen Situation Brasiliens in den Jahren, in denen Lo schiavo komponiert wurde. Seit dem 16. Jahrhundert eine portugiesische Kolonie, wurde der gewaltige lateinamerikanische Staat erst 1822 unabhängig. Es war ein spärlich besiedeltes Land (heutzutage mit über 200 Millionen Einwohnern der Staat mit der fünfthöchsten Bevölkerung auf Erden) und extrem arm. 1860 jedoch führte die Errichtung von Kaffeeplantagen zu einem plötzlichen Wirtschaftsboom, was die Einwanderung vieler Europäer zur Folge hatte. Brasilien war eine konstitutionelle Monarchie, in der die Sklaverei immer existiert hatte. Nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg in den USA zwischen 1861 und 1865 mit der Niederlage der südlichen Sklavenstaaten geendet hatte, wurden die Stimmen gegen die Sklaverei und für eine wichtigere institutionelle Demokratisierung immer lauter; die republikanischen Parteien gewannen mehr und mehr an Macht.

Gomes „Lo Schiavo“/ Bühnenbild zur Uraufführung von Luigi Bartezago/ Ricordi

Wie bereits erwähnt, beabsichtigte Gomes Lo schiavo während eines Aufenthaltes in Brasilien im Jahre 1880 in Musik zu setzen. Der Librettoentwurf war das Werk eines seiner Freunde, des Vicomte de Taunay, eines glühenden Anhängers der Abschaffung der Sklaverei. Die Oper sollte daher einen aktiven Part spielen bei der Unterstützung der abolitionistischen Bestrebungen. Gleichwohl brachte Rodolfo Paravicini, derjenige, der das Werk ins Italienische übersetzen und den Entwuf des Vicomte in ein wirkliches Libretto umsetzen sollte, einige Bedenken vor. Am Ende wurde die Handlungszeit, die ursprünglich auf 1801 gelegt war, zurück ins Jahr 1567 versetzt, wodurch die schwarzen Sklaven, die auf den Plantagen im 16. Jahrhundert nicht eingesetzt wurden, durch Ureinwohner ersetzt werden konnten. Eine Reihe rechtlicher Fragen vereitelte sodann einen Erfolg der Oper. Die europäischen Opernhäuser zeigten kein Interesse daran, sie auf die Bühne zu bringen. Die für 1887 in Bologna angesetzte Premiere wurde wegen einer Verstimmung zwischen dem Komponisten, der für seinen schlechten Charakter bekannt war, und dem Librettisten abgeblasen. Lo schiavo kam schließlich am 27. September 1889 im Teatro Real von Rio de Janeiro zur Uraufführung. Für Gomes unvorteilhaft, war die Sklaverei in Brasilien indes im Vorjahr abgeschafft worden, was die Oper ihres Charakters einer Vorreiterrolle im Ringen um eine noble Sache beraubte. Weniger als zwei Monate nach der Premiere setzte ein unblutiger Staatsstreich der Monarchie unter dem letzten Kaiser von Brasilien, Pedro II., ein Ende; die Republik wurde ausgerufen.

Gomes „Lo Schiavo“ deutsche und europäische Erstaufführung am Stadtheater Gießen/ Foto Stadttheater Gießen

In Brasilien erlangte die Oper einen triumphalen Erfolg, doch anderswo war sie keineswegs populär. Bald schon geriet sie in Vergessenheit; einzig die Tenorarie des zweiten Aktes Quando nascesti tu hielt sich im Repertoire. 1911 wurde diese von Caruso eingespielt und 18 Jahre danach von Giacomo Lauri-Volpi. Wagner war der letzte Schrei und die traditionelle italienische Oper, abgesehen von Verdis spätem Meisterwerk Otello (Mailand, Teatro alla Scala, 5. Februar 1887), wurde weltweit nicht geschätzt, nicht einmal in Italien.

Nach vielen Jahren in der Versenkung erfuhr Lo schiavo 1999 eine moderne Wiederaufnahme am Belém-Theater in Brasilien, gefolgt von einer Reihe von Aufführungen in Europa. Die Produktion des Teatro Lirico di Cagliari, die wir im Audio- und Videoformat herausgeben, dokumentiert die erste Aufführung dieser Oper in Italien und ist nur eines der erfolgreichen repêchages, welche das sardinische Opernhaus in den letzten Jahren offerierte. Lo schiavo ist tatsächlich eine der besten Opern von Gomes und entfaltet trotz einiger Einwände eine auffallende Fülle an melodischer Kreativität, einen klugen Aufbau und eine handwerkliche Meisterschaft der theatralischen Mechanismen, die sich stets auf hohem Niveau befinden.

Diese Elemente können die Mittelmäßigkeit des Librettos mit Paravicinis sperrigen Versen nicht ausradieren, aber helfen dabei, Gomes‘ Leistung in der richtigen historischen Perspektive zu beurteilen, nämlich zu einer Zeit, als sich die italienische Oper des Post-Risorgimento in einer Krise befand. Das Theater, wie wir es kennen, hat seine Exzentrizitäten und seine erworbenen Gewohnheiten, von denen eine Abkehr mittlerweile unmöglich erscheint. Aber womöglich könnte sich das italienische Opernrepertoire auf einige andere Werke neben Ponchiellis Gioconda ausweiten, (nicht von Verdi) komponiert zwischen 1861 (dem Jahre der Errichtung des Königreiches Italien) und, sagen wir 1890 (dem Jahre von Mascagnis Cavalleria rusticana). Ohne dass wir um jeden Preis das wieder zu entdeckende Meisterwerk finden wollen, das vermutlich nicht existiert, könnte eine größere Neugier die Spielpläne erneuern und dem Publikum ab und an etwas Neues bieten. Danilo Prefumo (englische Übersetzung von Daniela Pilarz; Übertragung ins Deutsche von Daniel Hauser)

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Rein akustisch (davon hier) hat die Aufnahme ihre Flecken, leider. Und es schmerzt mich, der so ambitionierten Dynamic mal wieder ein paar sehr kritische Worte zu ihren Mitschnitten sagen zu müssen, schätze ich die Firma doch wegen der unglaublichen Vielfalt ihrer Live-Titel, die sie wie keine andere im Programm hat und mit denen sie viele europäische Theater vorstellt. Aber Live-Mitschnitte haben ihre Tücken.

John Neschling ist nun am Pult des Orchesters und Chor vom Teatro Lirico in Cagliari, das sich in der Vergangenheit  immer wieder durch seltenes Repertoire hervorgetan hat. So auch hier. Der Schiavo  von 1889 (am Teatro Imperial in Rio de Janeiro) ist im Zuge des amerikanischen Bürgerkriegs und der Abolitionsten-Bewegung Gomes´ später Aufschrei gegen die Sklaverei in seiner Heimat. Der  erscholl leider zu einem Zeitpunkt, als diese gerade auch in Brasilien abgeschafft worden war. Pech für Gomes, dessen Oper in der Folge kaum (und dann nur im Heimatland) wieder gespielt und nach kurzem Auftauchen 1959 in Rio, dann 1999 in  Belem und schließlich in Rio erst 2016 in einer bedeutenden Produktion unter Roberto Duarte wiedererweckt wurde. Cagliari nun ist die erste italienische Bühne, den Schiavo aufgeführt zu haben. 

Es bleibt eine unbegreifliche Tatsache, dass Italien einen seiner größten Gast-Komponisten, der zudem durchweg in italienischer Sprache schrieb, kaum zur Kenntnis nahm und nimmt, so wie es in Deutschland – außer kurzen Lebenszeichen in Bonn (Il Guarany) oder Braunschweig (Salvator Rosa/ Oehms) kaum etwas von ihm zu hören gab/ gibt. Allerdings gebührt die Palme der europäischen Erstaufführung wieder einmal dem Stadttheater Gießen, wo es den Schiavo 2013 unter Carlos Spierer in der Inszenierung von Joachim Rathke gab (später dann am selben Haus erstmals auch die Fosca 2017, chapeau!)

Zeitgenössische Karikatur von Gomes/HeiB

Bei aller Freude über diesen seltenen Titel bei Dynamic und bei aller Wertschätzung der kraftvollen, männlich-robusten Leitung John Neschlings mit  dem Orchester und Chor des Theaters in Cagliari (in einer Co-Produktion mit dem Festival Amazonas de Opéra von Manaus) wird der Musikfreund mit dieser Neu-Aufnahme bei Dynamic nicht warm. Und das liegt an der nicht überzeugenden Besetzung ebenso wie (auf der CD als Soundtrack des Videos) an der rummeligen, unruhigen Live-Akustik, die das musikalische Erleben mit vielen unangenehmen Bühnengeräuschen und merkwürdiger Akustik „bereichert“. Soundtracks sind eben nicht wirklich günstig. Neschlings sorgfältige Hand vor allem auch in den lyrischen Passagen, an denen diese schwungvolle Oper so reich ist – ihre zahlreichen Arien und Ensembles geben reichlich Gelegenheit dazu – kann die provinziellen Stimmen nicht „aufhübschen“, die in den Hauptpartien nur selten ein überregionales Niveau für eine Traviata oder des Trovatore erreichen oder deren Anforderungen standhalten würden. Der Vergleich ist angemessen, denn Gomes war ja ein erbitterter Rivale des übergroßen Maestro, in dessen Schlagschatten alle Zeitgenossen standen und sich mühten, da heraus zu treten. Die berühmten compositori minori eben.

Gomes „Lo Schiavo“/ die legendäre und lange Zeit einzige offizielle (Live-)Aufnahme der Oper im Mitschnitt aus Rio 1959

In Cagliari erschrickt man sich über den Zustand der Stimme von Svetla Vassileva, noch vor nicht langer Zeit eine glanzvolle Francesca/Zandonai zu  Alagnas Paolo an der Pariser Oper war. Was ist nur mit der Stimme passiert? Hier als Ilara klingt sie einer Azucena nicht unähnlich, aufgeraut, ausgesungen, tremolierend, zu brustig in der Tiefe – in der Rolle der jungen Sklavin zwischen zwei Männern (Gutsbesitzer und Mit-Sklave) eher wie eine Stammesmutter denn begehrtes Liebesobjekt. Ich weiß, ich bin ungalant, und optisch macht Frau Vassileva auf der DVD vieles wett, das das Ohr auf der CD verstärkt wahrnimmt. Schade wirklich. Ich habe sie mal so bewundert. Und ihre Kollegin  Adriane Queiroz auf dem TV/CD-Dokument aus Rio 2016 bei youtube (und als Kauf-CD/Video nur in Brasilien erhältlich), ist da wesentlich liebenswürdiger und hörbarer

Massimiliano Pisapia klingt als feudaler Liebhaber Americo eher schmalbrüstig, rafft sich gelegentlich zu etwas Feuer auf, ist aber nicht wirklich der stramme Gutmensch in einer düsteren Sklavenhalter-Umgebung. Auch da hat Roldolfo Giuliani 2016 die Nase vorn und zeigt Latino-Temperament und Leidenschaft (nebst passenden Schluchzern, wie sich das gehört). Im Vergleich ist sein Gegenpart, der Titelverteidiger Ibara, mit Andrea Borghini noch am besten besetzt. Dessen körniger Bariton hat Charakter, nicht so sehr Schmelz, aber Präsenz – auch optisch – und stimmlichen Aplomb, der die Stimmung und die geforderte Kraft gut bewältigt. Aber auch hier scheint mir Fernando Portari  in Rio 2016 von schönerem Timbre und festerer Verdi-Stimme. (Zudem gibt es bei youtube noch weitere Mitschnitte, so 1979 unter David Machado in Sao Paulo, 2018 unter Victor Hugo Torres in Campinas).

In kleineren Rollen bleibt es auf diesem mittleren Niveau. Elisa Balbo/Contessa, Daniele Terenzi/ Giantéra (der Bösewicht, der Sklaven quält), Dongho Kim/ Conte Rodrigo/ Gotaca sowie Marco Puggioni, Francesco Musinu und Michelangelo Romero sind nicht unrecht und stützen funktional. Chor und Orchester des Hauses in Cagliari tun sicher ihr Bestes und geben eine soliden Rahmen für diese spannende Oper, die sich wie kaum eine andere dem düsteren Problem der Sklaverei kümmert. Schon dafür gebührt Gomes (und Neschling in Cagliari) unsere Anerkennung.

Habenswert ist die Aufnahme auch wieder (wie beim Trouvère Verdis jüngst) wegen des ausgezeichneten Booklets zur CD mit einem informativen Artikel von Danilo Prefumo, aus dem wir einen Passus zur Oper selbst in unserer Übersetzung entnehmen. Dazu gibt es – höchst lobenswert – das Libretto mit englischer Übersetzung, auch dies erstmals und hochwillkommen. G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Einakter und Kurzopern

 

Die Überschrift ist nicht ganz korrekt, handelt es sich doch bei Carl Maria von Webers Peter Schmoll und seine Nachbarn um einen veritablem Zweiakter, wobei der komischen Oper ihre Sprechtexte abhanden kamen, wodurch die 20 Nummern, die im Januar 2019 im Theater an der Wien eingespielt wurden, kommoderweise auf eine CD passen (Capriccio C5376). Eine schöne Repertoireergänzung nach der Marco Polo-Aufnahme aus Münster von 1993 mit den neuen Texten von Willy Werner Göttig. Wie Lortzing kam der Sohn einer Sängerin und eines Kapellmeisters früh mit der Bühne in Kontakt. Nach ersten Versuchen, darunter das 1800 im sächsischen Freiberg uraufgeführte Waldmädchen des 15jährigen, das eine gewisse Verbreitung fand, gelangte Peter Scholl und seine Nachbarn vermutlich im März 1803 in Augsburg auf die Bühne. Der auf einem Roman von Carl Gottlob Cramer basierende Text von Joseph Türk, dessen verlorengegangene Dialoge bei späteren Aufführungen im frühen 20. Jahrhundert anhand der Romanvorlage neu gedichtet wurden, behandelt ein damals aktuelles Kapitel deutscher Geschichte, darin Schuberts Der vierjährige Posten nicht unähnlich. Schmoll und die Seinen sind Flüchtlinge. In den Wirren der Französischen Revolution hat Schmoll sein Vermögen verloren, lebt aber immer noch ganz anständig. Alles andere ist Komödienschablone. Scholl hat ein Auge auf seine bedeutend jüngere Nichte Minette geworfen. Doch diese denkt nur an ihren Karl, der ebenso wie Peter Schmolls Bruder Martin in den Kriegswirren verlorenging. Beide erscheinen rechtzeitig. Webers Oper ist kein realistisches Revolutionsdrama, sondern ein artiges Singspiel im Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit sentimentalen, moralisierenden Wendungen, schlichten Liedern, unter denen Minettes Romanze „Ein Mädchenherz, das wahrhaft liebt“, das Terzett „Spiele, alter Esel du“, wo die derbe zupackende Sprache wiederum an Lortzings oft sprichwörtlich gewordene Zeilen erinnert, das von einem Klarinettensolo eingeleitete Rezitativ und Arie des Karl „Ich bin an meiner Wünsche Ziel“, das Finaletto I  sowie das Schlussquartett „Schert euch zum Satan“ hervorstechen. Das plätschert munter dahin, ist mit den solistisch eingesetzten Flöten, Hörnern und Fagott vielfach kunstvoll instrumentiert, was das ORF Vienna Radio Symphony Orchestra – was für ein gewaltiger Name – unter Roberto Paternostro so liebevoll zu erkennen geben als liege ihnen dieses Singspiel aus der Wiener Schule à la Dittersdorf noch im Blut.  In der einen oder anderen Wendung lassen sich Vorbilder späterer Figuren erkennen. Am ehesten kann man in der von Ilona Revolskaya soubrettenrein gesungenen Minette eine Vorstudie zum Ännchen sehen oder im mit Duett mit Sebastian Kohlhepps engtenoralem Karl „Geliebter Mann“ die romantisch-bedrohliche Atmosphäre des Freischütz erahnen; Kohlhepp beweist in der zuvor erwähnten Arie dann auch Koloraturgewandtheit. Die beiden Brüder Peter und Martin Schmoll sind sich nicht nur einig „Es ist wie ich sprach: Der Klüg’re gibt nach“, sondern klingen bei Paul Adam Edelmann und Thorsten Grümbel auch sehr verwandt. Die fehlenden Sprechtexte werden nicht vermisst.

 

Die Situationen in Stanislaw Moniuszkos ein gutes halbes Jahrhundert später 1861 an dem von ihm seit 1858 geleiteten Teatr Wielki in Warschau uraufgeführten Einakter Verbum nobile (Das Ehrenwort) sind denen bei Weber oder allen Singspielen oder komischen Opern des frühen 19. Jahrhunderts ähnlich. Zuzia, Tochter des Edelmanns Serwacy Lagoda, heiratet schlussendlich Stanislaw und löst damit auch das von ihrem Vater gegebene Ehrenwort ein, den Sohn des befreundeten Marcin zu heiraten, denn Stanislaw ist kein anderer als Marcins Sohn Michal, der sich unter anderem Namen auf dem Landsitz einführte. So einfach ist das. Das Libretto stammt von Jan Checinski, der in dem im 18. Jahrhundert spielenden Stück die später im Gespensterschloss kultivierte Rückbesinnung auf nationale Tugenden und Identität beschwört und eine warmherzige polnische Idylle mit einem in Einklang mit seinen Bauern lebenden Landadel suggeriert, die Moniuszko in seiner Musik aufgreift, die nationale Motive  mit westlichen Singspieltraditionen verbindet. Im Zuge der Unruhen und Demonstrationen gegen die russische Fremdherrschaft und einem nationalen Trauermonat nach dem Tod von fünf Patrioten ging Verbum nobile nach der erfolgreichen Uraufführung unter. Die DUX-Aufnahme aus dem Schloss in Szczecin von 2010 ist nach der Posener Aufnahme von 1969 unter Robert Satanowski die zweite des Werkes. Der Klang der von Warcislaw Kunc mit Chor und Orchester der Schloßoper mit Gefühl für die nostalgischen Eintrübungen der elf abgerundeten Nummern geleiteten Aufnahme ist etwas wattig und fern als käme er aus den Schlossverliesen. Gerne würde man dem Stück, das man heute ironisch filtern würde, auf der Bühne begegnen. Die Anforderungen an die Sänger halten sich in Grenzen, wobei ihre Arien, in den immer wieder italienischer Parlandowitz aufblitzt, kleine Kabinettstückchen sind. Herausragend die Dumka elegia der von Aleksandra Buczek mit flachem Sopran gesungenen Zuzia. Ihr Liebhaber ist der neutrale Michal Partyka als Stanislaw/Michal. Aleksander Teliga und Leszek Skrla verkörpern mit grob gefurchten Bässen als Serwacy Lagoda und Marcin den Typ des aufrechten Edelmanns, wie ihn Moniuszko gerne pflegte.

 

Ebenfalls aus Polen kommt Bizets Djamileh, die im Rahmen des 21. Beethoven Festivals im April 2017 im Konzertsaal der Posener Philharmonie aufgenommen wurde. Die Zusammenarbeit mit dem Voice and Opera Department at Yale School of Music erklärt die Besetzung mit amerikanischen Solisten, die Bizets exotischem Standfoto aus einem Kairoer Harem bei seiner polnischen Erstaufführung Leben einhauchen sollen. Bei der Dux-Ausgabe (1412, in wertiger, zweisprachig englisch-polnischer Ausstattung) dürfte es sich um die dritte Studio-Einspielung nach der Orfeo-Aufnahme von 1983 mit Lucia Popp und einer französischen Aufnahme mit Marie-Ange Todorovitch handeln. Über die von Mahler und Strauss hochgeschätzte Djamileh von 1872 hat sich der Schleier des Vergessens gesenkt, gleich der Titelfigur, die sich Haroun verschleiert nähert, um noch einmal seine Liebe zu erringen. Denn eigentlich tauscht Haroun jeden Monat seine Gespielinnen aus und lässt Splendiano auf dem Sklavinnenmarkt für Nachschub sorgen. Mit Hilfe Spendianos, dem sie sich als Preis versprochen hat, falls die List misslingt, lässt sich Djamileh nochmals bei Haroun einschmuggeln. Der Betrug rührt Haroun derart, dass er sich blitzartig in Djamileh verliebt. Das auf Alfed de Mussets Namouna –Dichtung basierende Libretto von Louis Gallet ist dürftig, die Handlung undramatisch, die Figuren ohne Tiefe. Die Musik jedoch atmet den Duft des Orients, spiegelt die Faszination der französischen Kunst und Musik für ägyptisch-nordafrikanische Welten wieder, wie man sie durch Ingres, Flaubert oder die Musik von David über Massenet bis Delibes kennt und für die die Dux-Ausgabe mit der kostbaren Schmuckstückmalerei einer Haremsdame des katalanischen Malers Francesc Masriera ein schönes Titelbild fand. Lukasz Borowicz führt den Poznan Chamber Choir und das Poznan Philharmonic Orchestra mit großer Delikatesse, aber ansprechender bildhafter Schaulust in die Gemächer des jungen Haroun und kreiert mit den summenden Nilschilffern und den einfallenden Frauenstimmen, mit den vielfältigen Begleitfiguren und instrumentalen Ausmalungen ein kostbares orientalisches Gewirk aus tröpfelnden Klängen und Naturschilderungen;  die Sprechtexte sind mir allerdings manchmal zu aufdringlich. Die Nummern – darunter Couplets, Mélodrame, Chanson, Lamento – nehmen den Gestus der opéra comique auf und besitzen eine Gounodsche Eleganz, die der amerikanische Tenor Eric Marry und der britische Bariton George Mosley aufzunehmen versuchen. Mit ihrem farbig schillernden, leuchtkräftigen Mezzosopran bewahrt die in Karlsruhe engagierte amerikanische Sängerin Jennifer Feinstein die Djamileh vor einer gewissen Fadesse und verleiht der sofort im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Sklavin verführerisch bestrickende Konturen, so dass bald klar ist, dass sie zu Harouns Favoritin aufsteigen wird; das Ghasel „Nour-Eddin, roi de Lahore“ und ihr Lamento „Sans doute l’heure est proche“ macht sie zu einer Vorbotin der Dalilah.

 

Als willkommene Ergänzung erscheint eine Fingerübung des 18jährigen Wunderkinds Bizet. Cameo Classics veröffentlichte nun die beiden identisch aufgebauten und sich in der Spieldauer nur um eine Minute unterscheidenden opéra comiques der Konkurrenten Bizet und Lecocq Le docteur miracle. Es handelt sich um eine am 7. Februar 1954 gesendete BBC-Studioaufnahme mit dem Bariton und späteren Opernleiter Bernard Lefort (u. a. Opéra de Paris und geschiedener Ehemann der unvergessenen Pressefrau Suzy Lefort/ G. H.) und den Sopranistinnen Fanély Revoil, Claudine Collart, bewährten Kräften, die man auch auf den in der Reihe Gaite Lyrique wiederveröffentlichten französischen Rundfunkaufnahmen von Opérettes und operas bouffes aus den 50er und 60er Jahren findet (2 CDs CC9113). Dazu der Tenor Alexander Young. Stanford Robinson dirigiert das Royal Philharmonic Orchestra. 1856 war Offenbch als Directeur des Bouffes-Parisiens auf die Werbeidee verfallen, einen Wettbewerb für junge Komponisten auszuschreiben, die sich an einer einaktigen opéra comique versuchen sollten. Als Preis winkte neben dem Preisgeld eine Aufführung an seinem Theater. Den Text lieferte Offenbachs Orphée- und Belle Hélène-Librettist Ludovic Halévy, den sich Bizet später für die Carmen schnappte. Bizet und der sechs Jahre ältere und erfahrenere Charles Lecocq teilten sich den ersten Preis, worüber Lecocq aufgebracht war, da er vermutete, Bizets späterer Schwiegervater und Onkel des Librettisten Fromenthal Halévy habe seine Hände im Spiel. Ausgehend von einer Komödie Sheridans schrieb Ludovic Halévy ein Vierpersonenstück, in dem ein junges Liebespaar, wie stets, dem widerstrebenden Vater, der gegen die Verbindung Laurettes mit einem Militärangehörigen ist, die Einwilligung zur Heirat abringt. Der junge Offizier Silvio kommt als der titelgebende Docteur miracle ins Haus des künftigen Schwiegervaters. Bizet lässt dazu im Geiste gleich die Soldaten aus Sevilla aufmarschieren und schuf alles in allem eine romantisch melodiöse, südlich scheinende  – das Stück spielt in Padua – Musik mit vielen gustösen Höhepunkten, darunter das herrliche Quartett „Voici l’omelette“. Silvio gibt vor, das Omelette sei vergiftet und rettet als Wunderdoktor die Familie vor dem sicheren Tod, wodurch er Laurettes Hand erringt. Die Aufnahme strotzt vor Vitalität und überspringender vis comica, die Sänger sind ausgebuffte Theaterhasen, denen die Sprechtexte wie selbstverständlich von den Lippen gehen und die den Gesangsnummern alerte Sinnlichkeit geben. So muss französische Operette klingen. Unwiderstehlich. Ein Vergnügen, das fast unvermindert auch in Lecocqs Variante anhält, die stärker in der Tradition der klassizistisch-brillanten, kristallin klaren französischen Gesangskomödie steht.

 

Zeitensprung: Besucher des Aachener Theaters, die sich noch an die Uraufführung aus dem Jahr 2005 erinnern, dürfen sich freuen, dass Michael Gordons (*1956) Acquanetta jetzt in einer 2018 beim Prototype Festival gezeigten chamber version greifbar ist (CA21150). Gordon ist Kopf des 1987 als Bang on a Can formierten Komponistenkollektivs. Das interessanteste an den von Daniela Candillari mit dem Bang on a Can Opera Ensemble und dem Choir of Trinity Wall Street und Mikaela Bennett in der Titelrolle geleiteten zehn musikalischen Sequenzen, in denen sich Schauspiel, Musik und Film zu einem bizarren Tongemälde aus wilden Minimal Music-Fetzen verbinden, ist die Story des B-Movie-Stars Acquanetta. Die zu Lebzeiten nur als Acquanetta bekannte Schauspielerin, die zum „venezolanischen Vulkan“ stilisiert wurde, gelangte Anfang der 1940er Jahre nach Hollywood und wurde durch ihre Mitwirkung in Horrorfilmen kurzzeitig bekannt. Erst bei ihrem Tod 2004 wurde offenkundig, dass die Sexbombe nicht lateinamerikanischer, sondern afro-amerikanischer Abstammung war und Mildred Davenport hieß. Der Film ihres Lebens war „Captive Wild Woman“, in der sich durch das Zutun eines bösen Arztes eine durch Mutation aus einem Gorilla-Weibchen entstandene junge Frau wieder in einen Gorilla zurückverwandelt. Um diese zentrale Szene kreist Gordons mit einem langanhaltend ekstatischen „Oooh“-Geschrei eingeleiteter Thriller, der eine unerbittlich bohrende Intensität annimmt und den man wohl auf der Bühne erleben muss. Rolf Fath

Ab-Ebbendes

 

Vom Meer singt Marie-Nicole Lemieux auf ihrer neuen CD bei Erato (0190295424336). Der französische Originaltitel Mer(s) steht deshalb im Plural, weil die Altistin drei Zyklen interpretiert, die sich thematisch dem Phänomen des Meeres widmen. Zu Beginn erklingen Edward Elgars Sea Pictures op. 37. Die fünf Gesänge auf Texte verschiedener Dichter (darunter Elgars Ehefrau Alice) entstanden 1899 als Auftragswerk für das Norfolk und Norwich Festival. Referenzaufnahmen dieses Zyklus sind die mit Janet Baker und Yvonne Minton, gegen die es die Neueinspielung schwer hat. Die dramatischen Partien der jüngeren Vergangenheit (Azucena, Cassandre) haben Marie-Nicole Lemieux offenbar nicht gut getan, die Stimme ist in ihrer Lasur nunmehr spröder und in der Höhe ausgefasert. Das stört vor allem beim dritten und fünften Titel, dem bewegten „Sabbath Morning at Sea“ und „The Swimmer“ mit einem unschön verzerrten exponierten Ton. Auch vermisst man die schwebenden Momente, die ihre Vorgängerinnen so atmosphärisch gezaubert hatten. Am besten gelingt ihr Nummer 4, „Where Corals Lie“, in ausgeglichenem Fluss. Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine unter Paul Davis begleitet schwelgerisch und wartet auch mit impressionistisch flirrenden Nuancen auf.

Auch bei Ernest Chaussons Poème de l’amour et de la mer mer op. 19 hat Lemieux starke Konkurrenz – wieder ist es Janet Baker, dazu die griechische Mezzosopranistin Irma Kolássi, aber auch französische Soprane wie Régine Crespin haben Modellaufnahmen hinterlassen. Der Zyklus besteht aus drei Titeln, wobei der zweite ein kurzes instrumentales „Interlude“ ist, welches das Orchester in seiner wehmütigen Melancholie stimmungsvoll wiedergibt. Im ersten, dem ausgedehnten„La Fleur des eaux“, klingt die Stimme von Marie-Nicole Lemieux wieder unruhig vibrierend. Reizvoll wirken einige tiefe Noten. Groß rauscht das Orchester auf und findet zu grandioser Steigerung. Solche findet sich auch in Nummer 3, „La Mort de l’amour“, was die Interpretin an Grenzen führt.

Der dritte Zyklus, Victorin Joncières’ vierteilige Komposition La mer, ist eine Weltpremiere auf CD. Sie wurde 1881 in Paris aus der Taufe gehoben. Eine Besonderheit ist die Einbeziehung des Chores, hier der stimmgewaltige Choeur de l’Opéra National de Bordeaux in der Einstudierung von Salvatore Caputo. Die Stimmung des Werkes ist spätromantisch, der mehrfach eingesetzte Hörnerklang erinnert gar an Weber und Mendelssohn. Der Alt und der Chor geben im Wechsel die Stimmen der Nixen, Fischer und Meereswellen wieder. Die Schrecken der Stürme, Blitze und Brandung werden fast naturalistisch geschildert, was zu  dramatisch aufgetürmten Klangwogen führt. Im letzten Stück, „Épilogue“, tröstet die Stimme des Meeres all jene, die in den Wellen den Tod fanden. Lemieux findet hier endlich zu warmen, sanften Tönen, die für die einstige Schönheit der Stimme stehen. Bernd Hoppe

„La vie d’une rose“

 

Unter dem Titel „La vie d’une rose“ ist jetzt eine CD mit Liedern von Jules Massenet erschienen (SOMMCD 0600). Die inzwischen leider viel zu früh verstorbene Sally Silver und deren Begleiter Richard Bonynge haben sie 2017 aufgenommen; in sechs Duetten und mit zwei Sololiedern ist auch die Mezzosopranistin Christine Tocci beteiligt. 25 von insgesamt 285 vertonten Texten geben einen guten Überblick über Massenets Liedschaffen. Oft steht in den Texten außer der Liebe mit all ihren Formen und Folgen die Rose im Mittelpunkt, die auch der „code“ zwischen Massenet und seiner letzten Muse Lucy Arbell war.

Sally Silver entfaltet ihren schönen klaren Sopran und überzeugt mit aufblühenden Höhen sowie ausgefeilter Gesangstechnik. Darüber hinaus besticht sie durch gute Diktion, hat aber auch den Mut, zugunsten des Gesamtklanges mal verschwommener zu artikulieren, um die entscheidenden Worte dann wieder präzise zu setzen. Ihre Gestaltung dieser Lieder spricht den Hörer direkt an. Wunderbar ist die Steigerung in Dieu créa le désert und die kleine Kostbarkeit Être aimé.

Der üppige Mezzo von Christine Tocci wird nicht immer ruhig geführt, was aber zu dem ausdrucksstarken La dernière lettre de Werther à Charlotte gut passt; hier verwendete Massenet ausnahmsweise zusätzlich die Sprechstimme, die einen interessanten Effekt bewirkt. In den Duetten verbinden sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen dagegen erfreulich gut, wobei sie in Le poète et le fantôme deutliche Kontraste setzen. Herrlich ist das jubelnde Joie! der Beiden.

Richard Bonynge ist ein stets aufmerksamer Wegbereiter und Begleiter der Frauenstimmen. Seien es Impulse durch Akkordsetzungen wie in Le coffret d’ébène oder sanftes Flimmern in Aux ètoiles, sein einfühlsames Spiel passt zu jeder Stimmung.

 

Bereits 2016 ist eine CD mit Mélodies von Camille Saint-Saens auf den Markt gekommen. Apartè (AP132) stellt damit die vier geschlossenen Liederzyklen des vielseitigen Komponisten vor, die mit insgesamt 24 Liedern nur einen Teil seines großen Lied-Schaffens ausmachen. Der griechische Bariton Tassis Christoyannis und sein amerikanischer Klavierpartner Jeff Cohen haben sich erfolgreich der Aufgabe gestellt, uns mit diesen selten zu hörenden Zyklen bekannt zu machen. Der erste Zyklus Mélodieses persanes umfasst 6 Lieder, die Saint-Saens auf Gedichte des zur Gruppe „Poètes parnassiens“ gehörenden Armand Renaud aus dessen Sammlung Les Nuits persanes in den frühen 70er Jahren des 19.Jahrhunderts vertont hat. Jedes Lied ist einer bestimmten Person aus seinem engsten Freundeskreis gewidmet wie z.B. La Brise Pauline Viardot oder Tournoiement Lorenzo Pagans. Mit kerniger, höhensicherer Stimme präsentiert Tassis Christoyannis die Lieder, die von orientalischen Einflüssen durchsetzt sind. Besonders intensiv gelingt das ruhig fließende Au cimetière, das stark kontrastiert wird durch Tournoiement (songe d’opium), einem flüchtig dahinfliegenden Traum; bei dessen flimmernder Klavierbegleitung erfreut Jeff Cohen durch größte Fingerfertigkeit, der auch durch Ausdrucksstärke im langen Nachspiel von Sabre en main seine hohe künstlerische Qualität beweist.

Der zweite Zyklus La Cendre rouge entstand 1914 und umfasst 10 Lieder nach Texten von Georges Docquois. Erstmals aufgeführt wurden die Gabriel Fauré gewidmeten Lieder allerdings erst 1916 im Salle Gaveau, wo der Komponist selbst den Tenor Rodolphe Plamondon begleitete. „Die kleine Sammlung enthält sowohl ernste als auch amüsante Stücke, für jeden Geschmack etwas“, wie Saint-Saens an Fauré schrieb. Christoyannis überzeugt mit flexibler Stimmgebung, tragfähigem piano (Ame triste), frisch jubelndem Mai, weich klingendem Zwiegespräch (Amoroso) und gewaltiger dynamischer Steigerung (Reviens!). Cohens unterstützt lautmalerisch wie z.B. bei Pâques mit den aus Rom heimgekehrten Glocken und den getupften Tropfen in Jour de pluie.

Die beiden anderen Zyklen stammen aus Saint-Saens‘ Todesjahr 1921, als er nur zu seinem Vergnügen komponierte, inspiriert durch seine Liebe zur Dichtung des 15. und 16. Jahrhunderts. Da gibt es zunächst die Cinq Poèmes de Ronsard, die die humorvolle Seite des Komponisten zeigen. Herrlich witzig sind das flotte Grasselette et Malgrelette, L’Amant malheureux und L’Amour blessée, in dem der kleine Cupido erfährt, wie groß sein Schmerz durch einen Bienenstich wirklich ist im Verhältnis zu dem Schmerz, den er anderen zufügt mit seinem Pfeil!

Zuletzt entstanden drei kleine Vieilles Chansons, fröhliche Lieder über Natur und Schönheit, deren Le Temps nouveau Saint-Saens‘ letzte Liedkomposition vor seinem Tod war: Ein heiteres, optimistisches Lied, das die beiden Künstler schwungvoll ausdeuteten.

 

Tassis Christoyannis beim Konzert in Versaille/MT

Außerdem hat Aparté (AP181) 2017/18 Mélodies von Charles Gounod herausgebracht, ebenfalls mit Tassis Christoyannis und Jeff Cohen. 24 seiner etwa 150 Vertonungen von Gedichten verschiedener Dichter sind auf der CD vereint, darunter auch ein Text von Metastasio im italienischen Original und drei in englischer Sprache. Christoyannis‘ Bariton hat in der Zwischenzeit noch an Reife gewonnen, klingt wunderbar weich und ist für das französische Lied bestens geeignet. Où voulez-vous aller? nach Théophile Gautier ist sein erstes, 1839 veröffentlichtes Lied: Die beiden Interpreten nehmen es mit jugendlichem Schwung, so dass die gewisse Ironie durch nach oben oktavierte Begleitung der letzten Strophe bestens zur Geltung kommt. Intensiv gestaltet der Bariton Lamento (La Chanson du pêcheur) mit Cohens vorzüglicher Wellenbewegung durch gebrochene Arpeggien. Ô ma belle rebelle nach Jean-Antoine de Baif ist Gounods guter Kenntnis der Renaissance-Musik verhaftet und wird mit sehr klarer Diktion geboten. Höhepunkte sind weiter der elegante Salon-Walzer Si vous n’ouvrez votre fenêtre (Alexandre Dumas, fils), das flotte Au printemps (Jules Barbier) – ein Walzer mit gitarrenartiger Klavierbegleitung –, das einschmeichelnde Liebeslied Maid of Athens (Lord Byron), das dramatisch auftrumpfende Départ (Émile Augier) und die verspielte Sérénade (Victor Hugo) mit kleinen Koloraturen. Man merkt deutlich, dass die beiden Interpreten viel zusammen arbeiten und der Pianist mit dem Sänger atmet. Sehr zu empfehlen zum Kennenlernen. Im informativen Begleitheft – wie immer leider nur in Französisch und Englisch – findet sich viel Interessantes zu Dichtern und Kompositionsstil, auch zu allen Liedern in chronologischer Reihenfolge, die aber nicht der Abspielfolge der CD entspricht!

 

Im weitesten Sinne gehört auch die Einspielung von Liedern von Alfredo Casella in diese Zusammenfassung, da sie während seines knapp 20 Jahre währenden Aufenthaltes in Frankreich entstanden. Die Engländerin Lorna Windsor und der Italiener Raffaele Cortesi haben Le liriche degli „anni di Parigi“ bei Tactus im französischen Original eingespielt (TC880301). Diese Lieder mit ihrer verstärkt eigenständigen, fast orchestral behandelten Klavierbegleitung – zwischen 1902 und 1915 entstanden – üben einen besonderen Reiz aus. Lorna Windsors in Tiefe und Mittellage durchaus füllige Sopranstimme wird leider in der Höhe durch stärkeres Vibrato und Schärfen eingeschränkt. Am besten gelingen die Tagore-Vertonungen L’Adieu à lavie op.26 u.a. mit wunderbar fahlen Tönen in Mort, ta servante, est à ma porte; im Klavier hört man bei A cette heure du départ genau den ankommenden Zug. Cortesi entwickelt gewaltige Klänge, die manchmal die Texte und ihren Gehalt erschlagen, aber ungemein fesselnd sind. Leider sind im Beiheft überhaupt keine Liedtexte und Informationen über die Künstler abgedruckt, nur ein allgemeiner Überblick über Casellas Schaffen in Paris in Italienisch und Englisch – das ist sehr dürftig! Marion Eckels