Archiv für den Monat: September 2019

Trügerisches Cover

 

Noch überaus karriereermunternd zeigt sich das Cover des Buches der Bertelsmann Stiftung mit dem Titel Opernsänger mit Zukunft! ja, mit einem Ausrufezeichen und dem Foto einer strahlenden Sängerin, die offensichtlich gerade, vor dem Orchester stehend, für ihre Leistung gefeiert wird. Bertelsmann hat sich vielfach als Förderer der Sängerzunft gezeigt, sei es als Gestalterin des renommierten Wettbewerbs Neue Stimmen, sei es als Unterstützerin des Opernstudios der Berliner Staatsoper. Nun stellt man ein Buch vor, das zukünftigen Opernsängern Hilfe und Stütze beim Weg zur Karriere sein soll oder aber der Masse der nicht zu den Hochbegabten Zählenden Warnung, aber auch Hilfe beim Finden von Alternativen sein will.

Das Vorwort stammt von Liz Mohn, die stolz verkünden kann, dass 80% der Endrundenteilnehmer von Neue Stimmen Verträge erhalten haben, die aber auch darauf verweist, dass Deutschland zwar ein Land mit einem reichen kulturellen Leben sei, trotzdem aber, nicht zuletzt wegen der harten ausländischen Konkurrenz, es nur wenige Hochschulabsolventen schaffen, eine beachtenswerte Karriere zu starten und durchzuziehen.

Jürgen Kesting ist das Kapitel Der Sänger im globalen Opernbetrieb zu verdanken, in dem er am Beispiel der Karriere von Elisabeth Schwarzkopf nachweist, dass Technik und künstlerische Verantwortung Voraussetzung für den Erfolg als Sänger sind. Er weist aber auch auf die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten hin, auf die Renaissance der Barockoper, die historische Aufführungspraxis und damit den Erfolg von Countertenören, die Konkurrenz aus Ostblock, Asien und USA, aber auch auf die neuen Opernhäuser, die z.B. in China oder im Nahen Osten eröffnet werden.  Talent, Technik und Gestaltung müssen gleichermaßen vorhanden sein, wenn eine Karriere gelingen soll, messa di voce und messa voce (Was ist das? Meint er mezza voce?) sind Voraussetzung. Warnend erhebt der Musikologe seine Stimme gegen zu frühen Einsatz in hochdramatischen Rollen, oft sei eine Karriere eine Art Selbstopfer, ein künstlerisches Dasein in Comprimari-Partien könne durchaus erfüllend sein.  Dieser Beitrag erscheint recht sprunghaft, geizt aber nicht mit wichtigen Einsichten.

Klaus Siebenhaar und Achim Müller sind für die weiteren Kapitel verantwortlich. In einem Kurzüberblick werden die Mängel der derzeitigen Ausbildung an den deutschen Musikhochschulen aufgelistet: es werden zu viele Frauen und besonders zu viele lyrische Soprane ausgebildet, man bereitet die Studierenden nicht genügend auf die Realität außerhalb der Hochschule vor, es wird noch nicht genug auf die durch das Regietheater geforderten neuen Qualitäten eingegangen. Opernstudios, Hochschulproduktionen oder der Unterricht in Chorgesang könnten in weit größerem Ausmaß als bisher üblich hilfreich sein. Auch müssten Persönlichkeitsentwicklung, Selbstvermarktung, Karriereplanung und soziale Kompetenz Unterrichtsstoff werden.

Ausführlich berichten die Autoren über ihr Vorgehen beim Erforschen der gegenwärtigen Situation. Soziologie müsste man studiert haben, um diesen Teil des Buches recht würdigen zu können. Ein Satz wie: „Der gemeinsame Erfüllungsort dieses neuen künstlerischen Selbstverständnisses liegt außerhalb der angestammten Institutionen. Kultur und Stadtentwicklung im Kontext von Anti-Gentrifizierungs- und Migrationsstrategien markieren den operativ-ästhetischen Rahmen , in dem basisdemokratische, genderfixierte oder multikulturelle Praxen eingepasst werden sollen“ macht eher Angst, als dass er zu Einsichten führt. Lieber widmet man sich den zahlreichen Graphiken und Abbildungen, den praktischen Ergebnissen der Interviews und Gruppendiskussionen, nimmt zur Kenntnis, dass die Grenzen zwischen Darbietungen von Laien und Professionellen sich verwischen, „der Künstler seiner tendenziellen Singularität“ beraubt wird. Mancher still vor sich hin Studierende wird erschrocken sein über:“Als kreatives Selbst ist der unabhängige Künstler von heute eigeninitiativ gefordert, diskursiv und praktisch Position und Haltung zu beziehen“.

Sorge macht den Autoren und nicht nur diesen, dass das Opernpublikum überaltert ist, weniger Opernvorstellungen als früher stattfinden, anstelle von Ensembles immer mehr Gastsänger auftreten, damit jungen Sängern keine kontinuierliche Entwicklung mehr garantiert ist.

Da die finanziellen Zuwendungen an die Hochschulen abhängig von der Zahl der Studierenden sind,  wird zu wenig ausgesiebt, werden  Minderbegabte mitgeschleppt. Der Vorschlag, jedem Gesangsstudenten mehrere Lehrer zuzuordnen, könnte allerdings wegen der unterschiedlichen Methoden des Unterrichtens auch zu Verunsicherung und Verwirrung führen.  Opernstudios, Wettbewerbe, Einladung von Agenten in die Hochschulen wären für beide Seiten nützlich.

Musiktheater als „meritorisches“, d.h. nur durch Subventionen erhaltbares Gut ist nach Meinung der Verfasser zwar Anlass zur Freude, weil dadurch Kultur erschwinglich wird, eine allgemeine ästhetische Erziehung gewährleistet ist, birgt aber auch die Gefahr allzu großer Anziehungskraft auf oft besser ausgebildete Kräfte aus aller Welt.

Den heutigen Managern weisen die Verfasser auch die Aufgabe zu, für Publicity und Marketing zu sorgen, allerdings gebe es zu viele schwarze Schafe unter ihnen, die nur an der Vermittlung von Einzelengagements interessiert seien.

Eventisierung und Kommerzialisierung seien Entwicklungen, auf die Sänger reagieren müssten. Um dem gewachsen zu sein, geben die Autoren 7 Empfehlungen für die Ausbildung, zeigen außerdem drei Alternativen auf, wenn es mit der Solistenkarriere nicht klappt: Chor, freier Musiktheaterbetrieb, musikpädagogische Aktivitäten.

Der letzte, umfangreich Teil des Buches ist der Dokumentation gewidmet: Leitfragen, Stichprobenprofile, Fragenkatalog und Exzerpte geben interessante und informative Einblicke in das Leben von Musikern, besonders natürlich auch die finanzielle Seite.

Nicht erst wenn man von Jahresverdiensten zwischen 10000 und 25000 Euro liest, dürfte das von strahlendem Erfolg kündende Titelbild wie ein Hohn wirken (Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2019, 185 Seiten; ISBN 978 3 86793 858 7). Ingrid Wanja

 

ELENA MOSUC

 

In einer Fernseh-Sendung bei Servus TV (moderiert von Ion Holender) hörte man kürzlich Gutes über die Sopranistin Elena Mosuc, als in Muscat das neue Opernhaus von Oman prunkvoll eröffnet wurde und die Lakmé von Léo Délibes in Elena Mosuc eine aufregende Verkörperung fand. Das war uns Anlass zu einem Interview, das Csaba Némedi mit ihr bei den Proben zu Verdis Lombardi gehalten hat, die in Klausenburg im September 2019 Premiere hatten. Und nicht vergessen werden soll, dass Elena Mosuc als beste Sopranistin  für den Opus Klassik-Preis zweimal nimoniert wurde. Und am 1 Oktober 2019 in Teatro Malibran bekommt sie den Oscar della lirica in der Kategorie beste Sopranistin im venezianischen Teatro Malibran! Glückwünsche!

 

Elena Mosuc/ Foto EM

Jahrzehntelang galt die Extrempartie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte als eine Ihrer wichtigsten Visitenkarten in der Opernwelt. Eine Rolle, die Sie nicht nur weltweit mit großem Erfolg in mehr als 250 Aufführungen verkörperten, sondern auch für Sie wichtige Türen öffnete. Wie würden Sie Ihre Interpretation vokaler, musikalischer und darstellerischer Natur beschreiben? Wie haben Sie diesen komplexen Charakter ausgearbeitet bzw. wie haben Sie diesen Vorstellung für Vorstellung selbst erlebt? Als ich während meines Gesangstudiums angefangen hatte, an den Arien der Königin der Nacht zu arbeiten, war ich zunächst davon überhaupt nicht überzeugt, ob diese Arien bzw. diese Rolle überhaupt zu meiner Stimme passt. Die Idee, dass ich mir diese Rolle erarbeiten sollte, kam eigentlich von einem Gesangsprofessor, bei dem ich allerdings nur eine kurze Zeit studierte. Er hatte überdies auch die anfangs etwas merkwürdig anmutende Idee, auch mit Mezzosopranistinnen an dieser Rolle zu arbeiten. [Anm.: sie lacht]. Im Nachhinein betrachtet – noch dazu nach soviel Jahren als Opernsängerin – muss ich aber zugeben, dass seine Idee gar nicht so abwegig war, wenn man seine Unterrichtsmethode und deren Zielsetzung in ihrer Gesamtheit betrachtet. Am Anfang meines Gesangsstudiums hatte ich Angst vor der Höhe. Durch das Erlernen der richtigen Gesangstechnik hat sich dann auch meine Höhe entdeckt und immer mehr entfaltet und sicherer geworden. Aus heutiger Sicht kann ich natürlich darüber lachen, was für eine Angst es mir bereitete, am Anfang etwa ein b zu singen… Ab dem Moment, als die Höhe sich festigte, hätte ich Tag und Nacht die Königin singen können, somit war auch meine ursprünglich vorhandene Angst vor der Höhe weg.

Als ich im Februar 1990 nun mein offizielles Bühnendebut – noch dazu mit der Königin der Nacht geben konnte – war ich bereits in technischer Hinsicht sicherlich soweit sattelfest, dass man dieses Debüt sehr wohl als klaren Erfolg verbuchen konnten. Dennoch ist meine Königin durch das stetige Weiterarbeiten an meiner Stimme, die Festigung meiner Gesangstechnik und die jahrelange intensive Arbeit auch viel stärker, ausdrucksstärker und dramatischer geworden. Um mein Repertoire auch nach der Königin der Nacht erfolgreich erweitern zu können, ist es unerlässlich, permanent an der eigenen Technik zu arbeiten und die Stimme zu pflegen. So folgten auf meine erste Königin in relativ rascher Folge Rollen wie beispielsweise Gilda, Lucia, Violetta, aber auch Donna Anna und Zerbinetta. Während ich die Königin der Nacht anfangs nur als gute und wichtige Übung betrachtete, musste ich später erkennen, dass sie für mich nicht nur das Fundament für mein späteres Bühnenrepertoire bildete, sondern sie half mir sogar bei der souveränen und technischen Bewältigung manch anderer Partien!

Wenn man aber während des Studiums der Königin der Nacht erkennen sollte, dass es doch nicht so recht klappen könnte, dann sollte man lieber ganz die Finger von dieser exponierten Partie lassen, da diese absolut keine halbe-halbe Lösungen zulässt.

Da ich weltweit nicht nur in unzähligen Zauberflöte-Produktionen mitwirkte, die sowohl musikalischer, als auch szenischer Natur teilweise sogar extrem unterschiedlich und herausfordernd waren, festigte sich meine Rolleninterpretation immer mehr. Viele musikalische und szenische Einflüsse trugen dazu bei, mich in der Rolle nicht nur sehr gut, sondern auch sicher zu fühlen. Musikalisch habe ich insbesondere von der regen und inspirierenden Zusammenarbeit mit Maestro-Legende Nikolaus Harnoncourt profitiert, von dem ich eine Menge über diese schwere Rolle  und andere) und deren vielschichtigen Charakter gelernt habe!

Die Königin der Nacht hat nicht nur wichtige Türen in meiner Karriere geöffnet, sondern war ein jahrzehntelanger und konstanter Wegbegleiter meiner Karriere. Außerdem habe ich den Eindruck, dass ich an dieser enorm facettenreichen Rolle von Vorstellung zu Vorstellung, von Produktion zu Produktion, sehr gewachsen bin! Jede Vorstellung war ein besonderen Abenteuer! Vielleicht werde ich sogar mein 30-jähriges Bühnenjubiläum mit ihr feiern…?! [Anm.: sie lacht]

 

 Gibt es eine bestimmte Aufführung oder Aufführungsserie der  Zauberflöte, die Ihnen auch aus heutiger Sicht noch ganz besonders am Herzen liegt? Eine ganz besonders schöne Erinnerung verbindet mich mit einer Produktion am Gärtnerplatz Theater in München (1990) – nicht nur wegen des opulenten und wunderschönen Kostüms, sondern weil es meine allererste Königin der Nacht im Ausland war, noch dazu auf Deutsch, da ich zuvor lediglich zwei Aufführungen in meiner Heimatstadt Iasi auf Rumänisch absolviert hatte…

Am häufigsten trat ich vermutlich in der legendären und sehr beliebten Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle am Opernhaus Zürich auf. Die ausladende und überdimensional große Krone – aus Pfauenfedern angefertigt –  die nicht auf dem Kopf war, sondern hat meine ganzen Rücken bedeckt, war nicht nur atemberaubend schön, sondern auch ziemlich schwer… [Anm.: sie lacht], aber das Publikum liebte diese Produktion sehr! (Dieser Produktion verdanke ich übrigens auch eine kurze, jedoch unvergessliche Begegnung mit der einzigartigen Sopranistin Lucia Popp, die ja zuvor selbst auch als legendäre Königin der Nacht galt. In Zürich sang sie bereits meine Bühnentochter Pamina…)

Die spektakuläre Regie und Kostümierung von Marco Arturo Marelli an der Wiener Staatsoper, die Inszenierung von Pier Luigi Pizzi an der Oper zu Rom und die Produktion an der Leipziger Oper samt in der Luft schwebender Königin der Nacht bleiben mir natürlich auch in guter Erinnerung.

 

Nicht nur die bereits angesprochene Mozart’sche Sternflammende Königin, sondern auch die unterschiedlichsten Belcanto-Heldinnen gehören seit knapp 30 Jahren zu Ihrem Kernrepertoire. Welche Rollen sind aus diesem Repertoire Ihre absoluten Lieblingsrollen und aus welchem Grund? Was macht das Phänomen italienischer Belcanto für Sie aus? Wie ist es hierbei um Technik und Stilistik bestellt? Es ist ein Riesenglück, dass der liebe Gott mir dieses großzügige Geschenk in die Wiege gelegt hat und ich würde mit keiner anderen Sängerin tauschen wollen! [Anm.: sie lacht]. Es ist also nicht mein Verdienst. Mein Verdienst ist hingegen, wenn man das als solches bezeichnen kann (?), dass ich mit diesem Geschenk bzw. an meiner Stimme so lang und hart gearbeitete habe, bis ich soweit war, die Fachpartien des italienischen Belcanto nicht nur technisch und stilistisch, sondern auch in ihrer Gesamtheit souverän und mit Raffinesse zu bewältigen.

Es ist aber natürlich ein kontinuierlicher (Lern-)Prozess, welcher nie aufhört bzw. niemals aufhören sollte! Obwohl es sich um dieselbe Epoche oder sogar oftmals um den gleichen Komponisten handelt, sowie jede einzelne Interpretation etwas ganz spezielles darstellen und erzählen sollte, ist es für mich irgendwie so wie der Duft eines geliebten und vertrauten Parfüms, das man aktuell verwendet, so ist es auch im Fall meiner Belcanto-Rollen: die jeweils Aktuelle ist eben mein aktuelles Lieblingskind!

Wenn ich aber meine bisherigen Belcanto-Erfahrungen Revue passieren lasse, muss ich zugeben, dass ich sehr wohl dazu tendiere, eher die dramatischen und tragischen Rollen zu bevorzugen. (Für manche, die mich persönlich kennen, scheint es oft etwas verwunderlich, denn Humor, Witz, Heiterkeit und Freude sind mir im Privaten alles andere als fremd!) [Anm.: sie lacht]

Elena Mosuc/ Foto EM

Etwa Lucia, Norma, Lucrezia Borgia, Anna Bolena, Maria Stuarda sind aber definitiv ganz oben auf der Skala meiner sogenannten Lieblingsrollen – diesen stehen aber auch Gilda, Violetta und Luisa Miller in nichts nach, insbesondere wenn man sich überlegt, dass die Opernheldinnen des »frühen« und »mittleren Verdi« ursprünglich für Sängerinnen komponiert wurden, die die größten und wichtigsten Belcanto-Primadonnen ihrer Zeit waren…

Belcanto heißt für mich also nicht nur eine ganz bestimmte Epoche oder ein ganz bestimmter  Gesangsstil, sondern schlicht und einfach auch Perfektion. Die Anforderungen an die Sängerinnen und Sänger, denn man braucht hier – nebst eines tollen Stimm-Materials als Basis – absolut alles, was von einem Sänger überhaupt abverlangt werden kann: makellose Technik, perfekte Stilistik, Klasse und guten Geschmack für Phrasierung und Verzierungen etc.

»Wer Belcanto singen kann, kann alles singen!« – soll Maria Callas einst gesagt haben. Eine Aussage und Feststellung, der ich nur vollinhaltlich zustimmen kann. Belcanto ist also auch für mich die unangefochtene Basis, auch wenn ich etwa Rollen von G. Puccini oder gar R. Strauss singe. In diesen Fällen muss natürlich eine entsprechende und zeitgemäße Stilistik ohne Wenn und Aber berücksichtigt und angewandt werden, jedoch ohne die eigene Stimme bzw. Technik zu verstellen.

 

Um beim italienischen Fach zu bleiben, ist es nicht zu übersehen, dass man u.a. den Rollen der Lucia, Violetta und Gilda immer wieder in Ihrem Repertoire begegnen kann. Gibt es für Sie spezielle Verbindungen unter diesen Operncharakteren? Absolut! Es sind zwar allesamt jüngere Frauen, sie erleiden jedoch jeweils ein anderes Schicksal.

Der einzige gemeinsame Nenner unter diesen drei Heldinnen ist und bleibt die Liebe und deren Auswirkungen. Man könnte fast behaupten, die Liebe ist hier eine Art dramaturgisches Leitmotiv, welches eine indirekte Verbindung zwischen Lucia, Violetta und Gilda herstellt.

 

Seit langem gehört ebenfalls die Titelpartie der Donizetti’schen Maria Stuarda Ihrem Repertoire an, also Ihre erste Rolle aus der sog. Tudor-Trilogie. Seit 2007 haben Sie bereits auch die Titelpartie in  Anna Bolena mit großem internationalem Erfolg gesungen. Wie sieht es aber mit Elisabetta I. in Roberto Devereux aus? Haben Sie vor, Ihre eigene Tudor-Trilogie zu vervollständigen? Was ist das Spezielle an der Rolle der Elisabetta I.? Nach meinem erfolgreichen Debüt (2006) in einer wunderschönen szenischen Produktion von Maria Stuarda – unter der Leitung von Ralf Weikert – am Opernhaus Zürich, habe ich anschließend 2007 auch die Partie der Anna Bolena mit Maestro Bertrand de Billy – zunächst konzertant – am Wiener Konzerthaus erarbeitet. Wie man es den div. Tondokumenten dieses Konzerts im Internet entnehmen kann, darf ich auch aus heutiger Sicht dieses Rollendebüt als erfolgreich betrachten. Diese beiden Debüts haben für mich einmal mehr bestätigt, dass es absolut richtig war, diese Entscheidung zu treffen, mich immer mehr auf die Epoche des Belcanto zu konzentrieren – noch dazu mittlerweile auch auf die eher dramatischeren Rollen dieses Repertoires.

Auf diese beiden Rollendebüts folgten dann die weiteren Maria Stuarda-Aufführungen in Berlin und Genova, während ich Anna Bolena zum ersten Mal szenisch in Lissabon, in der Regie von »il grande« Graham Vick singen durfte. (Diese Produktion habe ich letztes Jahr auch am Teatro Filarmonico zu Verona wiederholt, also an jenem Haus, für welches diese Regie von Graham Vick ursprünglich erarbeitet worden war.)

Natürlich ist es ein langersehnter Wunsch, eigentlich ein Traum von mir, endlich »meine eigene und persönliche Tudor-Trilogie« auf der Bühne zu vervollständigen, zumal ich Ausschnitte aus Roberto Devereux bereits vor ein paar Jahren auch auf meiner Donizetti-Arien CD eingespielt habe.

Auch wenn die Sehnsucht schon sehr groß ist, die Extremrolle der Elisabetta I. endlich auf der Bühne verkörpern zu können, muss ich gestehen, dass ich meinem Schicksal dennoch sehr dankbar bin, dass ich diese »Mammutrolle« nicht schon früher singen sollte…(Die ganze Partie sollte ich bereits vor vielen Jahren am Opernhaus Zürich einstudieren, als ich das Cover für Edita Gruberová war – zu einem Rollendebüt meinerseits kam es damals jedoch nicht.)

Das Maximum an Dramatik, was Donizetti hier schonungslos von der Sängerin einfordert, kann eine zarte und bewegliche Stimme sehr rasch ruinieren. Nun kann ich aber beruhigt sagen: »Die Zeit ist reif und ich bin in jeglicher Hinsicht bereit für mein Rollendebüt als Elisabetta I.!«

 

Elena Mosuc als Lakmé in Oman/ EMI

Wir haben bereits Ihre besonderen Markenzeichen – die dramatischen Koloratursopran-Partien Mozarts oder die div. Belcanto-Rollen – angesprochen. Es gibt aber eine weitere tragende Säule innerhalb Ihres Bühnenrepertoires – noch dazu seit dem Anfang Ihrer Karriere: Ihre wichtigen Fachpartien Giuseppe Verdis! Erzählen Sie uns ein wenig über Ihr bisheriges Verdi-Repertoire und Ihre 2018  erschienene Verdi-ArienCD Verdi Heroines. Verdis fantastische Opernheldinnen (Gilda, Violetta – sogar als Hausdebüt an der Scala, Luisa Miller, Leonora, Medora, Desdemona und Alice Ford) aus Fleisch und Blut sind auch schon immer meine große Liebe gewesen, auch wenn man mich hin und wieder gerne in die Schublade mit der Aufschrift: »Mozart und Belcanto-Sängerin« stecken möchte! [Anm: sie lacht]. Auch wenn manche dies nicht wahrhaben wollen, begleiten mich diese Rollen sowieso schon seit Anbeginn meiner Bühnenkarriere. (Die Verdi-Partien der Gilda, Violetta und Luisa Miller habe ich sogar mehrfach an der Mailänder Scala singen dürfen.)

Das Programm meiner Verdi CD dürfte zunächst nicht nur das Publikum, die Rezensenten und die Entscheidungsträger der internationalen Opernszene etwas überrascht haben, sondern es sollte sogar eine Art von mir bewusst gewählter Wegweiser und eine aktuelle Bestandsaufnahme dahingehend sein, wohin mein Weg künftig führen soll, welche Optionen könnte es noch geben etc. So findet man auf diesem Album – neben meinen bühnenerprobten Partien wie beispielsweise Violetta und Leonora (Il trovatore) – sehr viel Neues, insbesondere aus der Epoche des »frühen Verdi«…

Etwa die dramatischen Koloraturen der Lucrezia (I due Foscari) wären sicherlich eine großartige künstlerische Herausforderung, welcher ich mich sehr gerne auch auf der Bühne stellen würde. Ähnlich empfinde ich auch für Amelia Grimaldi (Simon Boccanegra), die ich neulich an der Seite von Thomas Hampson auszugsweise in einer Operngala an den Ljubljana Festival mit großer Freude interpretieren durfte.

(Wenn die Rolle der Königin der Nacht einst für mich derart wichtige Türen der internationalen Opernszene geöffnet hatte, so kann ich guten Gewissens behaupten, dass Giuseppe Verdi bzw. seine La traviata mir – im 17ten Jahr meiner Bühnenkarriere – auch die Türen der Mailänder Scala geöffnet hat – eine Tatsache, die ich niemals vergessen werde (unter der Leitung von Maestro Lorin Maazel). Wie es wohl mit meiner Karriere an der MET weitergegangen wäre, wenn ich dort anstelle von Olympia auch mit einer Verdi-Rolle mein Hausdebüt hätte geben können, beschäftigt mich auch heute noch… denn Verdi verlangt wie seine Vorgänger aus der Epoche des Belcanto – neben einer Top-Stimme, einer felsenfesten Technik – auch sehr viel Einsatz, Enthusiasmus und Leidenschaft!)

Das Programm meiner Verdi CD dürfte zunächst nicht nur das Publikum, die Rezensenten und die Entscheidungsträger der internationalen Opernszene etwas überrascht haben, sondern es sollte sogar eine Art von mir bewusst gewählter Wegweiser und eine aktuelle Bestandsaufnahme dahingehend sein, wohin mein Weg künftig führen soll, welche Optionen könnte es noch geben etc. So findet man auf diesem Album – neben meinen bühnenerprobten Partien wie beispielsweise Violetta und Leonora (Il trovatore) – sehr viel Neues, insbesondere aus der Epoche des »frühen Verdi«… (Dieses mutige Experiment meinerseits dürfte offenbar auch die Fachjury überzeugt haben, da ich soeben erfahren habe, dass ich ausgerechnet wegen meines Albums „Verdi Heroines“ für den Opus  Klassik-Preis 2019 nominiert worden bin!)

 

Es war vor kurzem mehreren Medienportalen zu entnehmen, dass Sie im September in einer ganz großen Rolle des frühen Verdi debütieren werden. Es handelt sich hierbei um die Rolle der Giselda in Verdis selten gespielten,  vierten Oper I Lombardi alla prima crociata. Wie kam es zu diesem ganz speziellen Engagement Das ist eine wunderbare Überraschung und zugleich auch eine fabelhafte Herausforderung, die ich mir – ehrlich gesagt – niemals hätte träumen lassen! Noch dazu all das knapp vor meinem 30-jährigen Bühnenjubiläum.

Ohne überheblich zu klingen, kann ich gerne behaupten, dass es mich selbst auch immer wieder aufs Neue überrascht, welchen abwechslungsreichen Weg ich in diesen Jahrzehnten in puncto Bühnenrepertoire gehen konnte. Am Anfang stand noch wie gesagt die Mozart’sche Sternflammende Königin, eine Rolle, die – wie bereits erwähnt – sehr wohl den ursprünglichen Kern meines einstigen Repertoires darstellte.

Nach zahlreichen anderen Fachpartien für einen Mozart’schen Dramatischen Koloratursopran, unterschiedlichsten Belcanto-Heldinnen bis hin zu den Krönungspartien dieses Fachs wie Norma, Semiramide und Anna Bolena, berühmten Bühnencharakteren des vorwiegend »mittleren Verdi«, einigen bestimmten, großen Rollen aus dem französischen Fach und Zerbinetta – sogar in deren viel virtuoserer, höherer und längerer Urfassung bei den Salzburger Festspielen, war es nun an der Zeit, meine Fühler auch in andere Richtungen auszustrecken und der stetigen Weiterentwicklung meiner Stimme zu folgen…

Der erste konkrete Schritt in diese Richtung war die bereits erwähnte Verdi Arien CD »Verdi Heroines«.  Keine drei Jahre nach den Aufnahmesitzungen zu meinem Verdi-Album darf ich mich nun in einer ersten und kompletten Rolle des »frühen Verdi« auch auf der Bühne ausprobieren!

Im deutschen Sprachraum pflegt man gerne in so einem Fall von einem sogenannten »Fachwechsel« zu sprechen – ich hingegen bevorzuge viel eher die Bezeichnung »Facherweiterung«, auch wenn diese Rollen primär und generell dramatischer sind als die meisten Partien meines bisherigen Bühnenrepertoires, dennoch liegen die Wurzeln dieser »ungezähmten Töchter des frühen Verdi« allesamt in der Epoche des italienischen Belcanto!

A propos italienischer Belcanto! Gerade diese Epoche – inkl. der Schaffensperiode des »frühen Verdi« liegt meinem lieben Freund, Csaba Némedi, dem österreichischen Opernregisseur und Musiktheaterwissenschaftler ungarischen Ursprungs, ganz besonders am Herzen. Nach mehreren Inszenierungen div. Belcanto-Opern in internationaler Besetzung, sowie auch etlichen Vorträgen zu diesem Thema sogar an der Universität Wien, bekam er nun die Möglichkeit, an der Ungarischen Oper zu Klausenburg (Rumänien) I Lombardi alla prima crociata zu inszenieren. Auch nach soviel Jahren Karriere auf den großen und größten Opernbühnen der Welt ist es immer wieder ein wunderbares Gefühl, wenn man im Fall einer geplanten Neuproduktion nicht nur die Erstbesetzung, sondern zugleich auch die absolute Wunschbesetzung eines Dirigenten oder Regisseurs sein darf!

Im Frühstadium des Einstudierens dieser Rolle ist mir aufgefallen, dass die Partie der Giselda bisher von den unterschiedlichsten Sängerinnen interpretiert worden ist. Auch wenn die Aufführungspraxis und Diskografie dieser Oper bzw. dieser Rolle nicht einmal annähernd so reichhaltig ist wie die der anderen berühmten Verdi-Heldinnen, sieht man sofort, dass solch unterschiedliche Sängerinnen in dieser Rolle zu reüssieren wussten wie beispielsweise die junge Renata Scotto – zu einem Zeitpunkt ihrer Karriere, in welchem sie auch noch sehr viele Belcanto-Rollen zu singen pflegte, aber auch Luciana Serra, die man generell als lyrisch-leichte Virtuosa bezeichnen kann. Parallel zu diesen beiden seien natürlich auch Legenden wie die hochdramatische Ghena Dimitrova und die einzigartige Cristina Deutekom erwähnt, die sicherlich die Giselda innerhalb ihrer künstlerischen Generation war… [Anm.: Ich habe mich überdies auch mit der Rezeptionsgeschichte und Aufführungspraxis dieser Rolle in zwei ausführlichen Notizen via Facebook auseinandergesetzt;

 

Fakt ist aber, dass diese Rolle mir – auch bezüglich ihres Temperaments und Charakters – sehr entspricht. Musikalisch betrachtet konzentriere ich mich selbstverständlich auf meine eigene Interpretation, d.h. auch diese Rolle werde ich – ohne jemanden von den großen erwähnten Vorgängerinnen kopieren zu wollen – mit meiner eigenen Stimme singen und mit meinen eigenen stimmlichen Mitteln ausstatten. Da die Stilistik und v.a. auch das heterogene Spektrum der vokalen Anforderungen derart reichhaltig, fordernd und anspruchsvoll ist, ist es absolut legitim und korrekt, sich dieser Rolle belcantesk zu nähern. Trotz aller in der Partie enthaltenen Dramatik, halte ich es für absolut verkehrt, Giselda veristisch anmutend zu interpretieren, zumal es einerseits gar nicht zu meiner Stimme passen würde, außerdem existierte ja zum Zeitpunkt der Entstehung von I Lombardi die spätere Epoche des Verismo noch gar nicht…

Neben den primären Anforderungen an die Stimme und Stimmtechnik darf man im Fall von Giselda auch die Stimmökonomie im Allgemeinen nicht außer acht lassen – man muss sich seine Kräfte irrsinnig gut einteilen, da die Rolle extrem lang ist. Um es vereinfacht auszudrücken, würde ich sagen: Diese Rolle ist genauso lang wie Norma, jedoch mindestens fünfmal schwerer, fordernder und komplexer! Dies wurde mir natürlich auch beim Rollenstudium immer bewusster. Es ist also kein Wunder, dass dieses Werk so selten aufgeführt wird…

Dass ich ausgerechnet jetzt – noch dazu als Wunschbesetzung der rumänischen Erstaufführung des Werks – Giselda singen darf, erfüllt mich mit sehr großer Freude, Dankbarkeit und Demut. Der Erfolg meiner vorausgegangenen Verdi CD und das bevorstehende Rollendebüt als Giselda lassen mich hoffen, künftig auch in weiteren und neuen Verdi-Rollen in Erscheinung zu treten.

Wir sind dankbar der Ungarischen Oper Cluj ( Kolozsvari Magyar Opera, Rumänien ) die uns ermöglichte, diesen Projekt zu realisieren und unseren Traum Realität werden zu werden mit der Première am 26 September 2019.

 

Elena Mosuc/ Foto EM

Nachdem wir bereits über Ihre Karriere als Mozart-, Belcanto- und Verdisängerin gesprochen haben, möchte ich Sie dennoch auf ein weiteres, ganz wichtiges und bedeutendes Rollendebut ansprechen, welches erst im Frühling diesen Jahres stattgefunden hat: Sie sangen zum ersten Mal die Titelpartie von L. Delibes‘ Lakmé am Royal Opera House Muscat. Wie kam es zu diesem – zugegebenermaßen überraschenden – Rollendebüt? Darf man diese Rolle lediglich auf das aus den div. TV-Werbespots bekannte Blumenduett und die mit wahnwitzigen Koloraturen gespickte Glöckchenarie reduzieren? Lakmé ist eine wahre Rarität, bzw. eine eine Rarität geworden… Eigentlich sehr schade!

Vor knapp 20 Jahren, als ich meine erste Arien-CD-Aufnahme gemacht habe, durfte natürlich auch die berühmt-berüchtigte Glöckchenarie aus dem Programm nicht fehlen und es machte mir damals sehr viel Freude und Spaß, diese wahnwitzige Arie zu singen. Nach dem Erfolg dieses Albums habe ich schon irgendwie gehofft, dass ich Engagements für diese Rolle bekäme… aber es kam leider anders.

Ich finde es sehr bedauerlich, dass man diese Rolle lediglich auf die Kehlkopfakrobatik der Sängerin reduziert. Diese Betrachtungsweise ist völlig falsch und lässt eindeutig durchblicken, dass viele Menschen – auch Entscheidungsträger aus der Opernbranche – die Rolle in ihrer Gesamtheit gar nicht kennen…

Dass Lakmés Auftritt – das sogennante orientalische Gebet – oder das Blumenduett  sowie auch die Glöckchenarie ganz klar einen Bravourkoloratursopran erfordern, steht außer Zweifel, aber der Rest der Rolle verlangt eindeutig nach einem vollen und durchschlagskräftigen lyrischen Sopran – nach einer Stimme, die sonst in der Lage wäre, etwa auch die Titelpartie von Madama Butterfly mühelos zu bewältigen. Da die Anforderungen dieser Partie derart heterogen sind, müsste man fast sagen, dass man für diese Rolle zwei verschiedene Sängerinnen bräuchte, nämlich einen Bravourkoloratursopran und einen soprano lirico bzw. soprano lirico spinto. (Noch dazu muss man bei Lakmé immer unterscheiden, von welchem Teil der Rolle man spricht, denn die Glöckchenarie ist eine ganz klare Trennlinie.)

Wenn ich schon im Zusammenhang mit Giselda davon erzählte, welche Schwierigkeiten und spezielle Herausforderungen sich beim Rollenstudium gezeigt haben, muss ich gleich hinzufügen, dass ich fürs Studium der Lakmé gerade mal nur drei Wochen zur Verfügung hatte – erst so kurzfristig bekam ich nämlich die Anfrage vom Royal Opera House Muscat (Oman). (Nur für Giselda brauchte ich vier Wochen, um die ganze Rolle einzustudieren und dies soll auch ein weiterer Hinweis auf den wahren Schwierigkeitsgrad dieser Partie sein…)

In Muscat wir haben drei Wochen hart und intensiv für die Première gearbeitet, ich habe einen Tag- max zwei Tage frei gehabt, war aber sehr motiviert eine schöne Interpretation und einen schönen Charakter zu liefern, das Team war total voll dabei und das Resultat war fantastisch. Der Regisseur Davide Livermore hatte fantastische Ideen und die ganze moderne Technik und alle Möglichkeiten brachten als Resultat eine traumhafte Inszenierung, was das Publikum und die internationale Presse begeisterte.

Abschließend möchte ich festhalten, dass die diesjährige Opernsaison mir drei völlig unterschiedliche und jeweils sehr anspruchsvolle Rollendebüts (Lakmé, Magda – in La rondine und Giselda) beschert hat – noch dazu alles Rollen, mit denen ich fast nicht gerechnet hätte! Es scheint also irgendwie auch mein Schicksal zu sein, während meiner gesamten Karriere, ausschließlich schwere und äußerst anspruchsvolle Partien singen zu dürfen. Ein schweres, aber auch ein einzigartiges und wunderschönes Los, wofür ich sehr dankbar bin!

 

 Kaum haben Sie Ihr Rollendebüt als Lakmé erfolgreich hinter sich gebracht, haben Sie die Nachricht erhalten, dass Sie mit dem International Opera Award – Oscar della lirica (Kategorie: Best Soprano) ausgezeichnet worden sind In der Tat, dieser Preis bzw. diese renommierte Anerkennung war für mich eine Überraschung der ganz speziellen Art! Ich befand mich – nach den bereits erwähnten Lakmé-Vorstellungen – auf dem Heimflug von Muscat nach Zürich…  Die offizielle und feierliche Verleihung findet am 1. Oktober 2019 – im Rahmen eines Festkonzerts – am Teatro Malibran in Venedig statt, wo ich gemäß meines aktuellen Repertoires die große Szene des Giselda aus I Lombardi und natürlich auch die große Aria aus La traviata singen werde. (Das besagte Bühnenjubiläum möchte ich übrigens nächstes Jahr gesondert auch mit einer eigenen Operngala feiern, diese ist also gerade noch in Planung.)

 

Elena Mosuc versichert, die Abbildungsrechte für die hier gezeigten Foto zu besitzen.

 

https://www.facebook.com/notes/csaba-némedi/i-lombardi-blog-elena-mosuc-giselda/2290138567688618/ und https://www.facebook.com/notes/csaba-némedi/i-lombardi-blog-elena-mosuc-giselda/2459722144063592/ ]

Natürlich und bescheiden

 

Wer sich in der DDR mit Barockmusik beschäftigte, kam an Adele Stolte nicht vorbei. Was die gut zehn Jahre ältere Agnes Giebel im Westen war, ist sie im Osten gewesen. Vom einstige Gewandhauskapellmeister Kurt Masur ist der Ausspruch überliefert: „Wenn sie erschien, ging die Sonne auf. Ich habe immer versucht zu ergründen, wie sie trotz ihrer großen Erfolge so einfach – natürlich und bescheiden – bleiben konnte. Ich glaube, dass sie selbst die starke Überzeugungskraft ihrer Interpretationen nie angezweifelt hat.“ Das ist gut beobachtet. Die Stolte singt mit großer Sicherheit und Genauigkeit. Bei ihr kommen zuerst die Noten, danach die Ausdeutung. Ihre Stimme hat Sitz. Sie mogelt sich nicht über heikle Stellen hinweg. Eine gründliche Ausbildung und ihr Begabung bewahrten sie von Risiken jeglicher Art. Nie sang sie über ihre Verhältnisse. Um die Oper hat die am 12. Oktober 1932 im brandenburgischen Sperenberg geborene Pfarrerstochter, die schon frühzeitig mit Musik in Berührung kam, stets einen Bogen gemacht. Es sind keine Bühnenauftritte bekannt. Lediglich für eine in der deutschen Originalsprache gesungene Einspielung von Mozarts Bastien und Bastienne für das Label Eterna unter der Leitung von Helmut Koch ist sie neben Peter Schreier und Theo Adam zu hören – auch in den gesprochenen Dialogen, wobei sich vor allem bei den männlichen Solisten ein leichter sächsischer Akzent bemerkbar machte. Neben Bach-Kantaten im Rahmen der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon ist diese Einspielung auch in der Bundesrepublik erschienen und hat sie auch dort bekannt gemacht.

Berlin Classics hat in seiner Reference-Reihe Italienische Solokantaten von Georg Friedrich Händel aus dem Eterna-Katalog neu aufgelegt (0013972BC). Sie wurden 1970 mit Mitgliedern des Händel-Festspielorchesters Halle eingespielt. Dirigent war der damals achtundzwanzigjährige Thomas Sanderling, der bereits 1966 Musikdirektor in Halle geworden war und langsam aus dem Schatten seines berühmten Vaters Kurt Sanderling heraustrat. Stilistisch ist die schwungvolle Produktion noch der damals in Halle gepflegten DDR-Tradition verpflichtet.

Berlin Classics beließ es denn auch im Booklet bei einem Text von Walther Siegmund-Schulze (1916-1993), der in der DDR als eine Art Händel-Papst galt, ohne darauf hinzuweisen, dass er von 1972 stammt. Er war auf der Rückseite der DDR-LP abgedruckt und nahm Bezug auf die „auf dieser Schallplatte vereinigten Sopran-Kantaten“. Daraus wurden jetzt aus der Feder von Siegmund-Schulze die „auf dieser CD vereinigten Sopran-Kantaten“. Das ist eine unnötige Mogelpackung. Rüdiger Winter

Bassgewaltig

 

Höchste Opernehren wurden ihm mit dem Singen der Titelfigur bei der Scala-Eröffnung im Jahre 2018 bereits zuteil, und so ist es nur natürlich, dass der russische Bass Ildar Abdrazakov seine Verdi-CD  bei DG mit der großen Arie des Attila beginnt, als Uldino assistiert von Rolando Villazón auf absteigendem Charaktertenor-Zweig. Anders als der Tenor, der auch noch als Ismaele zu hören ist, verfügt der Sänger des Hunnenkönigs über urgesunde, unanfechtbare, in Höhe wie Tiefe und in der Mittellage sowieso farbige Stimmmittel, machtvoll, aber nicht tückisch klingend, kein Wüterich, sondern eher ein recht menschliches Wesen im Widerstreit der Gefühle. Die Stimme ist wunderbar ebenmäßig geführt, in der Cabaletta flexibel, und die Höhenfermate am Schluss ist einfach imponierend.

Gar nicht so weit entfernt vom hunnischen ist der spanische König Filippo, nur noch eine Spur empfindsamer, mit einer gut tragenden mezza voce und einem schönen Piano für die Wiederholung von „amor per me non ha“. Der Stimmungswechsel in der Arie wird auch ohne Textverständnis hörbar gemacht, tieftraurig klingt das „nell‘ avello del Escorial“, eindrucksvoll kann auch eine Pause sein wie die vor dem letzten „Ella giammai m’amò“.

Zweimal ist Zaccaria vertreten, der vom unendlich erscheinenden Atem, den großen Bögen, der über dem Chor thronenden Stimme profitiert. Die Cabaletta lässt, so gesungen, nie den Gedanken an Umtata aufkommen. Das Gebet strahlt eine große Ruhe und viel Souveränität aus, der Sänger kann die Spannung ohne Einbrüche halten. Aufgewühlt klingt das Rezitativ des Fiesco, eine kleine Intonationsschwäche glaubt man in der Arie zu erkennen.  Nochmal eine Superfermate beschert der Oberto dem entzückten Hörer, mit großzügiger Phrasierung und souveränem Crescendo-Decrescendo erfreut der Procida, mehr nach tragisch umflortem Machtmenschen, denn nach verlogenem Schurken klingt der Walter aus Luisa Miller.

Angemessen verhangen düster ertönt die Arie des Banco, sich steigernd im Grauen, im Erahnen des Unheils und berührend abgeschlossen mit dem Orchesternachspiel, das und nicht nur dieses vom Orchestre Métropolitain de Montréal unter Yannick Nézet-Séguin Verdis würdig dargeboten. Im zweiten Teil sanft altersmilde, in der Cabaletta völlig frei davon gestaltet Abdrazakov schließlich noch die Arie des Silva, und der Hörer weiß längst, warum der Sänger laut Booklet dem Komponisten dankbar ist für die schönen Arien, die dieser für die Bassstimme geschrieben hat (DG  483 6096). Ingrid Wanja

Mozart-Pasticcio

 

Eine reizvolle Ausgabe auf zwei CDs mit dem Titel Libertà! Mozart et l’opéra veröffentlicht harmonia mundi (HMM 902638.39). Raphaël Pichon und sein Ensemble Pygmalion haben sich in ihrem 2018 aufgenommenen Programm auf Kompositionen Mozarts zwischen 1782 und 1786 konzentriert und in drei Akten ein fiktives Dramma giocoso zusammengestellt, welches Ausschnitte aus unvollendeten Opern und Konzertarien enthält, darüber hinaus sogar Werke von Zeitgenossen einbezieht. So findet sich im ersten Abschnitt, „La folle giornata“ überschrieben, die zart getupfte Serenata des Conte „Saper bramate“ aus Paisiellos Il barbiere di Siviglia. Im zweiten („Il dissoluto punito“) und dritten (“La scuola degli amanti“) sind es Szenen aus Opern Salieris – das Sestetto „O quanto un sì bel giubilo!“ aus Una cosa rara mit seiner motivischen Nähe zum Giovanni und das Sestetto „Son le donne sopraffine“ aus La scuola de’ gelosi.

Solisten dieser frei erfundenen Handlung sind die Soprane Sabine Devieilhe (als La Camériste/L’Amoureuse/Une Fiancée) und Siobhan Stagg (La Comtesse/Une Noble d’Espagne/ Une Fiancée), die Mezzosopranistin Serena Malfi (Le Page/Une Fiancée trahie, La Servante), der Tenor Linard Vrielink (Le Comte/L’Amoureux/Un Soldat), der Bariton John Chest (Le Vieux Borbon/Le Serviteur/Un Soldat) und der Bass Nahuel di Pierro (Le Valet/Le Libertin/Le Vieux Philosophe).

Von Mozart wurden für den ersten Abschnitt Szenen aus Lo sposo deluso, L’oca del Cairo und Idomeneo ausgewählt, ergänzt um einige Konzertarien. Die Ouverture zu Lo sposo deluso ist ein beschwingter Auftakt, der bereits den pulsierenden Drive hören lässt, der sich durch alle orchestralen Teile zieht. Nach dem munteren Quartetto „Ah che ridere!“ aus dieser Oper mit Stagg, Malfi, Vrielink und di Pierro fällt dem Bariton mit der Arie „Dove mai trovar“ das erste Solo zu, das er sehr lebendig vorträgt. Di Pierro singt  aus der Oca die Arie „Ogni momento“, bei der er nicht nur sein schönes Material hören lässt, sondern auch resolut auftrumpft. Danach vereinen Stagg und Vrielink ihre Stimmen im Duett Ilia/Idamante„Spiegarti non poss’io“ aus Idomeneo. Die Stimme des Tenors ist so voller Wohllaut, dass man den Mezzosopran hier nicht einen Moment vermisst.

Die erste Konzertarie ist „Bella mia fiamma“, welche Stagg mit tiefer Empfindung und feinen lyrischen Tönen anstimmt. Auch Devieilhe bezaubert mit zarter Stimme mit „Ridente la calma“.

Im zweiten Abschnitt finden sich wiederum Konzertarien und  Ausschnitte aus Thamos, im dritten aus Der Schauspieldirektor und noch einmal Lo sposo deluso. Die Ouverture und der dramatische  Entracte aus Thamos geben Pichon und seinem Ensemble erneut Gelegenheit, mit federndem Spiel aufzuwarten, dabei auch ernste, gewichtige Töne anzustimmen. Di Pierro singt danach die Konzertarie „Così dunque tradisci“, die in ihrer zornigen Erregung die Verwandtschaft mit dem Figaro-Conte nicht leugnen kann. „Vado, ma dove?“ ist eines der schönsten Zeugnisse dieser Gattung, aber Malfis Stimme mangelt es hier an Noblesse. Dagegen kann Vrielink mit „Per pietà, non ricercate“ wiederum für sich einnehmen. Höhepunkt dieses Blockes ist Devieilhe mit der virtuosen „No, che non sei capace“, die schon von Lilli Lehmann als eine der schwersten Konzertarien Mozarts angesehen wurde. Die Französin meistert die vertrackten Koloraturläufe, staccati und Extremtöne staunenswert. Sie kann im dritten Abschnitt, den die turbulente Ouverture zum Schauspieldirektor einleitet, mit der wehmütigen Arie der Frau Herz „Da schlägt die Abschiedsstunde“ nochmals ihre Kompetenz in Sachen Mozart herausstellen. Chest gefällt in der Konzertarie „Io ti lascio“ und vereint zum Schluss seine Stimme mit denen von Devieilhe, Malfi und  Vrielink im Notturno „Più non si trovano“ als stimmungsvollem Ausklang. Bernd Hoppe

Unersetzlich

 

Es gab für uns als West-Berliner Operngänger eine Zeit, als Aufführungen an der Deutschen Oper so voraussichtlich sicher waren wie die Deutsche Bank. Man blickte beim Anstehen für die Studenten-Plätze auf dem 2. Rang auf das Monatsplakat und wusste: Der oder der andere Abend läuft so ab, wie wir uns das vorstellten. Weil George Fortune den Amonasro sang, den Escamillo (in neuen und selbstbezahlten Samthosen), den  Renato, den Alfio und Tonio, und viele mehr. Es stand ja nicht nur George Fortune auf den Brettern der DOB, natürlich auch seine vielen Kollegen, die wie er ein Haushaltswort an Qualität und Zuverlässigkeit waren: Gladys Kuchta, Hans Beirer, Donald Grobe und Barry MacDaniel, Annabelle Bernard und Karl-Ernst Merker, Robert Kerns und viele, viele andere. Die Deutsche Oper war – wie viele deutsche Häuser der Sechziger/Siebziger und Achtziger noch – ein Ensembletheater von hoher künstlerischer Qualität, eben weil sie so  hervorragende Sänger wie George Fortune als Hauskräfte besaß.

Und an George erinnere ich mich sehr und sehr gerne: diese wirklich bombig sitzende Stimme mit dem ganz eigenen Timbre, ideal für Verdi und dessen Zeit, nie ausfallend, immer präsent, vor allem als Barnabà in der alten Gioconda (die in ihrer wunderbaren Quasi-Original-Pappe noch immer gespielt wird und jedes Mal Szenenapplaus bekommt). Dieser fiese Brunnenvergifter war eine ideale Partie für George, der alle Nuancen der Musik und der Darstellung genüsslich auskostete. Ich habe nie wieder diese Rolle so intensiv erlebt wie durch ihn. Er war an vielen Abenden am Haus einfach nicht entbehrlich. Und meine Erinnerungen an die Deutsche Oper gelten in erster Linie auch ihm, der an seinem Wohnort Berlin auch als ein gesuchter Stimm-Lehrer einen Namen hatte. Nun ist er im hohen Alter am 23. September 2019 gestorben. RIP George. G. H.

 

Sein Stammhaus, die Deutsche Oper Berlin, schreibt: Noch nicht dreißigjährig kam George Fortune 1960 (* 13. Dezember 1931 in Boston) in Europa an.  Er debütierte in Ulm als Ford in DIE LUSTIGEN WEIBER VON WINDSOR von Otto Nicolai und gewann im folgenden Jahr den 1. Preis des renommierten ARD-Wettbewerbs in München. Die Fachkollegen Roland Herrmann und Benjamin Luxon erhielten den 3. Preis. Beim Norddeutschen Rundfunk debütierte George Fortune daraufhin in einer deutschsprachigen Gesamtaufnahme der BOHEME mit einer seiner späteren Paradepartien als Maler Marcello. Mit von der Partie war der Erste Preisträger von 1960, Iwan Rebroff, dessen Karriere abgesehen von Prinz Orlofsky in DIE FLEDERMAUS bekanntlich in andere Gefilde führten. Ebenfalls mit dabei war Evelyn Lear, die bereits mit der Deutschen Oper Berlin (bzw. der Städtischen Oper) im Kontrakt stand, und Donald Grobe, dessen Debüt an der Deutschen Oper Berlin mit Don Ottavio in der Eröffnungsvorstellung DON GIOVANNI unmittelbar bevorstand, sowie William Dooley, der im Jahr darauf nach Berlin kam. Die Aufnahme entstand für eine Fernsehproduktion, die am 25. Dezember 1962 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde (und dank Youtube heute halblegales Allgemeingut ist).

Über Ulm und Augsburg und nach dem zwischenzeitlichen Debüt an der Wiener Staatsoper kam George Fortune 1965 in das Ensemble der Deutschen Oper Berlin, in dem er sich schnell zu einer zentralen Figur entwickelte. Er übernahm in vielen Premieren die Partien seines Fachs und war vor allem auch ein verlässlicher Zweiter, der die Hauptpartien in zahlreichen Repertoirevorstellungen übernahm, auch wenn ihm die Ehre der Premiere nicht zugekommen war. Mit Lorin Maazel trat er seine neue Wirkungsstätte an und in dessen weltweit beachteter erster Berliner Premiere LA TRAVIATA sang er den Baron Douphol. Sein Repertoire war weit gefächert und umfasste sowohl Ur- und Erstaufführungen wie LOVE‘S LABOUR‘S LOST von Nicolas Nabokov oder WIR ERREICHEN DEN FLUSS von Hans Werner Henze, als auch Opernhits wie DER BAJAZZO oder EIN MASKENBALL. Gerd Albrecht setzte ihn gerne bei seinen Erkundungen zur Erweiterung des Repertoires ein, nicht nur sang er den Grafen Tomskij in PIQUE DAME, sondern auch den André Thorel in der konzertanten Aufführung der THERESE von Jules Massenet, die auch – allerdings nicht in der Deutschen Oper Berlin, sondern in Italien – auf Schallplatte/CD aufgezeichnet wurde. Auch in OLYMPIE von Gaspare Spontini, die Albrecht nicht in der Deutschen Oper Berlin realisieren konnte, sondern in der Philharmonie mit dem RSO, wirkte er mit. In der konzertant am Klavier wiederbelebten Oper HOLOFERNES von Nikolaus von Reznicek, die am Deutschen Opernhaus Charlottenburg 1923 uraufgeführt worden war, trat er später in die Fußstapfen des großen deutschen Bassbaritons Michael Bohnen. George Fortune warf sich mit dem gleichen Elan in traditionelle wie moderne Inszenierungen. So konnte man ihn kurz nacheinander in LA GIOCONDA, inszeniert von Filippo Sanjust im Stil der Uraufführung und in DIE MACHT DES SCHICKSALS, inszeniert von Hans Neuenfels erleben. 1995 ließ er sich mit viel Selbstironie auf Götz Friedrichs Spiel mit den Sängern in CARMINA BURANA ein, das auf eine liebevolle Parade der Musikereitelkeiten hinauslief. Das war seine letzte große Premiere an der Deutschen Oper Berlin unter dem damaligen Generalmusikdirektor Rafael Frühbeck de Burgos. Im gleichen Jahr wurde ihm der Titel „Berliner Kammersänger“ verliehen. Mit der Baritonpartie in CARMINA BURANA verabschiedete er sich im März 2001, nach fast 36 Jahren, von seinem Berliner Opernpublikum. Danach trat er noch vereinzelt als Opernsänger u. a. in den USA (wo er 2004 seinen endgültigen Bühnenabschied feierte) und in Berlin noch einmal bei einem Konzert des Ärzteorchesters auf. Weiterhin wirkte er als Gesangspädagoge und bildete eine ganze Generation von jungen Sängern aus.

Der 1931 in Boston geborene Sänger studierte zunächst Philosophie und Sprachen in seiner Heimatstadt und an der Georgetown Universität in Washington D. C. Seine stimmliche Ausbildung erhielt er bei dem berühmten amerikanischen Bariton Todd Duncan, der 1935 in Boston die Rolle des Porgy aus der Taufe gehoben hatte. George Fortunes Stimme zeichnete sich durch eine besondere menschliche Wärme aus, die den in der Farbe bis zur Schwärze dehnbaren Kern umschloss.

Seine größten Erfolge feierte er im italienischen Fach: 1985 gab er als Tonio in PAGLIACCI sein Debüt an der Metropolitan Opera New York, wo er auch der Amonasro in Verdis AIDA, Scarpia in TOSCA und Jack Rance DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN von Puccini war. Oft sang er neben Plácido Domingo, zu dessen Timbre und Art des Singens das seine ideal passte. So in TOSCA, OTELLO, LA GIOCONDA und DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN.

George Fortune hat diverse Schallplatten und CDs eingespielt: neben den erwähnten THERESE und OLYMPIE, ARMIDA von Antonín Dvořák, sowie einige Oratorien wie „Christus“ von Franz Liszt, die „Krönungsmesse“ von Wolfgang Amadeus Mozart und „La Vita nuova“ von Ermanno Wolf-Ferrari.

Wir sind in Gedanken bei der Witwe von George Fortune und wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Quelle Deutsche Oper

 

Skandale in der Direktionsetage

 

Händels Dramma per musica Agrippina ist derzeit auf vielen Bühnen anzutreffen. Jüngst tourten Joyce DiDonato und Franco Fagioli damit konzertant durch Europa, an der Bayerischen Staatsoper gab es im Rahmen der Münchner Opernfestspiele in diesem Sommer eine Neuinszenierung durch Barrie Kosky und nun legt Naxos die Aufzeichnung vom März 2016 aus dem Theater an der Wien vor, welche eine Inszenierung von Robert Carsen festhält (2.110579-80). Der Regisseur und sein Ausstatter Gideon Davey holten die Handlung um Kaiserin Agrippina, die ihren Sohn Nerone zum Nachfolger des vermeintlich gestorbenen Kaisers Claudio machen will, in die Gegenwart. Zu Beginn sitzt sie im schwarzen Lederrock (!!!) in einer hohen Halle, die (mal wieder) an Mussolinis Architektur erinnert, am modernen Schreibtisch mit Computer und Telefonanlage. Nerone im Schlafanzug zappt in den TV-Programmen. Wie originell und neu…

Patricia Bardon singt die Titelpartie mit strengem Mezzo von hoher Autorität. Schon ihre erste Arie, „L’alma mia“, zeigt die Flexibilität der Stimme und das unvermindert große Volumen auch in den Koloraturläufen. Jake Arditti ist ein jungenhafter Nerone mit jugendlichem Countertenor. Für das Fernsehen wird eine Szene inszeniert, wo er Almosen an die Armen verteilt, um sich beim Volk beliebt zu machen. Die Kaiserin versichert sich der Unterstützung ihrer Gefolgsleute Pallante (Damien Pass mit imposantem Bassbariton) und Narciso (Tom Vereney mit hohem Counter von larmoyantem Klang), die beide in sie verliebt sind. Nacheinander versuchen sie gar ein stürmisches Liebesspiel mit ihr auf dem Schreibtisch. In Trauerkleidung gibt sie sich danach pathetisch ihrem Schmerz über den toten Gatten hin, während sein Diener Lesbo im dreiteiligen korrekten Anzug und Brille (Christoph Seidl mit verquollenem Bass) unter Trompetengeschmetter dessen Rückkehr verkündet. Es war der getreue Ottone, der ihm das Leben rettete und dafür die Thron-Nachfolge versprochen bekam. Der Counter Filippo Mineccia singt ihn mit passioniertem Einsatz und virtuosem Vermögen. Ottones Liebe gehört Poppea, die aber auch von Kaiser Claudio und Nerone hofiert wird. Danielle de Niese singt sie verführerisch, die reich verzierte Auftrittsarie „Vaghe perle“ absolviert sie kokett im Spitzenunterkleid in einem großen  Rundbett. Wenig später beweist sie in„Fa’ quanto vuoi“ vehemente Koloraturattacke, denn die Intrige der Kaiserin zeigt ihre Wirkung: Sie machte Poppea glauben, Ottone habe sie verraten und im Tausch gegen den Thron an Claudio abgetreten, Seine Aufwartung kündigt der Kaiser (Mika Kares mit grobem Bass) mit prachtvollen Blumenbuketts an. Seine Leidenschaft  für Poppea führt zu einer turbulenten Bettszene mit unfreiwillig komischer Wirkung. Sie beendet den 1. Akt mit der bewegten Arie „Se giunge un dispetto“, in welcher de Niese mit äußerster Entschlossenheit den Konflikt der Figur schildert.

Den 2. Akt eröffnet Ottone mit der furiosen Arie „Coronato il crin d’alloro“. Er ist in Ungnade  gefallen, kann aber Poppea seine Treue beweisen. Seine Arie „ Voi che udite il mio lamento“ ist eine schmerzliche Klage, die der Counter mit tiefer Empfindung vorträgt. Der Schauplatz wechselt zu einem Swimmingpool, umgeben von Badenixen auf Liegestühlen, wo Poppea die launische Arie „Bella pur nel mio diletto“ singt, während Ottone mit „Vaghe fonti“ eine der schönsten Eingebungen Händels anstimmt – ein kurzes Arioso in siciliano-Manier. Auch Nerone kann gefallen in dem kantablen “Quando invita la donna“, das er in Badehose mit der Gitarre wie ein Ständchen vorträgt. Dann folgt Agrippinas große Szene „Pensieri“, vom Orchester mit harschen Akkorden eingeleitet und begleitet, in der die Interpretin auch heulende Töne nicht scheut und im Mittelteil sich in rasenden Furor steigert. Sie fordert Pallante und Narciso auf, Ottone zu ermorden, und ringt Claudio das Versprechen ab, Nerone statt Ottone zum Thronfolger zu bestimmen. Den 2. Akt beendet sie mit dem beschwingten und an Trillern reichen „Ogni vento“, wo es bei den hohen Noten einige grelle Momente gibt.

Im 3. Akt  in Poppeas Salon finden die Verwirrungen ihren Höhepunkt, aber alles nimmt einen glücklichen Ausgang. Poppea und Ottone besingen in einem innigen Duett („No, ch’io non apprezzo che te“) ihr Glück, während Nerone noch die rasante Bravourarie „Come nube“ zufällt, in der sich die Koloraturläufe zu überschlagen scheinen. Arditti beweist hier seine hohe Kompetenz im Barockfach. Das letzte Solo aber gebührt der Titelheldin – das getragen-sanfte „Se vuoi pace“  beweist auch akustisch, dass sich (scheinbar) alle Wogen geglättet haben. Denn leider verzerrt Carsen dieses lieto fine, indem er eine ausgelassene Orgie mit Feuerwerk, Konfetti, Sex und Alkohol zeigt. Am Ende lässt der offenbar wahnsinnig gewordene Nerone seine Mutter und Poppea ermorden.

Kein Einwand aber lässt sich gegen Thomas Hengelbrock finden, der das Balthasar Neumann Ensemble zu einer Glanzleistung führt. Das Preludio im 2. Akt  ist von fiebriger Spannung, der nachfolgende Chor „Di timpani e trombe“ von pompösem Glanz. Selten hat man den Dirigenten am Pult so stringent, differenziert und Affekt geladen erlebt. Bernd Hoppe

Fabelhaft

 

Eine durch und durch beglückende CD ausschließlich mit Arien aus MozartOpern hat Daniel Behle bei Sony aufgenommen und stellt den Betrachter des Covers vor das Rätsel, warum das Z im Namen des Komponisten durch Farbe und Größe hervorsticht. Dadurch entsteht das Wort Zart, das allein aber nicht von der Zielsetzung des Sängers künden dürfte, denn gleich mit den beiden ersten Tracks nach der Ouvertüre zu Don Giovanni versucht der Tenor mit Erfolg eine Rehabilitierung des Don Ottavio, in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten auf der Bühne häufig ein rechter Schlappschwanz, der sich von Donna Anna, die eigentlich nicht nach seinen, sondern nach den Umarmungen des Don Giovanni lechzt, an der Nase herumgeführt wird. Der Don Ottavio Behles ist durchaus ein zart-zärtlicher, sensibler, aber zugleich ein durch und durch nobler, aristokratischer Opernheld, der bei „morte“ im „Dalla sua pace“ auch heldisch auftrumpfen kann, der variationsreich in den Wiederholungen ist und doch nie den Mozart-Stil verleugnet, nie die Gesangslinie verletzt, feinste Pianissimi ebenso wie heldisches Aufbegehren zum Ausdruck bringen kann. In der zweiten Arie des Don Ottavio gestaltet der Sänger hoch virtuos in den Koloraturen, die stets sinnerfüllt bleiben, schlägt ein angenehm zügiges Tempo an, kann entschlossen herrisch im „vendicar io vado“ werden wie auf dem Weg zum Zwischenfachtenor. Das alles mit gleichbleibend noblem Timbre und ohne die Spur eines Registerbruchs.

Gleich alle vier Arien des Belmonte sind auf der CD vertreten, alle vorbildlich textverständlich gesungen und dem Hörer suggerierend, er vernehme sie zum ersten Mal. Phantastisch ist im „Hier soll ich sie nun“ der Schwellton auf der Fermate („bringt“), wie der Ottavio offenbaren die Art des Singens und die Farbe der Stimme einen so sensiblen wie aristokratischen Charakter. Agogikreich wird „Konstanze, dich wiederzusehen“ interpretiert, mal wie innerlich bebend, mal in bruchloser Steigerung wie bei „es hebt sich die schwellende Brust“, ein zartes Tongespinst ist „Traum“ und „ängstlich“ wie „feurig“  sind hörbar nicht nur durch den Wortsinn, sondern auch die vokale Gestaltung. Mühelos wird in „Wenn der Freude“ mit den Verzierungen gespielt, und die gern gemiedene „Baumeisterarie“ erfreut durch eine großartige Phrasierung und durch Verzierungen, die mit Sinn erfüllt werden.

In der Bildnisarie des Tamino scheint die Stimme zu strahlen, entwickelt sich „die Liebe“ variationsreich in den Wiederholungen bis zum Jubelton, ist das „mein“ so viril wie zärtlich, bis es im Überschwang seine Krönung findet.

Von ätherisch schwebend bis zum Überschwang sich steigernd besingt Ferrando in der Cosi die „aura amorosa“, im selten aufgeführten „Io veggio“, „Tradito“  ist nicht auf der CD  vertreten, findet ein ausdrucksstarker Wettstreit zwischen einander widerstreitenden Gefühlen statt. Die Ouvertüre zur  Così wird vom L’Orfeo Barockorchester unter Michi Gaigg verspielt hurtig, die zu Don Giovanni duftig leicht im Presto, dramatisch wo angebracht gespielt.

Die leichte Emission der Stimme Behles, das noble Timbre imponieren in der Arie aus La Betulia liberata ebenso wie die Koloraturgeläufigkeit und das schlank bleibende Forte. Die beiden Herrscher Tito und Idomeneo zeigen die Stimme auf dem Weg in ein neues Fach, eine wunderbare Gralserzählung deutet sich an, aber durchaus auch ein heldisches „Heil König Heinrich“, und Fritz Wunderlich hätte nichts dagegen, dass ihn Daniel Behle zu seinem Vorbild gewählt hat. Schöner und erfüllter kann man Mozart nicht singen (Sony 19075964582). Ingrid Wanja

 

Oper und Film

 

Sympathische Bescheidenheit ziert das Buch Oper und Film, das ein gutes Jahr nach dem Symposium gleichen Namens an der Deutschen Oper erschienen ist und mit dem Untertitel Geschichten einer Beziehung andeuten will, dass nichts Allumfassendes und Endgültiges zum Thema gesagt werden sollte und konnte. Anlass war die höchst erfolgreiche Aufführung von Erich Korngolds Das Wunder der Heliane an der Deutschen Oper Berlin, eines Musikers, der zugleich Opern- und Filmkomponist war, oder besser gesagt nacheinander, dessen Opernmusik man die Nähe zu der des Films, dessen Filmmusik die zur Oper nachsagte.  Arne Stollberg, Stephan Ahrens, Jörg Königsdorf und Stefan Willer sind für das Buch verantwortlich und enthüllen im Vorwort, dass bei seinem Erscheinen auf der Bühne der Kultur der Film bezeichnenderweise als Bedrohung für die Oper empfunden wurde.

Es gibt zehn Artikel über unterschiedliche Facetten des Themas, wovon sechs sich mit Opernhaftem im Film und vier mit Kinohaftem in der Oper befassen. Der Video-Regisseur von „Das Wunder der Heliane“ äußert sich zudem über seine Arbeit, in einer abschließenden Diskussionsrunde sprechen Filmschaffende wie der Opern Verbundene zum Thema. Es fällt auf, dass die Beiträge desto konkreter, nachvollziehbarer und dem gemeinen Opernliebhaber zugänglicher werden, je mehr der Verfasser bzw. Diskussionsteilnehmer praktische Arbeit am Sujet, sei es Film oder sei es Oper, geleistet hat, während die rein theoretisch mit beiden Gattung Befassten eher schwer zugängliche, sehr im Abstrakten, Soziologischen, Gesellschaftswissenschaftlichen verhaftete Beiträge leisten und ihre Texte eher die Gefahr laufen,  recht unverdaulich zu bleiben.

Als Beispiel für einen sehr gelungenen, nachvollziehbaren Beitrag kann der von Volker Schlöndorff über seine Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze, beginnend mit dessen Musik zu „Die Leiden des jungen Törleß“ oder besser Der junge Törleß gelten. Da bleiben die Ausführungen nicht nur ein dürres Knochengerüst des Abstrakten, sondern gewinnen durch die treffenden Beispiele Fleisch und Blut.

Es beginnt mit Janina Müllers Artikel „Das Opernhafte im Film- eine intermediale Spurensuche“, der die Autorin zur Erkenntnis führt, dass es drei Formen desselben gibt: die reproduzierende, die imitierende und die simulierende  Systemerwähnung. Zu allen werden Beispiele angeführt, so Cavalleria Rusticana in der Godfather Trilogie.

Volker Mertens schreibt über Puccini und sein Verhältnis zum Film, spürt Filmhaftes in Tosca oder Fanciulla auf, wobei natürlich zu bedenken ist, dass beide Opern auf literarischen Vorlagen aufbauen, über die sich eventuell bereits Gleiches sagen ließe.

Norbert Abels‘ „Die Fernsehoper“ betrachtet die nur etwa fünfzig Jahre überdauernde  Gattung vor allem mit dem Blick auf die USA, sieht einen wesentlichen Unterschied in der Nähe der Fernsehoper im Vergleich zur Distanz der im Opernhaus genossenen.

Uta Felten befasst sich mit Peter Sellars‘ Mozart-Inszenierungen, die er nicht wie Bondy für den Bildungsbürger, sondern für ein Fernsehpublikum gemacht haben dürfte. Immacolata Amodeo erklärt etwas zugespitzt, dass Fellini-Filme die italienischen Opern des zwanzigsten Jahrhunderts seien, melodrammatico, also opernhaft. „E la nave va“ wird als Beispiel angeführt, in dem das Opernhafte zum Strukturprinzip geworden sei. Sie wie auch einige der anderen Verfasser zitiert gern Adorno, der Artikel selbst aber liest sich weit besser als Texte des Angeführten.

Dirk Naguschewski geht es um afrikanische Carmen-Adaptionen, von denen es immerhin zwei, aus Senegal und Südafrika, innerhalb der insgesamt gut hundert gibt. Natürlich darf der Hinweis auf Nietzsche, der meinte, die Musik zu Carmen habe etwas Afrikanisches, nicht fehlen. Panja Mücke schreibt über den Film „Der Rosenkavalier“, für den Strauss selbst tätig wurde, der in ihm nicht eine Konkurrenz, sondern eher Werbung für seine Oper sah , auch wenn in ihm die Musik nur Illustration blieb. Der zweite Teil des Artikels ist Kurt Weill gewidmet, der seine einaktige Oper durch einen Film in zwei Hälften teilte.

Arne Stollberg widmet sich, und damit kommt das Buch zum Anlass für sein Entstehen, dem Komponisten Korngold, der nach 1945 als Opernkomponist nicht mehr für voll genommen wurde,  obwohl nach Meinung des Verfassers nicht „Die tote Stadt“ bereits Filmmusik war, sondern durch Korngold in die Kinosäle Opernmusik geführt wurde. Interessant ist, dass Humperdinck keinen Image-Schaden durch gleiches Tun erlitt. Auch Stephan Ahrens befasst sich mit Korngold, mit seiner Meinung, Filmmusik sei eine neue Kunstform, gleichwertig mit den bereits vorhandenen Gattungen, mit seiner Weigerung, wahrzunehmen, dass die Musik am weitesten entfernt ist von der Realität, der Film ihr am nächsten ist. Anhand von Beispielen wird klar, dass bei Korngold Bild und Ton gleichermaßen um Aufmerksamkeit kämpfen, Musik nicht nur illustriert oder unterstreicht.

David Roesner geht es in seinem Beitrag nicht um den weit verbreiteten Einsatz von Videos in Operninszenierungen, sondern, am Beispiel von Nonos „Al gran sole carico d’amore“  in der Regie von Katie Mitchell um den Film im Zentrum der Inszenierung, als integraler Bestandteil bereits bei der Entstehung. Es werden auch andere Beispiele dafür angeführt.

Götz Filenius betreute die Aufzeichnung der Berliner Produktion  und schildert im Gespräch mit Jörg Königsdorf so klar und verständlich wie sympathisch diese Arbeit.

In der abschließenden Podiumsdiskussion äußerte sich auch der Regisseur von „Wolfsschlucht“, jüngst uraufgeführt in der Tischlerei der Deutschen Oper  und irritiert mit dem Ausspruch: „Meine Wirklichkeit, das ist es, was ich erzählen kann“. Addio fantasia! Kurze Vitae der Autoren und ein Personenregister vervollständigen das Buch (255 Seiten, 2019  Verlag edition text + kritik; ISBN 978 3 86916 707 7; Abbildung oben Theaterzettel Wien 1927/ Theatermuseum Wien). Ingrid Wanja      

Elend des Klassik-Establishments

 

Mozarts Zauberflöte zählt zu den beliebtesten und meistaufgeführten Opern überhaupt – und auch auf Tonträger kam sie ungezählte Male. Nun ist eine weitere Aufnahme erschienen, bei der ehrwürdigen Deutschen Gammophon, die ja schon einige Aufnahmen dieser Oper vorweisen kann.

Der Musikkritiker ist ja jetzt mal wieder der Buhmann, wie die neuesten Bodyshaming-Skandale beweisen. Es scheint sich allgemein die Theorie durchzusetzen, dass Musikkritiker nur dann kompetente und brauchbare Menschen sind, wenn sie das Establishment loben und füllige Frauen nicht füllig nennen (Salzburg). Wenn sie etwas beanstanden oder die Dinge so sagen wie sie sie – buchstäblich – sehen, sind sie natürlich ahnungslose Dilettanten, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.

Vielleicht ist dies einer der letzten Verrisse, den ich schreibe, bevor auch ich beschließe, aus Bequemlichkeit dazu überzugehen, nur noch „Empfehlungen“ auszusprechen, um dem Facebook-Shitstorm zu entgehen. Wir müssen ja, wie mir mal ernsthaft eine Opernsängerin schrieb, die Aufnahmen gar nicht besprechen, die uns nicht gefallen. Damit ersparen wir uns und den Machern jede Menge Ärger. Schöner Tipp.

Der Mensch lebt gern sicher und bequem. Und wer heute an Idole rührt, lebt gefährlich. Das Entsetzliche in unserer Schönen Neuen Welt ist, dass nunmehr fast nur noch das Fan-Urteil geduldet wird und keine echte Kritik. Der Fan weiß schon vor der Aufführung, dass es ihm gefallen wird. Der Kritiker weiß es erst hinterher.

Mein Endruck – ein grauenvoller Tamino: Klaus Florian Vogt ist schlicht und für mein Empfinden ein grauenvoller Tamino. Weil sich in dieser Interpreation rein gar nichts von der Sinnlichkeit der Musik überträgt. Die Stimme wirkt auf mich auf der neuen Aufnahme bei DG grau, flach, unlyrisch, dieses Unschuldsgefühl, das man bein Hören der frühen Vogt-Aufnahmen hatte und das bei Figuren wie Lohengrin oder Parsifal so verlockend und plastisch herausgearbeitet war, ist futsch. Das alles stellt sich hier für mich nicht ein, für mich ist das eine absolut langweiliger Interpretation (Ein Vogt-Fan schrieb auf meine Radiokritik hin: „Aber welcher Tamino klingt nicht langweilig?“ Kein Kommentar!!!) Geblieben ist der große Name des Tenors, aber nicht viel mehr.

Pure Clownerie: Rolando Villazón gibt den Papageno, und Regula Mühlemann muss ihn als Papagena begleiten. Selbst Karl Kraus wäre nicht in der Lage, das ganze Elend der Klassik-Estasblishments knackiger in einem einzigen Satz zusammenzufassen. Mehr müsste man dazu gar nicht sagen. Ich tu´s aber doch, selbstmörderisch wie ich bin.

In der schönen Produktion der Nozze di Figaro der Deutschen Grammophon von 2016 war Villazón noch bescheiden. Da beschränkte er sich mit der kleinen Rolle des Basilio, die er auch überzeugend ausfüllte. Nach der bewährten Märchenmethode vom Fischer und seiner Frau waren es in den folgenden Jahren Ottavio, Belmonte und Tito. Nun hat er sich die Bariton-Rolle des Papageno geschnappt – und sitzt wieder in der Hütte. Hier begibt sich Villazón auf die Spuren seines großen Vorbilds Plácido Domingo, der ja auch verstärkt Baritonrollen singt, doch was bei Domingo zumindest nicht gruselig klang, ist bei Villazón reine Clownerie. Ein Tenor, der augenzwinkernd so tut, als wäre er Bariton. Das kleine Duett mit Papagena macht auf tragische Weise den Abgrund deutlich, der zwischen ihm und einer echten Mozart-Sängerin (Mühlemann) aufklafft – was Villazón macht, hat überhaupt nichts mit Mozart zu tun, das ist bei aller Artistik Edelklassik-Klamauk. Was Regula Mühlemann macht, hat extrem viel mit Mozart zu tun, sie ist eine stilsichere Künstlerin.

Da zeigt sich die ganze Gönnerhaftigkeit und Arroganz einer elitären, Promi-Namensbefrachteten Klassik-Szene. Auf Youtube sind Nezet-Seguin und Rolando Villazón zu sehen, wie sich darüber freuen, dass Frau Mühlemann auf der Zauberflöte mit dabei ist. Dann wird darauf verwiesen, dass sie auch schon in der Figaro-Produktion mitgesungen hat. Hat sie. Als Barbarina. Toll. Da kann sie eine Minute lang singen. Und in der Zauberflöte darf sie schon zwei. Regula Mühlemann ist eine der aufregendsten Nachwuchs-Mozart-Sängerinnen schlechthin, sie steckt Vogt und Villazón locker in die Tasche, was Stilsicherheit bei Mozart angeht. Muss sich aber einrahmen lassen wie eine Debütantin.

Auch die Königin der Nacht überzeugt mich nicht ganz. Die russische Sängerin Albina Shagimiruratova ist sicher eine routinierte Sopranistin, aber zu einer zupackenden Königin gehört nun mal auch Textverständlichkeit. Eine passable Künstlerin, aber zu klein für (die Preise von) Baden Baden und das große Label der Deutschen Grammophon.

Wie Butter und Zucker: Viel Niederschmetterndes ist von dieser Zauberflöte gesagt worden – gibt’s auch was Positives zu vermelden? Natürlich. Nezet-Seguin ein großer Könner, ich mag den Drive und den Witz seiner Orchesterführung, seine Zusammenarbeit mit dem Chamber Orchestra of Europe ist wie immer ein Highlight dieser Mozart-Serie, die beiden passen zusammen wie Butter und Zucker. Eine eindeutige Steigerung ist in Baden Baden nach dem guten Vokalensemble Rastatt der exzellente RIAS Kammerchor. Die solistische Säule der Aufnahme ist Christiane Karg als Pamina, wie immer klar, hell, stilistisch blitzsauber, mitunter von dem mädchenhaften Charme beseelt, die Helen Donath in dieser Rolle einst hatte – eine Musterpamina. Fast möchte man sie anhimmeln, aber das liegt natürlich an einer akustischen Täuschung. Wie sagt Mark Twain so schön: Man ist geneigt, Schönheit zu überschätzen, wenn sie selten ist (Mozart: Die Zauberflöte;  mit Rolando Villazón, Klaus Florian Vogt, Christiane Karg, Albina Shagimuratova, Franz-Josef Selig, Regula Mühlemann;  RIAS Kammerchor; Chamber Orchestra of Europe, Dirigent: Yannick Nézet-Séguin; Deutsche Grammophon, 2 CD DG 4836400). Matthias Käther

 

Verdis „Trouvère“

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Die französische Version des Verdischen Trovatore als Le trouvère ist ebenso selten wie kaum gespielt anzutreffen. Umso gespannter war die Erwartung und gewisse Enttäuschung als Die Verdi-Festspiele in Parma 2018 diese Oper vorstellten (davon mehr im nachstehenden Bericht von Rolf Fath). Dynamic hat dies Ereignis akustisch festgehalten. Aber serlöser Weise war dies – außer der antiken Aufnahme von 1912 unter Francois Ruhlmann – nicht die erste Aufführung der französischen Ausgabe von 1865. Die gab es bereits 1998 in Martina Franca unter Marco Guadarini, ebenfalls bei Dynamik veröffentlicht, noch riskanter als die in Parma 2018 muss man sagen. Dennoch – der enthaltene Artikel von Vincenzo Raffaele Segreto allein lohnt die Anschaffung wegen seiner „Aufdröselung“ der Umstände zur Komposition und der Darlegung der Unterschiede zur italienischen Version . G. H. 

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Nun also Vincenzo Raffaele Segreto: «Gegen Ende 1854 lud mich die Leitung des Théâtre des Italiens während der Proben zu den Vespri an der Opéra ein, zu den Proben des Trovatore mit der Frezzolini, der Borghi-Mamo und dem Bariton Graziani zu kommen. Der Erfolg machte dem Direktor der Opéra Lust darauf, die Borghi-Mamo und Graziani für einen französisch gesungenen Trovatore zu verpflichten. Graziani konnte nicht engagiert werden, weil er anderswo Verpflichtungen hatte, aber die Borghi Mamo nahm an, nachdem sie ihre Aufführungen am Théâtre des Italiens beendet hatte, wo sie im Jahr darauf wieder Trovatore singen sollte. Die Vespri hatten – glaube ich – im Juni 1855 Premiere, und gleich darauf wandte man sich der Übersetzung des Trovatore zu. Damals tauchte Escudier mit der Pacini-Übersetzung auf. Ich fragte nicht nach dem Preis, machte kurzen Prozeß und sagte, ich würde Pacini 3000 fr. zahlen, wenn er sich neben der Übersetzung verpflichtete, die für die Opéra unvermeidlichen Ausbesserungen und Änderungen zu machen und mir seine Droits d’Auteur zu überlassen. Tags darauf oder ein paar Tage später sagte mir Escudier, Pacini nehme das Angebot an».

Giuseppe Verdi/ Wikipedia

Mit diesem von Verdi 1891 an Giulio Ricordi gerichteten Schreiben gibt uns der Komponist selbst die gedrängte Beschreibung der Grundlagen, auf welchen die Entstehung des Trouvère beruhte. Wie immer erläutern uns Verdis Ton eines Kriegsberichts, seine legendäre Knappheit sofort, welche Fragen der Angelegenheit für ihn grundlegend waren, nämlich die für die Oper verpflichteten Künstler und ein zuverlässiger Librettist. Verbindungsstelle zwischen dem Trovatore und dem Trouvère war also der italienische ‘Troubadour’ des Théâtre des Italiens. Die Oper hatte 1854 am Stephanitag Premiere. «Ich habe Ihnen nichts vom Trovatore hier geschrieben; Sie wissen ja, wie die Dinge liefen. Ich persönlich weiß nur, daß es zehn Vorstellungen hintereinander gab (was nie vorkommt) und das Theater vor allem an den letzten vier Abenden gedrängt voll war […]», wie Verdi an De Sanctis schrieb.

Die Verhandlungen mit der Opéra über die neue Oper (in dieser äußerst kurzen Zusammenfassung ist der Trovatore am Théâtre des Italiens für uns abgeschlossen) laufen inzwischen mit dem neuen Direktor Crosnier schon sehr gut. Diese Revision wird, zumindest vom Honorar her, einfach als neue Oper angesehen. Verdi schrieb denn auch, daß «der Trovatore als Grand’Opéra angesehen und den ganzen Abend abdecken muß. Zu diesem Zweck werde ich 15 bis 20 Minuten Ballettmusik oder anderes etc., etc. hinzufügen».

Aber Verdi kümmerte sich nicht nur um sein Geld, denn er verlangte von Crosnier, daß «Sie mir die 40 Vorstellungen innerhalb von sechs Monaten sowohl für den Trovatore, als auch für die neue Oper zusichern, ohne daß Sie während dieser 40 Vorstellungen die Künstler der Premiere auswechseln können. Während meiner Proben werden weder neue Opern noch Ballette geprobt, aber darüber werden wir uns im persönlichen Gespräch einigen”.

Adelaide Borghi-Mamo war die erste Leonore/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Neben der Sorge um die Zahlungsbedingungen und -modalitäten sehen wir im Gleichschritt die Ansprüche an die Wahl der Besetzung. Dass Verdi auf die Besetzung seines Trovatore hielt und diese seine Unersättlichkeit vielleicht als Schild verwendete, um eventuell vor den dringlichen Anfragen der Opéra einen Fluchtweg zu haben, finden wir offensichtlich in seinem Brief vom 11. November 1855 an Ricordi dargelegt, als die Entscheidung und Machbarkeit des waren: «Ich würde die Übersetzung [des Trovatore] für die Provinzstädte machen, wenn sie das Werk spielen wollen. Die Opéra läßt keine Übersetzungen zu und erträgt sie nur, wenn es gar nicht anders geht: nun braucht sie eine […]. Andererseits wird der Trovatore an der Opéra immer unmöglich sein, weil ich ihn ohne zwei allererste Frauen, die man eigens verpflichten müsste, nicht erlaube. Der sicherste Beweis dafür, daß er nicht gegeben wird, ist, dass er in wenigen Tagen am Théâtre des Italiens gespielt wird».

Die Begebenheiten rund um diese Produktion gehen nun ihrem Ende entgegen. Im Herbst 1856 beginnen die Proben, die befriedigend ausfallen. Am 5. Januar des Jahres darauf erhält Verdi die 10.000 vereinbarten Francs, und am 12. fand dann die erfolgreiche Premiere statt. Die Hauptrollen sangen der Tenor Gueymard (Manrique), der Bariton Bonnehée (Comte de Luna), die Borghi Mamo (Azucena) und natürlich die Lauters (Léonore). Eine tags darauf in La France Musicale erschienene Rezension erzählt uns von der Vorstellung: «Die Partitur des Trouvère hat zahlreiche Änderungen erfahren. Der Maestro hat für die französische Oper fünf Stücke der Partitur neu instrumentiert, darunter das Duett im zweiten Akt zwischen M.me Borghi-Mamo und M. Gueynard [Azucena- Manrique], das gesamte Finale des zweiten Akts, die große Szene mit Chor von M.me Borghi-Mamo im ersten Bild des zweiten (sic!) Akts, den Soldatenchor im selben Akt. Außerdem fügte er eine reizende Melodie für M.me Borghi-Mamo im dritten Akt, ein Finale im vierten Akt und schließlich eine Ballettmusik von bewundernswerter Grazie und Zauber hinzu”. Ein knapper Bericht voller Komplimente, bei dem zum Ausgleich doch gesagt werden muß, daß die Zeitschrift das offizielle Sprachrohr von Verdis Pariser Verleger Escudier war.Projekts Trouvère in keiner Weise abgeschlossen

Louis Guemard warder erste Manrique/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Für den Hörer kann eine kurze Übersicht mit dem Vergleich der wichtigsten Arien in den beiden Fassungen interessant sein: Ferrandos berühmte Erzählung Di due figli vivea padre beato wird zu De mon maître le père avait deux fils, während sich das melancholische Tacea la notte placida in La nuit calme et sereine verwandelt. Im zweiten Akt wird Azucenas Stride la vampa zu La flamme brille, während ihre Erzählung Condotta ell’era in ceppi zu C’est là qu’ils l’ont trainée wird, Il balen del suo sorriso beim “französischen” Comte de Luna zu Son regard, son doux sourire. Im dritten Akt verwandelt sich der Chor Squilli, echeggi in Que la trompette, das ekstatische Ah sì, ben mio Manricos in Oh toi! Mon seul espoir und das darauffolgende, berühmte Di quella pira zu Supplice infame. Der Vergleich der beiden Fassungen im schwindelerregenden vierten Akt ist unmöglich. Wie nennen nur Azucenas wehmütige, herzzerreißende Erinnerung Ai nostri monti, die nun O, ma patrie heißt, und ihren sprichwörtlicher Ausruf am Schluß: Mort! Il est mort? Eh! bien… C’était ton frère. Le ciel a vengé ma mère.

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Wie vielleicht viele bereits wissen, wurde gemäß der klassischen Tradition der Opéra im dritten Akt ein Ballett eingefügt. Le Trouvère macht darin keine Ausnahme. In seiner französischen Fassung des Werks läßt Verdi den Chor nach seinem berühmten Squilli, echeggi nicht abtreten. Die Soldaten bleiben auf der Bühne und sehen dem darauffolgenden Ballett zu, an dem sie teilweise auch teilnehmen. Es handelt sich um das dritte von Verdi für die Opéra geschriebene Ballett nach denen für die Vêpres und Jérusalem. Es besteht aus zwölf, in vier Suites unterteilten Abschnitten. Dieses Ballett ist zusammen mit dem neuen Finale, wie wir später sehen werden, sicherlich die bedeutendste Neuheit des neuen Trouvère.

MM. Guemard-Lauters war die erste Azucena (und die erste französische Eboli)/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Viele der Änderungen betreffen vor allem Details in der Orchestrierung, die bei zerstreutem oder oberflächlichem Hören auch gar nicht bemerkt werden könnten. Diese Verbesserungen sind hingegen als Zeugnis dafür, wie ernst Verdi diese Überarbeitung genommen hat, besonders wichtig, wollte er doch vor allem seine Orchesterfarben raffinierter gestalten, weil er sich an ein Publikum wandte, dass an diese Details mehr gewöhnt war als das italienische. Sind einige so subtil, dass sie “fast” nicht merkbar sind, haben andere hingegen entschieden dramatischen und nicht nur musikalischen Wert, wie beispielsweise beim Finale des 2. Akts, wo das Orchester nun in den Dialog zwischen den Figuren (der Jubel Léonores, der Zorn Manriques und des Comte) mit einer Prägnanz eingreift, die es zu einer vierten Figur macht.

Aber die radikalste Änderung, die in dieser Überarbeitung unserer Ansicht nach wichtigste, ist sicherlich die hinsichtlich des neuen Finales. Was geschieht nun an diesem Schluss, der einer der sprichwörtlichsten der gesamten Opernliteratur ist? Die beiden Hauptthemen der Geschichte sind die Liebe zwischen Manrico und Leonora, die ewige unglückliche Liebe zwischen Sopran und Tenor (fast) aller Opernlibretti, und Azucenas Wunsch nach Rache, was hingegen für die damalige Operndramaturgie wirklich ein neues Element ist. Leonora ist soeben gestorben, und schon fällt das Beil des Henkers über Manrico nieder. Wie viele Kommentatoren richtig bemerken, liegt der Höhepunkt der Oper vom Musikalischen her für Verdi in Leonoras Tod. Ihre dramatische Auflösung, das heißt, Manricos Verurteilung, wird musikalisch nicht ebenso bedeutsam unterstrichen. Davon geht ihr knapper dramatisch- musikalischer Druck aus, der auf nichts achtet, um atemlos dem so dramatischen Ausruf Azucenas entgegenzueilen: Sei vendicata, o madre! Also kein “Fehler”, sondern eine überlegte Entscheidung. Im neuen Finale folgt Léonores Tod eine Wiederaufnahme des Acapella-Chors aus dem Miserere, das zu einem kurzen Duett auf Distanz zwischen Manrique und Azucena führt, welches musikalisch Themen folgt, die zuvor von Léonore und Manrique zu hören waren. Auf dem Höhepunkt eines Orchestercrescendos schleppt der Comte unter dem Wirbeln einer Militärtrommel Azucena buchstäblich zum Anblick der Hinrichtung des Troubadours.

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Fernand Marc-Bonnehee wat der erste Comte de Luna/LES ITALIENS À PARIS (16) – Verdi, Le Trouvère (1857)

Julian Buddens Urteil ist entschieden («ein musikalischer Flicken») und unterstellt sogar, daß dieser Schluß von jemandem anderen als Verdi sein könnte. Obwohl er ihm den Wert einer musikalischen und dramaturgischen Verbesserung abspricht, sagt Budden, daß «der Grund für die Hinzufügung dieser Koda ein zweifacher sein könnte: die Erreichung eines plausiblen Zeitraums für Manricos Enthauptung wie in Cammaranos ursprünglichem Libretto und eine stärkere Präsenz für die Azucena der Borghi-Mamo.

Zum Glück ist es diesem Finale nie gelungen, sich in die späteren Wiederauflagen der italienischen Fassung zu schmuggeln. Der Großteil des Publikums zieht weiterhin das uns bekannte Finale vor, und wenn es noch so überstürzt ist». Auch David Rosen stellt fest, daß wir «alles in allem schlußendlich Il Trovatore vor Le Trouvère den Vorzug geben müssen».

Aber alles in allem, und nachdem wir beide Fassungen gehört haben. Und darin und deshalb findet die Möglichkeit, heute diese französische Fassung in ihrer Gesamtheit zu hören, ihren Charakter der Neuheit, der Bedeutung und Faszination für Publikum und Wissenschaftler. Denn über die Fragen von Philologie und Musikkritik hinaus ist die Möglichkeit, dieses Meisterwerk in seiner französischen Fassung zu hören, zu interessant, um sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, diesen Vergleich zu genießen, in der Sicherheit, daß die Unterschiede, die Verbesserungen und – warum nicht – eventuellen Verschlechterungen vor allem ein Mittel sind, um es besser kennen und schätzen zu lernen. Vincenzo Raffaele Segreto/Überserzung Daniela Pilartz

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Und nun Rolf Faths Einschätzung des Erlebten: Nach Peter Greenaway und Graham Vick darf Robert Wilson sich als dritter des in diesem Jahr anscheinend zum letzten Mal beim Verdi-Festival 2018 genutzten 400 Jahre alten, von Aleotti gestalteten Raums bemächtigen: Le Trouvère firmiert als Koproduktion mit Bologna, wo Wilson bereits 2013 Macbeth inszenierte, was die konventionelle Raumaufteilung erklärt. Wo seine Vorgänger den riesigen Turniersaal mit seinen in U-Form ansteigenden Sitzreihen, den Holzsäulen und stuckierten Dekorationen für besondere Raumsituationen nutzten, stellt Wilson eine kleine Kastenbühne zwischen die Portalsäulen, davor in das Arenaoval die Zuschauerreihen.

Und dann gibt es noch den „Trouvère“ von 1912 unter Francois Ruhlmann bei Marston Records

Zuerst ist das Licht. Im scharfen hell-dunkel Gegensatz schneidet er einmal mehr Figuren und Situationen an, bietet Gesten und Tableaux, die die Situationen zu konterkarieren scheinen, und offenbart im Vergleich zu seinen sparsamen Arbeiten früherer Jahre geradezu eine Fülle an Verweisen. Neben dem älteren Herrn treten eine junge Frau mit zwei kleinen Mädchen und eine Alte mit Kinderwagen auf, in Kostümen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie auf der alten Fotografie, die Wilson während Fernands Erzählung auf wundersame Weise animiert. Später blinzeln Meeresfotografien des amerikanischen Fotografen Robert Rosenkran auf. Wilson bebildert nicht die verschlungene Handlung um die beiden Brüder, die eine Frau lieben, sowie den zwischen Mutter und Geliebter schwankenden Manrique, malt keine Geschichte aus uralten Zeiten, dennoch besitzt sein sein Trouvère mit den dunklen Toreros, den wie aus einem Andersen-Bilderbuch aufmarschierenden Soldaten, den langen Fräcken, Schulterpolstern und Zweispitzen, den Zöpfen für die Herren, einen Hauch von 1800. Selbstverständlich schwarz zeitlos, wie das minimalistische, chinesisch-japanischen Traditionen angeschaute ritualisierte Spiel, die abgestreckten Hände wie von mittelalterlichen Gemälden. Léonore schwebt wie eine auf Wasser gleitende Figur über die Bühne. Die zeitlupenhaften, streng gestanzten Bewegungen schmiegen sich diesem lyrischen, weniger dramatischen Trouvère anden Verdi auf Wunsch der Pariser Direktion zunächst widerstrebend als französische Oper mit dem Text des Émilien Pacini, dem Sohn von Antonio Pacini, einrichtete. Le trouvère erklang in dieser Form erstmals im Januar 1857 in der Salle Peletier. Parma stellte nun erstmals die kritische Edition von David Lawton vor. Auch wenn Verdis etwa zwei Dutzend Änderungen, bestehend aus einer Vielzahl von modifizierten Passagen, weggefallenen Takten und Übermalungen, marginal erscheinen, zeigt sich Le trouvère als französische Oper, weniger dringlich und leidenschaftlich, etwas länglich wegen des aus vielen mehr oder weniger spanischen Nummern – inklusive einer Zitat des „Ambosschores“ – bestehenden, rund 25minütigen Balletts im dritten Akt.

Diesem bei der Uraufführung von Lucien Petipa, dem Bruder des berühmteren Marius, choreographierte sinnfreiem Einschub mit tanzenden Zigeuner und Soldaten vor der Ergreifung Azucenas unterlegt Wilson einen ebenso sinnfreien Aufmarsch von Boxern, wie aus frühen Filmschnipseln, die im Quadrat laufen, gegeneinander kämpfen, sich verknoten, walzende Paare bilden. Verändert bzw. gekürzt sind Léonores Kadenzen bzw. die D’amor sull` ali rosee- Cabaletta, neu und wesentlich ist vor allem die Wiederholung des Miserere während Manrique zum Scheiterhaufen geführt wird. Seine letzten Worte gelten der Mutter.

Roberto Abbado unterstreicht den lyrisch sublimen Zug des umgearbeiteten Trouvère, gestaltet mit dem Orchestra del Teatro Comunale di Bologna zarte Situationen, die von den Sängern eine weichere, geschmeidigere Tongebung verlangen. Im Teatro Farnese waren die akustischen Bedingungen nicht die besten. Vor allem der albanische Tenor Giuseppe Gipali wirkte wie durch die verkehrte Seite eins Opernglases wahrgenommen, klanglich schmächtig, zwar hübsch im Tonansatz und im Aufbau der Phrasen, doch schnell gestresst und uneins mit dem Orchester, unbedeutend und fehl am Platz. Ausgezeichnet der gut sitzende, ebenmäßig timbrierte Bariton des nicht nur in „Son regard, son doux sourire“ mit fester Linie singenden Franco Vassallo, dessen Französisch zudem einigermaßen idiomatisch klang, auch die geschmackvoll rassige Königin der Nacht-Azucena der Georgierin Nino Surguladze mit enormer Höhe und stabiler Tiefe. Nicht ganz auf dem Niveau der klanglich zwar ausgewogene, schöne Sopran der jungen Roberta Mantegna, die als Léonore durch einige kaum erträglich schrille Verzierungen irritierte. Marco Spotti eröffnete als felsenfest sicherer, nicht unbedingt profund-dunkler Fernand den gespenstischen Bilder-Reigen (Dynamic DVD Bluray 37835). Rolf Fath/ Oktober 2018

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„Sung in French“: steht auf dem Cover der DVD. Vielleicht doch noch ein Wort zur rein akustischen Seite dieses Mitschnittes, wie sie die CD (Dynamic 2 CD CDS 7835.02) bietet. Vieles glättet ja die Optik, und das Auge korrigiert manches, dass das Ohr nicht verzeiht. So auch hier. Erstens kann ich einfach nicht dieses italienische Französisch ertragen, das mit venschanze und pendanze doch den Sprachkundigen und Liebhaber der französischen Oper hart auf die Probe stellt. Das mag bei alten RAI-Aufnahmen sicher noch als passabel gewesen sein, aber man kann von modernen Sängern verlangen, dass sie doch mehr in die fremde Idiomatik eintauchen, auch wenn Italiener und Latinos notorisch Schwierigkeiten mit der Artikulation von Fremdsprachen haben. Ich muss gestehen, dass ich von Nino Machaidze (keine Italienerin, gewiss) fast nichts verstanden habe, von ihrer überforderten Kollegin Roberta Mantegna aber auch nichts (mal abgesehen vom Organ selbst). Tonia Langella gab es auch noch, silence pour elle. Die Herren sind da etwas glücklicher dran, aber der für mich  ordinäre Bariton von Franco Vasallo (pardon cher Rolf) bölkt sich durch einen Crash-Kurs von Berlitz, singt – für meinen Geschmack – sehr allgemein und steht im dunklen Schlag-Schatten vieler Kollegen, die dies in seiner eigenen Heimat viel (!!!) besser gesungen haben. Da hat ja selbst Leo Nucci auf seine alten Tage mehr Kultur. Von Marco Spottis Französisch will ich nicht berichten, von seinem Fernand auch nicht … Aber auch der Tenor Giuseppe Gipali – sprachlich der Beste – könnte eine idiomatisch-verbale Auffrischung brauchen. Roberto Abbado dirigiert eine italienische Oper costumée á la francaise, dagegen ist ja im italienischen Parma auch nichts zu sagen. Nur ist eben Parma nicht Grosseto.

Habenswert ist diese für mich mehr als unbefriedigende Aufnahme wegen der Fassung! Es gibt auf CD den noch fragwürdigenden Mitschnitt aus Martina Franca 1998 (ein Koreaner, eine Georgierin, reichlich Osteuropa, aber zumindest mit Sylvie Brunet als fabelhafter Azucena groß besetzt bei ebenfalls Dynamic) und eben keine verbindliche Einspielung der französischen Version (außer der für moderne Ohren kaum hörbaren ersten Pathé-Einspielung von 1912 unter Ruhlman und einer rabiat gekürzten 120-Minuten-Radio-Fassung vom französischen Rundfunk/ INA 1954 mit Moizan und Scharley), während Parma das Ganze zwar mutig, aber mit ähnlichem Resultat schon einmal 1990 mit Giron-May, Longhi und anderen gab. Man hatte eben noch die Noten im Keller. Ach, Roberto (Alagna), warum haben Sie´s nicht zu goldenen EMI-Zeiten aufgenommen und stattdessen den üblichen Verdi gestemmt?

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Habenswert sind zudem der lesenswerte Beitrag im Booklet von Vincenzo Raffaele Segreto (aus der Martina-Franca-Aufnahme; den wir hier mit Dank übernommen haben) und das zweisprachige Libretto. Das sollte Dynamic ins Netz stellen. Dann kann man sich überlegen, ob man die CD-Ausgabe machen möchte. In unseren Zeiten, wo sich sogar Stadttheaterkräfte um die originalsprachige  Jenufa mühen müssen, hätte ich von einem Verdi-Festival dieses Ranges mehr sprachliche Sorgfalt (einer geeigneteren Besetzung) erwartet. Und ganz ehrlich – nicht alles muss veröffentlicht werden… G. H.

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

„Dis-mois, Vénus…”

 

Ums Image der Operettendiva steht‘s derzeit nicht gut. Abgesehen davon, dass es seit Margit Schramm wohl keine wirkliche hauptberufliche Operettendiva mehr gab, verwechseln die meisten Opernsängerinnen, die seither vorübergehend in den Rolle einer „OD“ geschlüpft sind, das Fach meist mit einer besonders dümmlichen Karnevalsveranstaltung. Egal ob Ingeborg Hallstein, Renée Fleming, Angela Denoke oder Anna Netrebko: Mit Federboa und Champagnerglas wirken sie als pseudo-laszive „Vamps“ im besten Fall lächerlich. Im schlimmsten Fall sind sie ein Verrat all dessen, wofür Operette als eigenständige Kunstform einmal stand. Denn vor 1933/38, den Jahren des Sündenfalls der Gattung und der grundsätzlichen Neudefinierung des Genres durch die Nationalsozialisten, operierte die typische Operettendiva in ganz anderen Dimensionen. Da sah man zum Beispiel Fritzi Massary im Berlin der 1920er Jahre als Werbeträgerin für Zigaretten und als Stil-Ikone für fashionable Frauen in Modemagazinen, die mit der Massary singend fragten, „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“. Da warb Elsie Altmann 1924 mit Nacktfotos aus dem Studio d’Ora in Wien für die Gräfin Mariza und den Shimmy „Komm mit nach Varasdin“.

Offenbach: Hortense Schneider im Kostüm der Grande-Duchesse de Gerolstein/ Wiki

Auch in den Generationen davor qualifizierten sich Operettendiven damit, dass sie mit Nacktheit und erotischer Ausstrahlung Großstadtpublikum anlockten – nicht mit Gesangs- oder Schauspielkünsten. Marie Geistinger (1833-1903) etwa, die Direktorin des Theaters an der Wien und Ur- bzw. Erstaufführungssängerin vieler Operetten von Jacques Offenbach, Franz von Suppé und Johann Strauss II – darunter die Rosalinde in Die Fledermaus (1874) – machte in Wien ursprünglich als Schöne Helena Furore, weil sie in „einer gewagten Entkleidungsszene ihre nur durch dünnes, straffes Trikot verhüllten körperlichen Reize nicht geizend zur Schau trug“, wie Biograf Emil Pirchan bemerkt (Emil Pirchan, Marie Geistinger: Die Königin der Operette, Wien 1947).  Die Wiener Zeitung nennt Geistinger als Helena eine „höchst rou­tinierte Schau­spielerin“ und „leidliche Sängerin“, die aber im­stande war, ein Stück zu „tragen“. An­sonsten wird an der Produktion hervor­ge­hoben, dass sich „einzelne Damen“ durch ihren „tadel­losen Körper­bau“ verdient gemacht hätten in einem Stück voller „derbe[r] Zwei­deu­tig­­keiten“, in dem „in verschiedenem Sinne flo­rieren­d[e] Nacktheit“ vor­käme, die das Publikum angeblich „gelangweilt“ habe (so Pircher). Auch wenn „hyperprüde Denunzianten“ im Zusammenhang mit der Produktion energisch das Verbot von „Prostitution auf der Bühne“ verlangten, lief das Stück in Wien weiter und weiter und war einer der größten Offenbach- und Geistinger-Erfolge überhaupt. In der Margaretenstraße machte sogar ein Kaffeehaus auf, das sich „Zur schönen Helena“ nannte: „Auf den Spiegelscheiben war ihre [Geistingers, Anm.] Figur in allen möglichen und unmöglichen Posen eingeätzt. Das lebensgroße Bildnis der Helena hing dort, auf der Rückseite hatte der Maler die Geistinger – nackt hingemalt. Ein wilder Verehrer der Künstlerin schoß deswegen zwei Pistolenkugeln gegen dieses schöne Ölgemälde“, berichtet Pirchan, auf dessen Biografie Geistinger als Helena in eben diesem Ölgemälde mit grünlich-blauer Tunika auf dem Umschlag zu sehen ist.

Die Ur-Diva der Ur-Operette: Rollenmodell für Geistinger und andere Operetten-Hauptrollen-Darstellerinnen war die Pariser Ur-Operettendiva schlechthin, Hortense Schneider (1833-1920). Was sie von allen Nachfolgerinnen unterscheidet ist die Tatsache, dass sie in einem Roman von Emile Zola verewigt wurde. Zwar schafften es Mizzi Günther [die erste Hanna Glawari] und die Massary auch, Teil von Romanen und huldigenden Buchveröffentlichungen zu werden, Günther als „Fräulein Mizzi Rittmann“ in Operettenkönige: Ein Wiener Theaterroman von Franz von Hohenegg, Massary in Oscar Bies Tagebuch eines jungen Mannes. Aber keiner dieser Titel hat die weltliterarische Bedeutung von Zolas Nana (1880).

Offenbach: Hortense Schneider en folie, portrait by Alexis Pérignon/ Wiki/ ORCA

Dank des Zola-Romans bekommt man noch heute einen detaillierten Einblick in die Ur-Operettenszene der 1860er Jahre in Paris sowie eine genaue Beschreibung dessen, worauf es bei den ursprünglichen Operettendarstellerinnen ankam – Qualitäten, die allen Sängerinnen dieses Fachs in der Jetztzeit fehlen, egal ob in der Wiener Volksoper, in Mörbisch oder Bad Ischl. Bei Zola spielt der die Handlung im Théâtre des Variétés, wo alle für Schneider geschriebenen „Offen­bachiaden“ uraufgeführt wurden, von La belle Hélène (1864) über Barbe-Bleue (1866) und La Grande-Duchesse [de Gérolstein] (1867) bis zu La Périchole (1868). Bei Zola wird dort die fiktive Operette „Die blonde Venus“ gegeben.

In seiner Ein­leitung zur Penguin-Classics-Ausgabe von Nana schreibt George Holden: „Zola had decided that Nana’s career should be closely associated with the theatre, and that the novel should open with a first night at the Variétés. He himself had come to know the world of the theatre at close quarters […] but he did not know enough as yet about theatrical life in general and the Variétés in particular; and for the information he wanted he turned to Ludovic Halévy, Offenbach’s brilliant librettist, who was an ardent admirer of L’Assommoir and had offered to help him to the best of his abilities. Halévy not only took him on 15 February 1878 to the Variétés, to see an operetta called Niniche by Alfred Hennequin and Albert Millaud. At the theatre he entertained Zola with the story of the marital and amorous life of the star, Anna Judic, whose husband, a sometime shop-assistant, had once fought her lover Millaud in the wings of the Bouffes, but now winked at the liaison and devoted his life to managing her affairs and caring for their two children. Zola avidly noted down the details […] and he looked and listened just as eagerly during the intervals, when Halévy took him backstage and showed him the dressing-room where in 1867 Hortense Schneider, dressed as the Grand Duchess of Gerolstein, had ceremoniously received the Prince of Wales.” (George Holden, Einleitung zu seiner Übersetzung von Émile Zolas Nana, London 1972)

Es ist interessant, dass der Direktor des Théâtre des Variétés, im Roman Bordenave genannt, von seinem Haus mehrfach als „Bordell“ spricht und Zola den Auftritt Nanas folgendermaßen in Worte fasst: „Ganz Paris war da, das Paris der Literatur, der Finanz und des Amüsements […] und mehr Halbwelt als anständige Frauen; es war eine eigen­artig gemischte Gesellschaft, aus allen Geistesschattierungen zusam­men­gesetzt und von allen Lastern verdorben. […] In diesem Augen­blick teilten sich die Wolken im Hintergrund, und Venus erschien. Nana, groß, sehr üppig für ihre achtzehn Jahre, trat in ihrer weißen Göttin­nen­tunika mit langem blondem Haar, das aufgelöst die Schultern umfloß, sicher und gelassen an die Rampe vor und lachte ins Publikum. Dann stimmte sie ihr großes Couplet an: ‚Geht Venus abends auf den Strich…’ Beim zweiten Vers sahen sich die Zuschauer an. […] Noch nie hatte man eine so falsche, so ungeschulte Stimme gehört! […] Als Nana die Heiterkeit der Zuschauer sah, fing sie ebenfalls an zu lachen. […] Beim Lachen entstand ein reizendes Grübchen in ihrem Kinn. Ganz ungeniert und ohne Scheu wartete sie und stellte sich gleich mit dem Publikum auf guten Fuß; dabei machte sie ein Gesicht, als wollte sie mit einem Augenzwinkern sogar selber sagen, daß sie für keinen Dreier Talent hätte, aber das mache nichts, sie hätte ja was ganz anderes zu bieten. Dann gab sie dem Kapellmeister einen Wink, der heißen sollte: ‚Hopp, alter Junge!’ und begann ihr zweites Couplet: ‚Um Mitternacht streicht Venus vorbei…’ Es war wieder dieselbe essigscharfe Stimme, aber jetzt kitzelte sie das Publikum an der richtigen Stelle und jagte ihm für Momente einen Schauer über den Rücken. […] Sie wiegte sich hin und her, denn sie wußte nicht, was sie sonst machen sollte. Aber das fand man jetzt keines­wegs mehr scheußlich, im Gegenteil; die Männer hoben ihre Operngläser ans Auge. Als ihr Couplet auf den Schluß zuging, blieb ihr vollkommen die Stimme weg, und sie begriff, daß sie nie zu Ende kommen würde. Da gab sie sich einfach in aller Ruhe einen Ruck mit den Hüften, wobei sich unter der dünnen Tunika alle Rundungen markierten, verneigte sich mit wogender Brust und breitete grüßend die Arme aus. Lauter Beifall brach los. Sofort wandte sie sich um und trat zurück; dabei zeigte sie ihre Hinterfront, auf die das rotblonde Haar wie die Mähne eines Tieres herabfiel. Und der Beifallssturm wurde rasend.“ (Émile Zola, Nana [dt. Übersetzung von Erich Marx], Leipzig 1979, S. 21ff.)

Monet: Olympia/ Musée d´orsay/ Wikipedia

Dieses Couplet gibt es tatsächlich in der Belle Hélène, und Offenbach komponiert im Refrain der „Anrufung der Venus“ (Nr. 10, Romanze) eine der anrüchigsten Passagen der gesamten Operettenliteratur, als Helena alias Hortense Schneider fragt: „Dis-moi Vénus. Quel plaisir trouves-tu, A faire ainsi cascader, cascader la vertu?“

In seiner Offenbach-Biografie schreibt Alexander Faris zu dieser Nummer: „The young men in the audience would shout ‚Cascade, Hortense, cascade!’“ (Alexander Faris, Jacques Offenbach, London/Boston 1980, S. 122.)

War die Anrufung der Venus zu Beginn des 2. Akts eines der erotischen High­lights der Hélène, so kam der pornografische Höhepunkt kurz darauf, als Helena/Hortense sich zu Bett legte, um auf Prinz Paris zu warten. Bei Zola liest sich diese Passage folgender­maßen: „Ein Schauer durchrieselte den Saal. Nana war nackt, nackt mit einer gelassenen Frechheit, der Allgewalt ihres Fleisches sicher. Nichts als ein Gazeschleier umhüllte sie; ihre vollen Schultern, ihr Amazonenbusen, dessen rosige Spitzen aufgerichtet und steif wie Lanzen standen, ihre breiten Hüften, die sich wollüstig hin und her wiegten, ihre strammen blonden Schenkel, kurz ihr ganzer Leib zeichneten sich ab und schim­mer­te durch das dünne Gewebe wie weißer Schaum. Das war Venus, die aus den Wogen steigt und keine andere Hül­le trägt als ihr Haar. Und als Nana die Arme hob, sah man im Rampen­licht die goldenen Haare in ihren Achselhöhlen flimmern. […] Die Gesichter der Männer spannten sich; schmal­nasig, mit zuckendem, ausgetrocknetem Mund starrten sie auf die Bühne. […] Nanas Geschlecht schlug die Männer mit Wahnsinn und riss unbekannte Abgründe der Gier vor ihnen auf. Sie lächel­te immerzu, jetzt aber mit dem geilen Lächeln des männer­fressenden Weibes.“ (Farris)

Die Beschreibung der nackten Darstellerin entspricht den tatsächlichen Bühnen­begeben­heiten, wie wir durch einen Eintrag in den Münchner Polizeiakten wissen. Da heißt es ver­gleichend: „Bei alledem verdient Anerkennung, daß die Direction des Theaters [in München, Anm.] sichtlich bestrebt war, das Stück möglichst dezent zu geben. Die Costüme enthüllten bei weitem nicht die Blöße so, wie in Paris am Vaudevilletheater oder in Wien am Carltheater der Fall ist. In Paris u. Wien ent­kleidete sich Helena in der Nachtszene des II. Actes fast vollständig auf der Bühne.“ Doch auch ohne vollständige Nacktheit konstatiert der alarmierte Münch­ner Sittenwächter: „Richtig ist […], daß schamlose Zwei­deutigkeiten bei der ursprünglicheren u. rohen Sinnlichkeit des Münchener Publikums einen größeren u. bedenklicheren Eindruck machen als dies bei den blasierten Parisern u. Wiener der Fall ist.“ (Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1994 [1. Ausgabe Amsterdam 1937], S. 242.)

Es überrascht angesichts solcher Aufführungspraktiken nicht, dass der bei der Premiere anwesende Fürst Metternich beim Verlassen des Theaters zu seiner Ehe­frau gesagt haben soll: „Wir haben unrecht daran getan, der Premiere beizuwohnen. […] Unser Name wird in allen Zeitungen stehen, und es ist nicht angenehm für eine Frau, gewissermaßen offiziell in einem solchen Stück gewesen zu sein.“ (Krakauer)

 

Offenbach: “La loge de Madame Hortense Schneider” 1873. Painting by Edmond Morin/ Wiki

Die Theatergarderobe als „Prinzenpassage“: Wenn man um Schneiders spezielle erotische Beziehung zu ihrem Publikum weiß, dann bekommen auch die diversen langsamen, fast geflüsterten, chroma­tisch durchglühten Liebeserklärungen in der Großherzogin („Dites-lui“) und Périchole („Ô mon cher amant“) eine mehr als eindeutig pornografische Note. Man kann diese Lieder und die Art, wie Schneider sie vermutlich sang, vergleichen mit Marilyn Monroes gehauchten Geburtstagsständchen im hautengen Glitzer­kleid für J. F. Kennedy 1962. Leider wagt es heute niemand, Offenbachs Liebeslieder auch nur annähernd so aufzuführen, wie von Offenbach ursprünglich be­ab­sichtigt. Die entsprechenden „historisch informierten“ Offenbach-Aufführungen eines Nikolaus Harnoncourt, John Eliot Gardiner oder Marc Minkowski, jeweils mit Kritikerpreisen überhäuft, versuchen rein besetzungstechnisch die hier beschriebenen Aufführungspraxis erst gar nicht.

Wie intensiv die Beziehung von La Snédèr zu ihrem Publikum war, wird deutlich in der Anekdote rund um ihre Großherzogin-Auftritte. Sie empfing, ganz offiziell, in der Pause in ihrer Garderobe die adligen Häupter Europas. „Alle hohen Fürstlichkeiten, die Napoleon III 1867 empfängt, machen auch der ‚Groß­herzogin von Gerolstein’ ihre Aufwartung: manche ‚nur’ im Zu­schauer­saal, andere auch in ihrem Boudoir (wie der englische Thronfolger, der russische Zar oder der ägyptische Vizekönig). Die Kurtisane Esther Guimont nennt dieses Bou­doir gehässigerweise die ‚Prinzenpassage’. König Wilhelm von Preußen führt ihre Hunde spazieren. Alle Besucher haben natürlich ein ‚kleines Mit­bring­sel’ dabei, und das Vermögen der Hortense Schneider, in Diamanten aus­ge­drückt, mochte nun jene 800.000 [Francs], die es zur Zeit der Schönen Helena betragen hat, noch übertreffen.“

Dieser Besuch des Prince of Wales fand wie erwähnt Eingang in Zolas Nana, und liest man dort, wie sich die Operettendiva mit dem Prinzen unterhielt, dann weiß man auch, wie man sich ihren Bühnenauftritt vorzustellen hat: ‚Ich bitte um Verzeihung, meine Herren’, sagte Nana und zog den Vorhang aus­ein­ander, ‚aber ich bin überrascht worden…’ Alle wandten sich nach ihr um. Sie war ganz unvollständig bekleidet, bloß ein kleines Kor­sett aus Perkal hatte sie übergeknöpft, das ihre Brust nur halb bedeckte. […] Hinten ließ ihre Hose noch einen Hemdzipfel heraushängen. Mit nackten Armen und Schul­tern, die Spitzen ihrer Brüste steif emporragend, stand sie da, ein strahlendes Bild der Jugend, blond und üppig […]. Liebenswürdig hob der Prinz sein Glas hin und her. […] Dann trank er in einem Zug aus. Graf Muffat und Marquis de Chouard hatten das gleiche getan. Man trieb keinen Ulk mehr, man war bei Hofe. Die Theaterwelt spielte die wirkliche Welt als seriöse Posse im heißen Dunst des Gaslichts weiter. Nana ver­gaß ganz, daß sie in Hosen war mit heraushängenden Hemdzipfeln, und spielte die große Dame, die Königin Venus, die den Staatsmännern ihre intimen Gemächer öffnet.“

So legendär war der Besuch der Prinzen (und der übrigen Hoheiten), dass er in einem Aquarell von Edmond Morin verewigt wurde (1873), das heute im Musee du Second Empire in Compiegne hängt, der offiziellen Sommerresidenz Napoleons III.

 

Monet „Frühstück im Freien“/ Wikipedia

Offenbach in Arabien: Der Ruhm der Schneider war derart legendär, dass der besagte Vizekönig von Ägypten, Isma’il, in Kairo ein Theater nach dem Vorbild des Variété-Theaters in Paris bauen ließ, mit Haremsloge für den Hof und Drahtgittern zum Schutz vor neugierigen Blicken, wie Alexander Flores in seinem Aufsatz „Offenbach in Arabien“ berichtet (Alexander Flores, „Offenbach in Arabien“, in: Die Welt des Islams, Nr. 48 (2008), S. 131-169.) Dieses Theater wurde mit Belle Hélène am 4. Januar 1869 eingeweiht. Da Isma’il mehr noch als von Offenbach und dessen Helena von La Snédèr begeistert war, lud er sie nach Ägypten ein. Sie folgte der Einladung im Winter 1869/70. „Es ist wohl kein Zufall, dass in Ägypten drei Werke Offenbachs mit Vorliebe gespielt wurden, in denen Hortense Schneider brilliert hatte: La Belle Hélène, Barbe-Bleue und La Grande-Duchesse de Gérolstein. Das einzige andere in Ägypten gespielte Werk, von dem wir wissen, ist Orphée aux enfers.“

Es ist aus heutiger Sicht fast aberwitzig sich vorzustellen, dass die sexuell extrem befreiten Stücke, die Offenbach für Hortense Schneider schreib, in der streng muslimischen Welt Kairos des 19. Jahrhunderts gespielt wurden, Drahtgitter hin oder her.

La Snédèrs offizieller Lebenspartner war, bis zu seinem frühen Tod 1857, der Duc de Gramont-Caderousse, Anführer der jeunesse dorée der Zeit (allesamt Mitglieder des notorischen Jockey Clubs). Er war auch der Vater ihres Kindes. Als Caderousse starb, hinter­ließ er ihr 50.000 Francs und 1.000.000 für den gemeinsamen Sohn, wodurch die Schauspielerin zu einer vermögenden Dame wurde. Trotz dieses Vermögens handelte Schneider mit Theaterdirektoren in den 1860er Jahren immer wieder gigantische Gagen aus, die für Aufsehen sorgten und sie noch berühmter machten. Am Ende des Zweiten Kaiserreichs spielte sie in der Offenbach-Operette La Diva (1869) sogar mehr oder weniger sich selbst. Natürlich übernahm in Wien Marie Geistinger die Rolle. Mit Erfolg.

 

Offenbach: Die drei Helenen three famous Helenas in Vienna, in the 1860s, showing their legs to attract male audiences/ ORCA

Rückzug von der Bühne und Biografien: Nach dem Deutsch-Französischen-Krieg – der ein gravierender Einschnitt in Offenbachs Karriere und der ursprünglichen Spielart von Operette war – ließ sich Schneider für bemerkenswerte 300 Francs am Abend für die Uraufführung von Hervé’s La Veuve du Malabar (1873) engagieren und kehrte auch ins Variétés zurück, um in einer erweiterten Fassung von La Périchole mitzuwirken. Danach sollte sie Margot spielen, die Bäckersfrau in La Boulangère a des écus, dem Stück von Meilhac & Halévy, Textautoren ihrer größten Operettenerfolge. Aber Schneider verließ schon vor der Premiere die Produktion und gab die Rolle ab. Stattdessen übernahm sie die Poulette in Hervés La Belle Poule (1875), hatte damit aber nur mäßigen Erfolg. Vor allem erntete sie von ihren Widersacher(inne)n bösartige Kommentare bezüglich ihres Alters, das man unpassend für eine junge Bühnenfigur wie Poulette empfand. Allerdings hatte Schneider nicht die Absicht, fortan altersgerechte Rollen zu spielen. Kurt Gänzl schreibt in seiner Encyclopedia of the Musical Theatre: „Schneider had no intention of playing her age. She had been the reigning queen of the Paris stage for a good half-dozen years, and she had no intention of now being its queen mother.“

Die Diva hatte vorher mehrfach im Streit mit Direktoren gedroht, dem Theater den Rücken zuzukehren. Nun tat sie es tatsächlich. Mit La Belle Poule sank der Vorhang über einer der bemerkenswertesten Karrieren in der Geschichte des Musiktheaters. Hortense Schneider lebte noch 45 Jahre „a life of respectability at utter odds with the gay and gallivanting years of her theatrical heyday“, wie Gänzl schreibt. Damit unterscheidet sie sich deutlich von Zolas Titelheldin Nana, die elendig an Pocken zugrunde geht – als Metapher für den moralisch-politischen Untergang des Zweiten Kaiserreichs. Allerdings schildert Zola in Nana auch einen Landausflug, bei dem die diversen Halbwelttheaterdamen voller Bewunderung das Anwesen einer Kurtisane-im-Ruhestand betrachten, die den Absprung geschafft und ihr Vermögen so angelegt hat, dass sie einen aristokratischen Lebensabend genießen kann. Hortense Schneider wurde dieses Glück ebenfalls zuteil. Sie starb am 5. Mai 1920 in Paris.

In der ungarischen Biografie-Operette Offenbach (1920) treten neben Kaiserin Eugenie als Geliebter des Komponisten Offenbachs Ehefrau Herminie sowie Hortense Schneider als Charaktere auf. Die Rolle übernahm ursprünglich Juci Lábass, in Wien wurde sie von Olga Bartos-Trau gespielt, am Broadway von Odette Myrtil. 1949 trat dann Yvonne Printemps in dem Film Valse de Paris als Hortense Schneider auf, allerdings hat die dort gezeigte Figur wenig mit deren tatsächlicher Vita Schneiders gemein.

Offenbach: Poster depicting can-can dancers by Henri de Toulouse-Lautrec, 1895/ Wiki

Eine Biografie der Diva haben 1930 die Herren Rouff und Casewitz veröffentlicht, erst 1995 folgte Jean-Paul Bonami mit Hortense Schneider, la Grande-Duchesse du Second Empire, ein Buch das 2004 unter dem Titel La diva d’Offenbach. Hortense Schneider (1833–1920) neu herauskam. Es ist eine angesichts des bewegten Lebens der Schauspielerin eher dürftige Publikation, genau wie Peter Hawigs Hortense Schneider. Bedingungen und Stationen einer Erfolgsbiographie, ein Bad Emser Heft von 2006. Diese schlanken Veröffentlichungen sind in keiner Weise zu vergleichen mit Jean-Claude Yons monumentaler Offenbach-Biografie von 2000. Dort finden sich natürlich vielfach Passagen zu Schneider, u.a. ein Zitat aus Le Figaro über ihre Darstellung der Boulotte, der revolutionären Vorkämpferin für Frauenrechte in Barbe-bleue. Besser kann man die Stellung und Bedeutung der Diva kaum zusammenfassen: „Chanteuse et comédienne, mademoiselle Schneider est la Malibran de ces cocasseries musicales. Elle a la verve, la finesse et la grace.“

Autor und Operettenchampion Kevin Clarke/Foto ORCA

Bemerkenswerterweise weigert sich die deutschsprachige Offenbach-Forschung bis heute Zolas Nana als Quelle zur Operettengeschichte zur Kenntnis zu nehmen, vermutlich weil die darin enthaltenen Darstellungen nicht ihren Vorstellungen von der Respektabilität des Genres (und ihrer eigenen Existenz) entsprechen. Genauso wird in Operettengeschichten nirgends Hortense Schneider im Zusammenhang mit der Halbwelt des Zweiten Kaiserreichs diskutiert und werden nicht die entsprechenden interpretatorischen Konsequenzen fürs Verständnis der Operetten gezogen, die zumindest in ihrer Ur-Form weit subversiver und sexuell befreiter sind, als man aufgrund von heutigen Aufführungen denken könnte. In Meyers Konversations-Lexikon heißt es noch 1877 zu Offenbach: „[D]ie meisten [seiner Operetten] aber […] sind überdies noch so vom Geiste der Demi-monde durchsetzt, daß sie mit ihren schlüpfrigen Stoffen und sinnlichen […] Tonweisen eine entschieden entsittlichende Wirkung auf das größere Publikum ausüben müssen.“  Man könnte das auch als Kompliment lesen. An der entsittlichenden Wirkung hatte Hortense Schneider entscheidenden Anteil. Eine „entsittlichende Wirkung“ wird man berühmten Helenas der neueren Schallplatten- und Aufführungsgeschichte allerdings nicht zusprechen wollen. Oder hat irgend jemand nach Anneliese Rothenbergers, Jessye Normans oder Felicity Lotts Wiedergabe der „Anrufung der Venus“ lautstarke „Cascade, cascade“-Rufe vernommen? Da steht der historisch informierten Aufführungspraxis von Operette noch eine gewaltige Herausforderung für die Zukunft bevor. Sie würde die Mühe allerdings lohnen, um das Fach der Operettendiva neu zu definieren und das Genre wieder für ein modernes, kosmopolitisches, geistig junges Publikum so interessant zu machen, wie es einstmals war. Kevin Clarke/ Operetta Research Center Amsterdam

 

(Wir danken dem Autor, operalounge.de-Lesern absolut kein Unbekannter und Chefredakteur der website des Operetta Research Center Amsterdam, für seine freundliche Genehmigung, diesen vor einigen Jahren bereits publizierten Text zu übernehmen! Die hier fehlenden Fußnoten sind im originalen Text enthalten und können gerne angefordert werden. Danke Kevin! Foto oben Hortense Schneider/ Ipernity)

Interessant, aber warum bei OR?

 

Eigentlich ist Puccinis Opern-Erstling Le Villi  (uraufgeführt 1884 in Mailand als einaktige Fassung unter dem Titel Le Willis, im selben Jahr in Turin als Le Villi in zweiaktiger Version) keine Rarität auf dem Plattenmarkt. Referenzaufnahme ist immer noch die Einspielung unter Lorin Maazel mit Renata Scotto als Anna. Die letzte Ausgabe mit Melanie Diener unter Marco Guidarini bei naive stammt aus dem Jahre 2003. Aber all diese Dokumente bedienten die spätere Fassung, von ersterer existiert lediglich eine Ausgabe bei Fonit Cetra unter Arturo Basile von 1954 mit Elisabetta Fusco.

Die Neuveröffentlichung von Opera Rara wurde im November 2018 in London eingespielt und erweckt besonderes Interesse durch die Wahl der Urfassung und die verwendete neue Ricordi-Edition (ORC59). Im Anhang finden sich zwei Arien aus der späteren Fassung, darunter Annas Hit „Se come voi piccina io fossi“..

Mark Elder, Artistic Director von Opera Rara, dirigiert das London Philharmonic Orchestra und erfasst die Stimmung des Werkes sehr überzeugend. Schon das kurze Preludio ist eine atmosphärische Studie von zauberischen Klängen, die dann in den bewegten Chor „Evviva i fidanzati“ übergehen. Der Opera Rara Chorus (Pieter Schoeman) singt ihn mit vitalem Schwung. Ausgelassen wird Annas Verlobung mit Roberto gefeiert. Beide vereinen ihre Stimmen im Duett „Non esser, Anna mia“, in welchem er sie in ihrer Melancholie zu trösten sucht, muss er doch wegen einer Reise nach Mainz den Schwarzwald verlassen. Mit ihrem melancholisch umflorten Sopran ist Ermonela Jaho eine ausgezeichnete Wahl für die Partie. Der armenische Tenor Arsen Soghomonyan lässt als Roberto emphatische Tenöre hören, die sich leidenschaftlich aufschwingen

Brian Mulligan ist Guglielmo Gulf, Annas Vater, der mit der Preghiera „Angiol di Dio“ das Paar segnet. Sein Bariton klingt warmherzig und fürsorglich. Diese Szene beendet den ersten Teil als großes, rauschhaftes Ensemble der drei Solisten und des Chores. Danach folgt ein dramatisches Intermezzo sinfonico, von Elder mit spannender Steigerung geformt, welches die Geschehnisse in Mainz schildert, wo Roberto von einer Kurtisane verführt wurde und Anna vergessen hat. Aus Gram über seine Untreue stirbt sie und wird zu einer jener Willis, die des Nachts als zauberische Geister die Herzensbrecher zu Tode tanzen. (In der späteren Fassung übernimmt diese Beschreibung ein Erzähler.)

Der zweite Teil der Oper beginnt mit Guglielmos Klage über den Tod seiner Tochter und das Verlangen nach Rache. Die Stimme des Baritons klingt hier sehr tenoral, doch mit gebührend schmerzlichem Ausdruck. Roberto, von Reue geplagt, ist heimgekehrt. Anna aber ist nun zur Rächerin geworden. In der Schluss-Szene „Tu dell’ infanzia mia“ klingt sie anfangs noch einmal ganz zart und zerbrechlich, weil sie sich voller Trauer an den Beginn der Liebe zu Roberto erinnert. Dann aber überwiegen der Schmerz und das Leid wegen seines Betrugs. Sie zwingt ihn zu tanzen bis zum tödlichen Zusammenbruch – ihr „Sei mio!“ ist ein triumphaler Ausbruch, während Guglielmo Gottes Gerechtigkeit preist.

Im Anhang erfreut Jaho mit Annas Arie „Se come voi piccina io fossi“, fein gezeichnet und mit blühender Lyrik ausgestattet. Der Tenor kann in seiner großen Scena drammatica e RomanzaEcco la casa/Torna ai felici dì“ mit wehmütiger Empathie berühren, aber auch mit schwelgerischen Tönen und potenter Höhe prunken. Bernd Hoppe

 

(Aber man fragt sich als Opera-Rara-Fan angesichts der bisherigen Veröffentlichungen doch verwirrt, in wieweit diese der eigentlichen Belcanto-Strategie des Labels entspricht. OR hat sich einen Namen für Donizetti, Rossini und anderes mehr aus dere ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht. Doubletten dieser Art lösen ein gewisses Rätseln über die Ausrichtung der Firma aus… Wird da vielleicht ein potenter Sponsor bedient? Das wäre schade, aber der Verdacht drängte sich bereits bei ein  anderen „Ausreißern“ des Repertoires auf. Zumal diese Willis ja keine Plattenpremiere sind. G. H.)

Jan Buchwald

 

Am 28. Juli 2019 starb der Bariton Jan Buchwald.  1974 in Solingen geborene Künstler hatte schon als Schüler privaten Gesangsunterricht genommen. Nachdem ihm Martha Mödl bei einem Vorsingen Talent bescheinigte, nahm er ab 1995 ein reguläres  Studium auf, das er hauptsächlich bei Carl Heinz Müller in Hannover absolvierte. Zusätzlich besuchte er diverse Meisterkurse, bei denen sich eine engere Beziehung zu Dietrich Fischer-Dieskau entwickelte, mit dem er auch weiter arbeitete als er längst im Engagement war.

Im Jahr 2000 kam er als Anfänger an die Hamburgische Staatsoper, zunächst als Mitglied des Opernstudios, ab 2002 wurde er ins Ensemble übernommen. Zu Beginn in vielen kleinen Partien eingesetzt, stellte sich der erste große Erfolg 2004 mit der Titelpartie in Reinhard Keisers „Der lächerliche Prinz Jodelet“ ein; da war ein junger lyrischer Bariton mit schöner Stimme und genügend Volumen für das nicht einfach zu singende Hamburger Haus. Danach folgten über die Jahre eine Vielzahl meist mittlerer Partien, von Wagner Heerrufer, Kothner und Donner (den er unter Barenboim auch an der Scala, der Berliner Staatsoper und bei den Proms sang), von Strauss Faninal und Geisterbote, der Poet im „Turco in Italia“, der Paolo Albiani im „Simon Boccanegra“, mit dem Simone Young 2005 ihren Posten als GMD und Intendantin in Hamburg antrat. Vereinzelt kamen dann auch große Rollen, Graf Almaviva, Belcore, der Lortzing’sche Zar Peter und sogar Wolfram, aber es blieb zumeist bei einer Serie. Vielleicht hatte es mit den ab etwa 2009/10 einsetzenden gesundheitlichen Problemen zu tun, die ihm zwar nicht auf die Stimme gingen (ich habe noch Ende 2014 einen exzellenten Heerrufer gehört) aber die Planung in der Einsetzbarkeit erschwerten. 2015 traf ihn dann das Schicksal vieler Sänger beim Intendantenwechsel – der Vertrag wurde nicht  verlängert. Danach hat er nur noch vereinzelt Konzerte gegeben. Zu einem neuen Engagement kam es nicht mehr, da sich ab diesem Zeitpunkt die physische Kondition immer mehr verschlechtert zu haben scheint. Jetzt ist Jan Buchwald am 28. Juli 2019 (das bei Wikipedia angegebene Datum ist falsch) nach langer Krankheit – und trotzdem völlig überraschend – mit gerade einmal 45 Jahren in Hamburg verstorben. Hartmut Kühnel

Interessante Portraits

 

Der Titel weist in eine andere Richtung, als sie Stephen Costello derzeit anstrebt, da der 38jährige momentan seine Partien neu sortiert. „A te, o cara“ singt Stephen Costello tatsächlich auf seinem gleichnamigen CD-Debüt bei Delos (DE 3541). Allerdings keine verzierten hohen Rossini-Partien, wie sie zu erwarten wären, wenn ein Tenor Arturos Arie aus den Puritani als Aushängeschild wählt. Diese Partien überlässt er wohl lieber Kollegen wie Lawrence Brownlee, Javier Camarena. Gleichwohl gelingt Costello „A te, o cara“ ebenso wie das notorisch geliebt-gefürchtete „Ah mes amis“, bei dem Tonio neun hohe Cs verschenkt, um die Regimentstochter Marie zu gewinnen, ohne dass sein Tenor an Stimmqualität und Substanz verliert. Allerdings wirken solche Stücke bei Costello wie in die Luft geworfene Kunststücke in der Manege. Ein wenig scheint es als wolle der in Philadelphia geborene Tenor mit dieser von Kaunas City Symphony Orchestra und Constantine Obelian begleiteten CD Abschied nehmen von Partien, die ihm lieb und teuer waren, bevor er sich weiter mit Don José beschäftigt. Donizetti begleitete ihn seit seinen Anfängen, als er 2007 beim Met-Debüt den Arturo in Lucia und vielmals den Riccardo in Anna Bolena sang; einmal auch Edgardo. Edgardos „Tombe degli avi miei“ und Riccardos „Vivi tu, te ne scongiuro“ zeigen die Farben und die feine Lasur der Stimme, wobei man im Fall des Edgardo fürchten könnte, dass Costello etwas zu sehr auftrumpfen will und ihn die Partie in einem sehr großen Haus zum Forcieren zwingen dürfte. Da wird sein ansonsten schöner Tenor, wie auch in der extremen Höhe, generell etwas steif. Das machen andere besser. Mir gefiel in Ernestos „Sogno soave e castro“ sowie in der Arie aus Don Sebastiano („Deserto in terra“) die Wärme und der Ausdruck, im Fall von „Una furtiva lagrima“ auch die künstlerische Reife, der vibrierende Ton und der charmanter Klang, ein Eindruck der auch beim wiederholten Hören Bestand hat.

 

Ganz im Gegensatz zu Kristian Benedikt, der unter dem Titel Tenore di forza „favorite tenor arias“ (DE 3571) singt. Je häufiger man die Arien hört, desto weniger ist man von einzelnen Interpretationen überzeugt. Berühmt wurde der litauische Tenor als Otello. Dessen letzte Szene gestaltet er, sehr gut begleitet vom Lithuanian National Symphony Orchestra unter Modestas Pitrénas, mit seinem dunklen Tenor überzeugend. Da stimmen die Entwicklung, die Steigerung und die konzentrierte Entfaltung der Stimme, klingt Benedikt auch geschliffener als in den anderen Arien, wo die hemdsärmelige Herangehensweise, die unelegante Phrasierung, das Anbrechen von Gesangsphrasen verstört und auf mich doch sehr provinziell wirkt; in Chéniers „Un di all‘ azzuro spazio“ und  Calafs „Nessun dorma“ wird der Klang breiig oder greinend, der Canio stößt mich fast ein wenig ab, der Eleazar bleibt allgemein ungelenk; der Cid-Rodrigue dagegen ist schöner. Er ist richtig als Dick Johnson mit „O son sei mesi“, überzeugt am meisten als Hermann, der wie der Samson (mit den Szenen aus dem ersten und dritten Akt), zu seinen Lieblingspartien gehört. Zwei interessante Raritäten: der litauische Patriot Walter in Ponchiellis I Lituani von 1874 mit „Esultiamo nel nome del signor“ und, ebenfalls mit dem Chor der Litauischen Nationaloper, eine patriotische Szene des Helden Udrys in einem volksliedhaft hymnischen Tableau aus Vytautas Klovas Oper Pilénai von 1956. Rolf Fath