Archiv für den Monat: Oktober 2014

Frühe Vollendung

The Art of Noel Mewton-Wood: Das Label Heritage gibt sich nicht mit Mainstream ab. Es ist in den Nischen zu Hause. Die Erinnerung an den australischen Pianisten (1922 bis 1953) ist typisch für dieses Label und ein Gewinn für den Musikmarkt. Das Programm wirkt eigenwillig. Es enthält die Sonaten Nummer 1 und 2 von Weber, die Tarantella in As-Dur von Chopin, Schuberts Lied Auf dem Strom und den Liederzyklus An die ferne Geliebte von Beethoven. Gesungen werden die Lieder von Peter Pears. Beim Schubert-Lied bläst Dennis Brain das Horn und drängt das Klavier etwas ins Abseits. Solcherlei Unausgewogenheit könnte auch schon von den Aufnahmebedingungen herrühren. Diese scheinen nicht die besten gewesen zu sein. Die Lieder wurden 1953 bei der BBC eingespielt. Es gibt bessere Aufnahmen aus dieser Zeit. Insofern ist es gar nicht so einfach, sich an Hand dieser CD (HTGCD 269) ein genaues Bild von den Fähigkeiten des Pianisten zu machen. Für meinen Eindruck ist der Klang etwas stumpf. Bei den Klavierstücken erklärt sich eine Neigung zu solcher Einschränkung tatsächlich aus deren Alter. Sie entstanden bereits 1941 mitten im Zweiten Weltkrieg, als deutsche Bomben auf England fielen. Der 1922 in Melbourne geborene Pianist war damals keine Zwanzig.

Mewton-Wood stand am Beginn einer großen aber kurzen Karriere. Gerade mal vierzehn Jahre alt, war er nach England gekommen, um an der Königlichen Academy zu studieren. Seine Heimat Australien gehört zum Commonwealth. In Italien vervollkommnete er seine Fähigkeiten, nahm zwischenzeitlich Privatunterricht bei dem legendären Pianisten Artur Schnabel. Nach dem Krieg machte er sich auf Konzertreisen in Europa und darüber hinaus einen Namen. Der Dirigent Thomas Beecham musizierte mit Mewton-Wood. Von seinem Spiel zeigte sich auch der britische Dirigent Sir Henry Wood noch kurz vor seinem Tod tief beeindruckt. Er fühlte sich durch an Liszt, Anton Rubinstein und Busoni erinnert. Sein Pianissimo sei so schön wie sein Fortissimo. Der aufstrebende Pianist kannte keine Grenzen, er warf sich mit der gleichen Leidenschaft auf Beethoven wie auf Bartók, Hindemith oder Busoni, dessen gewaltiges Klavierkonzert mit abschließendem Männerchor er auch eingespielt hat. Mewton-Wood galt als äußerst feinsinnig, sammelte Bücher und Kunstwerke. Gustav Mahler erklärte er zu seinem Lieblingskomponisten, noch bevor der wiederentdeckt worden ist.

Die neue CD von Noel Mewton-Wood bei BMS erscheint im November und  enthält auch das rasante Konzert für Klavier und Trompete op. 35 von Shostakovich. Es wurde 1953, im Todesjahr von Mewton-Wood, unter Walter Goehr aufgenommen.

Die CD von Noel Mewton-Wood bei BMS/Naxos (101 CDH) enthält auch das rasante Konzert für Klavier und Trompete op. 35 von Shostakovich. Es wurde 1953, im Todesjahr von Mewton-Wood, unter Walter Goehr aufgenommen.

In England war er auch mit dem Komponisten Benjamin Britten und dessen Lebensgefährten Peter Pears bekannt geworden. Dieser Freundschaft sind auch die Liedaufnahmen auf der CD zu verdanken. Sie entstanden 1953 an nur einem Tag, nämlich am 28. Januar. Am Beethoven-Zyklus fällt die große Ruhe auf. Pears lässt sich sehr viel Zeit. Er braucht mehr als vierzehn Minuten, andere Sänger kommen mit weniger aus. Mir sagt diese Ausbreitung zu. Sie lässt viel Raum für Darstellung und Tiefe. Es ist erstaunlich, wie selbstverständlich und genau Pears mit dem deutschen Text umgeht. Jedes – oder fast jedes – Wort ist zu verstehen. An seinem eigenwilligen Timbre, das den Vorteil hat, sofort erkannt zu werden, wurde von der Kritik oft eine gewisse Trockenheit ausgemacht. Ein Urteil, dem ich mich nicht anschließen kann. Ich würde von Sanftheit sprechen. Die kommt diesen Liedern sehr entgegen. In der Begleitung kann Mewton-Wood seine expressives Talent nur bedingt ausleben. Er hält sich zurück, tritt hinter dem Sänger in die zweite Reihe. Das wirkt sehr sympathisch – und kollegial.

Das Leben von Noel Mewton-Wood endete tragisch. Er vergiftete sich mit Blausäure, weil er sich die Mitschuld am Tod seines geliebten Lebensgefährten gegeben haben soll. Dieser war an einem Blinddarmdurchbruch gestorben. Die Symptome sollen nicht frühzeitig genug entdeckt worden sein. Oder war es nicht vielmehr so, dass er ohne ihn nicht weiterleben konnte? Die CD ist eine schöne Erinnerung an einen ungewöhnlichen Pianisten und Menschen.

Rüdiger Winter

 

Mendelssohn und Meyerbeer

Wer hätte das gedacht, dass Robert Schumann und sogar Felix Mendelssohn Bartoldy ähnlich harte Worte für Giacomo Meyerbeers Opern fanden wie der vielzitierte Richard Wagner, nur von Seiten des auch Berliners, dazu noch weitläufig verwandten und eng verschwägerten Juden nicht öffentlich, sondern im reichhaltigen Briefwechsel mit Freunden und Verwandten. Dieser wird seit 2006 durch den Bärenreiter Verlag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Backe-Verlag wiederrum hat ein Buch von Thomas Kliche unter dem Titel Camacho und das ängstliche Genie –  Innenansichten der Familien Mendelssohn und Meyerbeer herausgegeben, das zu einem großen Teil auf diesen Briefen fußt. Vorangestellt ist dem Text eine genealogische Graphik, die die vielfachen Verflechtungen, beginnend mit den Familien Oppenheimer und Guggenheim, zeigt; Heiraten zwischen Juden, auch getauften, und Christen waren nicht üblich, zumindest die Juden der gesellschaftlichen Oberschicht deshalb oft untereinander verwandt.

Das Buch fällt zunächst einmal dadurch auf, dass ein Widerspruch zwischen der streng wissenschaftlichen Arbeit mit umfangreichem kritischem Apparat und den häufig bewusst legeren Titeln wie Wie hältst Du’s mit der Religion, Eiseskälte, Geburtstage und Butterkuchen oder Von der Ratte und anderen Tieren  zu bestehen scheint. Mit Ersterem wird der wissenschaftlich Interessierte bei der Stange gehalten, mit Letzterem der auf Unterhaltung Erpichte nicht verschreckt.

Der Starkomponist Giacomo Meyerbeer/OBA.

Der Starkomponist Giacomo Meyerbeer/OBA.

Im Prolog werden die bekanntesten Mitglieder der Familien hervorgehoben: Moses, Fanny und Felix Mendelssohn auf der einen und Amalia Beer und Giacomo Meyerbeer auf der anderen Seite. Die Familie Mendelssohn trat zum Protestantismus über, die Meyerbeers blieben semitischen Glaubens. Als Betty Meyer, eine Cousine von Felix, Heinrich Beer, einen Bruder Giacomos, heiratete, wurde sie wieder Jüdin. Für Giacomo war es ein schlimmer Schlag, dass seine Töchter zum Christentum übertraten. Gemeinsam waren, wie der Autor anschaulich schildert, beiden Familien das Streben nach Bildung als Voraussetzung zum gesellschaftlichen Aufstieg, der Geldhandel, die Wohltätigkeit und die Öffnung ihrer Salons für das kulturelle Berlin. Dazu waren sie ausgesprochen patriotisch gesinnt, wie die Meldung zweier Brüder Giacomos als Freiwillige in den Befreiungskriegen beweist. Die allererste Verbindung zwischen beiden Familien ist 1811, als der junge Jakob Meyer Beer Psalmen vertont, die Moses Mendelssohn einst übersetzt hatte.

Unerhört reich ist das Quellenmaterial, auf das der Autor sich stützen kann, und reichlich wird daraus zitiert. Viele Seiten werden dem Bruder Giacomos, Heinrich, gewidmet, dem enfant terrible seiner Familie,  bei dem der Autor manisch-depressive Züge vermutet und der angeblich zehn uneheliche Kinder gehabt haben soll, was der Autor anzweifelt. Bei den Mendelssohns ist es das Versagen von Felix als Opernkomponist, das den ewigen Stachel im Fleisch der Familie bildet. Die Hochzeit des Camacho  hieß das wenig erfolgreiche Werk, das seinem unglücklichen Komponisten den bösen Spitznamen bei der mit einem erfolgreichen Opernkomponisten gesegneten Familie eintrug.

Felix Mendelssohn-Bartholdy/OBA

Felix Mendelssohn Bartholdy/OBA

Vereint waren die beiden Familien auch als Gründungsmitglieder des Königsstädtischen Theaters von Berlin, die Familie Beer leistete sich sogar einen eigenen Theater- und Konzertsaal, beide Familien wohnten an prominenter Stelle in Berlin, im Tode trennten sich ihre Wege wegen des unterschiedlichen Bekenntnisses. Nicht nur die Musik Meyerbeers wird im Hause Mendelssohn als Nachahmung Rossinis und als trivial empfunden, auch sein Charakter findet bei Felix‘ Mutter keinen Beifall, wenn sie ihn als „nickig, als schrullig und verdrießlich“ empfindet. Ihr Sohn sieht in dem erfolgreicheren Komponisten, zumindest was die Oper angeht, einen „Fahnenflüchtling und „Vaterlandslosen“. Robert le Diable  und sein Riesenerfolg nicht nur in Paris kann da nur Öl ins Feuer gießen, wie Kliche anschaulich zu berichten weiß. Mendelssohn empfand das Werk als so anstößig, dass er beschloss, nur noch Kirchenmusik zu komponieren. Gespenstisch mutet es an, wenn man im Urteil Mendelssohns über Meyerbeer Vorwürfe findet, die später die Nazis gegen denselben erhoben. Mendelssohn verschonte das allerdings nicht vor ihrem Hass. „Sein Herz ist nicht dabei“, heißt die vernichtende Sentenz. Die Abneigung gegenüber dem Erfolgreichen geht so weit, dass sich Mendelssohn die Locken abschneiden lässt, um ihm nicht zu gleichen.  Das alles wird höchst plastisch und stets akkurat mit Zitaten belegt vor dem erstaunten Leser ausgebreitet. Gemeinsam ist beiden Komponisten die Abneigung gegenüber Berlin, wo man sich ungerecht beurteilt fühlt. (Mendelsssohn: „Die Leute sind kalt, maliziös und setzen eine Ehre darin, nie zufrieden zu sein“)  Trotzdem bleibt Meyerbeer für Mendelssohn der „Todfeind“, auch wenn man sich bei zufälligen Begegnungen Höflichkeiten sagt. Das Urteil Meyerbeers über Mendelssohns Musik fällt differenzierter aus als das der Familie Mendelssohn über die seine. 1836 zeigt sich, wie weit auseinander gedriftet beider Wege sind: Meyerbeers Hugenotten und Mendelssohn Paulus werden uraufgeführt.  Während die Verwendung des Luther-Chorals Meyerbeer von vielen Seiten her angelastet wird, findet bei Mendelssohn niemand etwas dabei.

Der Autor Thomas Kliche/Beck Verlag

Der Autor Thomas Kliche/Backe-Verlag

Es gibt nur einen einzigen überlieferten Brief Mendelssohns an Meyerbeer, wie der Autor berichtet. Er dürfte symptomatisch für ihr Verhältnis sein, denn es ist eine Absage. Felix will sich nicht mit einer Spende für die Erhaltung des Grabes von Gluck beteiligen. Am Schluss des Buches wird die Quellenlage geklärt, auf die Meyerbeer-Biographie des Ehepaars Henze-Döhring  und andere Sekundärliteratur hingewiesen, die Lage der Juden in Preußen erörtert. Lebensdaten der Komponisten und Literaturhinweise und ein Personenregister ergänzen den aufschlussreichen Band (ISBN 978 3 981 4873 7 4).

Ingrid Wanja

 

Offenbach historisch-kritisch

Das ist wirklich eine „fantasioistische“ Geschichte: rund 140 Jahre nach ihrer Uraufführung wurde im Dezember 2013 Jacques Offenbachs opéra-comique Fantasio in der Londoner Henry-Wood-Hall erstmals wieder in authentischer Form geboten (konzertant), nachdem in den Jahren zuvor verlässliches Notenmaterial aus teilweise obskuren Quellen und Adressen zusammengetragen werden konnte.  Spiritus Rector bei diesem Unternehmen ist der Offenbach-Forscher Jean-Christophe Keck, dem einige Offenbach-Nachkommen ihre Archive öffneten, andere sich aber auch verweigerten. Kecks Recherchen gleichen einer Dedektivgeschichte, die sich fraglos noch einige Geheimnisse aufbewahrt. Wie soll aber auch ein Werk rekonstruiert werden, dessen Notenblätter nicht nur in alle Winde zerstreut wurden, sondern sogar als „in memoriam“-Schnipsel von Freundeshand zu Freundeshand gingen? Man mag es kaum glauben.

"Fantasio": Deckblatt des Klavierauszugs bei Choudens/OBA

„Fantasio“: Deckblatt des Klavierauszugs bei Choudens/OBA

Keck ist nicht nur Offenbach-Dedektiv, sondern vor allem Offenbach-Enthusiast, der seine Arbeit mit Herzblut betreibt. Welch eine Befriedigung muss es für ihn bedeuten, dass nun die Londoner Aufführung auf CD zugänglich ist, bei einem der bestmöglichen Label für solche Spezialitäten, nämlich Opera Rara. Offenbach tauchte im Firmenkatalog immer wieder mal auf, so 1977 mit Christopher Columbus und 2008 mit Entre nous. Celebrating Offenbach, einem Querschnitt durch unbekannte Werke. So ist das Engagement für Fantasio nur logisch. Als Marc Minkowski vor zwei Jahren mit seinen Musiciens du Louvre-Grenoble eine Offenbach-Tournee absolvierte, berücksichtigte er aus der Oper die wunderhübsche Ballade à la lune. Diese Nummer, bei Opera Rara auch in einer Alternativ-Version vorhanden, könnte als Schlüssel für Offenbachs individuelle Handschrift bei diesem Werk herhalten, weitab von den vielen (für sich genommen köstlichen) Bouffe-Spektakeln. Die Nummer beginnt mit einem filigranen Holzbläser-Satz, später geben ihr die Fagotte eine besondere, leicht melancholische Farbe. Der 1. Akt enthält ein Duett, bei der sich Prinzessin Elsbeth und Fantasio ansingen, ohne sich zu sehen. Ihre gemeinsame Szene im 3. Akt tendiert mit wagemutigen Harmonien und sensibler Orchestrierung noch stärker in Richtung Oper, so dass man geneigt sein könnte, die Gattungsbezeichnung opéracomique in opéralyrique zu ändern.

"Fantasio": Szene aus der Aufführung in Rennes 2000/Foto Galbrun/Boosey & Hawks

„Fantasio“: Szene aus der Aufführung in Rennes 2000/Foto Galbrun/Boosey & Hawks

Das Sujet (nach Alfred de Musset) ist fraglos etwas kompliziert. Der König von Bayern will seine Tochter Elsbeth mit dem Prinzen von Mantua vermählen, eine politische Transaktion Als der Student Fantasio die junge Frau sieht, verliebt er sich sofort in sie. Im Kostüm des gerade verstorbenen Hofnarren gelingt es ihm, sich ihr zu nähern, wobei sich auch ihrerseits zarte Band knüpfen. Fantasio vereitelt Elsbeths Hochzeit, deren Vorbereitungen ohnehin als Verkleidungsfarce ablaufen (der Prinz von Mantua und sein Diener Marinoni tauschen ihre Gewänder). Für seine Frechheit wandert Fantasio ins Gefängnis. Doch er wird begnadigt, als er – der mutige Träumer – einen Krieg zwischen den Staaten zu verhindern weiß. Elsbeth steckt ihm den Schlüssel zu ihren Garten zu. Heimliche Aufforderung …

Als die Oper 1994 in am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen zur Aufführung kam (Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk, Dirigent: Shuya Okatsu, Regie: Christof Loy), wurde der Schluss anders interpretiert, wenn einem Zeitungsbericht von damals zu glauben ist. Kein Happy End, weil Elsbeth ihren Märchenprinz haben möchte, keinen wenn auch noch so netten jungen Mann aus niederem Stand. Doch auch diese Handlungsvariante ist keineswegs übel, wie auch die Gelsenkirchener Fantasio-Besetzung mit einem Tenor (Thomas Piffka) nicht nur eine mögliche, sondern eine weiterhin überlegenswerte ist. Sie entspricht Offenbachs erster (für den Sänger Capoul konzipierter), dann freilich verworfener Fassung. Bei der Pariser Uraufführung 1872 wurde die Partie dann für Célestine Galli-Marie umgearbeitet, drei Jahre später Bizets Carmen. So wunderbar in der Opera Rara-Aufnahme die Stimmen von Sarah Connolly (Fantasio) und Brenda Rae (Elsbeth) auch verschmelzen: Der Theaterinstinkt plädiert für einen Tenor. Aber wir wollen  nun wirklich nicht schlauer sein als Monsieur Offenbach.

fantasio line nwdrDie jüngste Aufnahme im heimischen Frankreich war 2000 in Rennes unter Claude Schnitzler (mit Martial Defontaine,  Jane Roulleau  u. a.). Bei Opera Rara sorgt nun Mark Elder mit dem Opera Rara Chorus (Renato Balsadonna) und dem Orchestra of Enlightenment für angemessenen Offenbach-Zunder, aber auch für Delikatesse, welche gerade bei diesem oft doch sehr zarten Werk für die richtige Atmosphäre sorgt. Sarah Connolly verkörpert die Titelparte untadelig, ohne freilich mit einem wirklich individuellen Timbre aufwarten zu können. Der kapriziösen Elsabeth gibt Brenda Rae viel Empfindsamkeit mit und meistert selbst vertrackteste Koloraturen. Sehr gut auch das Gespann Russell Braun/Robert Murray (Prinz von Mantua/Marinoni). Die anderen Mitwirkenden (Victoria Simmonds, Brindley Sharrat, Neal Davies, Gavan Ring, Aled Hall) gehen meist in den Ensembles unter (.2 CD Opera Rara ORC 51).

"Fortunio": Jacques Offenbach/Booyey & Hawks

„Fantasio“: Jacques Offenbach/Booyey & Hawks

PS.: Zur Gelsenkirchener Aufführung (bei welcher übrigens auch der heute als Wagner-Tenor geschätzte Torsten Kerl mitwirkte) wäre nachzutragen, dass sie erfolgreich verlief, auch wenn ihr ein Hang zu grellen Wirkungen angekreidet wurde. Ansonsten gehört zur bescheidenen Rezeptionsgeschichte des Werkes noch eine Hamburger Rundfunkeinspielung von 1959 (Keck) oder 1957 (Notiz zu einer historischen HörZu-Programmseite). Sie wurde von Wilhelm Stephan geleitet, beim NDR damals zuständig für Operette. Die Sänger waren Sigmund Roth, Valerie Bak, Helmut Krebs, Karl Hoppe, Willy Hofmann (an welchem Sender sang der eigentlich keine Operette?), Gisela Litz, Horst Günter, Rupert Glawitsch und Karl Otto.

Am 13. und 18. Dezember 2014 wird  das Badische Theater Karlsruhe den „neuen“ Fantasio szenisch zur Aufführung bringen. Von einem Erfolg dürfte der weitere Weg der Oper nicht wenig abhängen. Aber es stehen immerhin Andreas Schüller von der Dresdner Staatsoperette als Dirigent und der einschlägig versierte Regisseur Bernd Mottl zur Verfügung

Christoph Zimmermann

Die Hexe tanzt

Der großen Ausdruckstänzerin Mary Wigman widmet ARTHAUS ein Porträt mit dem Titel The Soul of Dance (102 204). 1986 in Hannover geboren, studierte sie 1910/11 rhythmische Gymnastik in Hellerau, traf 1913 Rudolf von Laban, der wesentlich an der Entwicklung des modernen Ausdruckstanzes beteiligt war, und trat in seine Schule für Kunst auf dem Monte Verità in der Schweiz ein. Ihre ersten choreografischen Arbeiten zeigte sie in München, blieb während des 1. Weltkrieges bei Laban als dessen Assistentin in der Schweiz und unterrichtete u. a. in Zürich. Dort und auch in Deutschland zeigte sie 1919 weitere Programme, die ihr aber noch nicht den Durchbruch brachten.

Mary Wigman/Foto Renger/marywigmands.blogspot

Mary Wigman/Foto Renger/marywigmands.blogspot

Ein Jahr später eröffnete sie in Dresden eine Schule für modernen Tanz, machte Bekanntschaft mit Ernst Ludwig Kirchner und zeigte Aufführungen mit ihrer Tanzgruppe. Zwischen 1920 und 37 entstand eine Vielzahl von Solotänzen. Obwohl sie dem nationalsozialistischen System nahe stand und auch für die Olympischen Spiele 1936 choreografierte, musste sie 1942 ihre Dresdner Schule verkaufen und ging 1942 nach Leipzig an die Hochschule für Musik, 1949 nach West-Berlin, wo sie das Mary-Wigman-Studio gründete. Mary Wigman starb 1973 – im selben Jahr begann Pina Bausch ihre künstlerische Arbeit beim Wuppertaler Tanztheater, wo sie das Erbe des großen Vorbildes fortsetzte.

Mary Wigman/Danza Classica

Mary Wigman/Danza Classica

Der Film von Nornert Busè und Christof Debler ist gegliedert in acht Kapitel, beginnend mit „America. I’m a dancer for people“. Dieses zeigt die  Ankunft der Choreografin in New York 1929, wo sie den New German Dance berühmt machte. Verschiedene Persönlichkeiten – Tänzer, Choreografen, Tanzexperten, Bibliothekare und die Wigman-Biografin Hedwig Müller – kommen zu Wort und berichten von der Ausstrahlung der Wigman und ihrem Einfluss auf die amerikanische Tanzszene. Eine Ungereimtheit gibt es freilich, wenn von ihrem Auftritt in der Carnegie Hall die Rede ist und dazu der  Zuschauerraum der Berliner Lindenoper eingeblendet wird. Seltene Dokumentaraufnahmen zeigen die Künstlerin selbst in ihrem Tanz „Pastorale“, eine Choreografie, „Wandlung“, zu „Der Tod und das Mädchen“ auf Schuberts Musik von ihrer Schülerin Susanne Linke als Hommage an das große Vorbild wird von einer nicht genannten Interpretin getanzt. Kapitel 2, „The fanciful Marie“, geht zurück zu Marys Kindheit nach Hannover, historische Fotos zeigen das Festspielhaus in Hellerau, wo sie sich als Studentin eintrug mit dem Ziel Rhythmiklehrerin, die Lehrerin Suzanne Perrottet und Impressionen aus Rom, wo sie sich 1912 aufhielt. Kapitel 3, „Switzerland. Beginnings of Ausdruckstanz“, führt in die Schweiz, wo verschiedene Nacktaufnahmen die beginnende FKK-Bewegung belegen und Rudolf von Laban erstmals ins Bild kommt. Wigman ist fasziniert von dessen künstlerischen Ideen, auch von seiner Aura, doch ist er Suzanne Perrottet verbunden. Als diese ein Kind von ihm erwartet, stürzt das Wigman in eine tiefe persönliche und gesundheitliche Krise. Wunderbare Landschaftsaufnahmen leiten das 4. Kapitel, „Nature. Vital line of art“, ein, welches Wigmans Verbundenheit mit der Schöpfung belegt. Nach ihrer Genesung beginnt sie 1940 in Zürich mit ersten öffentlichen Aufführungen – in Anwesenheit von Suzanne Perrottet, die in einer historischen Tonaufnahme über diesen ungewohnten, verstörenden Stil berichtet. Kapitel 5, „Weimarer Republik. Another world“, führt nach Deutschland 1918 mit der Blütezeit des Varietés. Das deutsche Publikum findet keinen Zugang zu ihrem Tanz – die Säle bleiben leer. Eine Tournee 1919 in verschiedene deutsche Städte kann sie nur mit finanzieller Unterstützung von Freunden realisieren. Der Durchbruch kommt in den dreißiger Jahren in Dresden. Der fast 100jährige Komponist Kurt Schwaen, langjähriger Pianist der Wigman, berichtet über dieses außergewöhnliche Ereignis, wie auch die Wigman Schülerin Susanne Linke (Kapitel 6: „Dresden. New start of dance“). Der Choreograf schildert die Bemühungen, Wigmans berühmteste Schöpfung, „Hexentanz“, den sie 1926 erstmals aufführte, dabei eine Gesichtsmaske trug und mit diesem ungewohnten Tanzstil extrem provozierte, zu rekonstruieren. Originalaufnahmen der Wigman und nachgestellte Sequenzen zeigen die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit des Originals. „On tour. Highlights of career“ (Kapitel 7) bringt mit dem Kauf eines Cabrios Ende der 1920er Jahre eine Episode aus Wigmans letzter erfüllter Zeit. Das Kapitel 8, „At the end. Farewell and thanks“ schildert die Rückkehr nach Deutschland, erwähnt ihren choreografischen Beitrag zur Eröffnungszeremonie der Olympiade 1936 und zeigt einen Filmausschnitt aus ihrem letzten Solotanz, „Abschied und Dank“, mit dem sie sich, 56jährig,  von der Bühne verabschiedete.

Das Porträt mit den zahlreichen Dokumenten aus mehreren Tanzarchiven (Köln, Leipzig, Zürich, Berlin) ist eine Fundgrube für Freunde des Modernen Ausdruckstanzes. Der Bonus ergänzt den Film um Mary Wigmans Tagebuch über ihre Amerika-Tournee in den 1920er Jahren, Bewegungsstudien ab 1930 sowie Interviews mit Wigmans letztem Studenten, Helmut Gottschild, und Sasha Waltz.

Bernd Hoppe

 

Fleiss allein reicht nicht

Sollten Sie wissen wollen, liebe Leser, in welcher Rolle Richard Tauber am 13. Januar 1914 auf der Bühne stand? Es war der Turiddu in Mascagnis Cavalleria Rusticana in der Königlichen Hofoper in Dresden. Und am 10. Februar 1938? An diesem Tag sang er Tamino in Mozarts Zauberflöte an der Wiener Staatsoper. Es gibt aber auch weniger harmlose Daten im Aufführungsverzeichnis des Tenors. Nachdem die deutsche Luftwaffe in der Nacht vom 29. auf dem 30. die schwersten Bombenangriffe auf London geflogen hatte, stand er tags darauf gut achtzig Kilometer entfernt im Hippodrom zu Brighton als Theaterprinz Sou Chong in Lehárs Land des Lächelns auf der Bühne. Wie kam das an? Hatten die Engländer nicht andere Sorgen? Oder war gerade solche Abwechslung willkommen in dieser Zeit? Antworten auf solche Fragen bleibt das Buch Musik war sein Leben – Richard Tauber – Weltstar des 20. Jahrhunderts von Martin Sollfrank schuldig. Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe sich Tauber fröhlich durch die zwei größten Katastrophen der Neuzeit, den Ersten und Zweiten Weltkrieg mit Millionen Toten und verheerenden Verwüstungen, gesungen.

Das ist mein Haupteinwand gegen dieses Buch, das sich einem hohen Anspruch stellt, den es letztlich aber nicht erfüllt. Es lege „Informationen über ein Künstlerleben offen, die man in dieser Fülle, Ausführlichkeit und Sachlichkeit bisher nirgends auf einen Blick erhalten konnte“, wird auf dem Buchdeckel geworben. Erstmals sei Tauber „nicht nur als Sänger, sondern als vielseitiger Musiker, der weltweit gewirkt hat, dargestellt“. Vermutungen und Interpretationen hätten keinen Platz. Was als Vorzug des Buches ausgegeben wird, halte ich für seine Schwäche. So verdienstvoll es ist, in jahrelanger Kleinarbeit alle nachweisbaren Auftritte Taubers zu dokumentieren, der Künstler und Mensch hinter diesen Fakten bleibt fremd.

Allzu Persönliches wird diskret gestreift oder anekdotisch verpackt. Richard Tauber, gefeiert wie kaum ein anderer Sänger vor und nach ihm, kurz nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten von einem SA-Trupp in Berlin als „Judenlümmel“ zusammengeschlagen, schließlich außer Landes getrieben – dieser tragische Lebenslauf erfährt allein durch Fakten keine Entsprechung. Da müsste schon tiefer gebohrt werden. Tauber sei absolut unpolitisch gewesen, heißt es erst zum Ende des Buches hin. Das hinderte ihn übrigens nicht daran, sich den Nationalsozialisten im Mai in einem Brief an das Reichsinnenministerium anzudienen. Solche Widersprüche werden nicht weiter verfolgt. Ich bekenne freimütig, mich nur mit Mühe und der Disziplin des Rezensenten durch die endlosen Listen von Auftritten gequält zu haben, die sich zudem sprachlich auf dünnem Eis bewegen. Wer soll das lesen? Für eine Verwendung des Materials zu Forschungszwecke mangelt es zu oft an akribischen Referenzen. Und an einem seriösen Apparat. Keine Konkordanz, kein Personenverzeichnis. Das ist zu wenig.

Fakten werden nicht selten einfach nur hingeworfen. Ein Beispiel auf Seite 73: „Im Theater an der Wien wurde am Nachmittag des 21. Oktober 1922 eine Festvorstellung für Carl Streitmann gegeben (,Die Fledermaus‘ von Johann Strauß, allerdings ohne Tauber) und anschließend eine Große Festakademie mit verschiedenen Künstlern aus Wiener Theaters. Dabei dirigierte Kammersänger Richard Tauber die ,Zigeunerbaron‘-Ouvertüre und sang zudem unter dem Dirigat Franz Lehárs.“ Wer war doch gleich dieser Streitmann? Ach, ja, ein österreichischer Tenor, (1858-1937), der erste Barinkay. Wer das nicht auf Anhieb weiß, muss sich weiterführende Angaben selbst besorgen. Das Buch, dem Stefan Frey im Vorwort „wissenschaftlichen Standard“ bescheinigt, liefert sie nicht. Es hat kein Personenregister, keine Fußnoten und keine Querverweise. Wenigstens ein summarisches Quellenverzeichnis ist vorhanden, das ist schon mal was. Es lässt die Leser mit einer schier endlosen Flut von Namen und Ereignissen allein. Dafür gibt es sich auffällig titelhörig. Papst reicht da nicht. Pius XI. wird als Seine Heiligkeit bemüht. So viel Zeit muss sein. Der Autor war Soldat.

Sehr verdienstvoll ist die Auflistung der Schallplattenaufnahmen, die an der zeitlich passenden Stelle in die jeweiligen Lebensstationen eingeordnet sind. Eine eigentliche Diskographie wird daraus nicht entwickelt, was schade ist, dem Buch gut zu Gesicht gestanden und es doch noch wichtig gemacht hätte. Für eine Diskographie fehlen zu viele weiterführende Angaben und die Katalognummern. Das Schallplattenerbe Taubers ist so gewaltig wie unübersichtlich. Manche Titel gibt es mehrfach, worauf auch verwiesen wird. Sammler werden also weiterhin mit der Lupe über ihren eigenen Beständen brüten und versuchen, wenigstens eine Grundordnung herzustellen. Nicht alle Einspielungen zeigen Tauber auf der Höhe seines Könnens. Es ist viel Lässliches, Uninspiriertes dabei. Hatte er keine Lust, fühlte er sich nicht aufgelegt, so ist das auch zu herauszuhören. Das Buch ist keine Hilfe, Spreu vom Weizen zu trennen.

Im zweiten Teil lässt sich der Autor auf den Versuch ein, „das Besondere an Richard Tauber“ aufzuspüren – darunter „Stimme und Bühnenausdruck“. Dabei nimmt er auffallend häufig Zuflucht zu Aussagen und Meinungen anderer, zitiert sich durch Kritiken, Zeitungsartikel und Bücher. Es bleibt unklar, was Sollfrank selbst empfindet, wenn er die Stimme Taubers hört, wie er sie bewertet und einordnet, welchen Rang er ihr gibt. Symptomatisch für dieses Manko scheint mir eine Bemerkung an anderer Stelle, wo er auf die erste Begegnung Taubers mit seiner späteren Frau, der Sängerin Carlotta Vanconti, die ihn nach der Scheidung in schwere finanzielle Bedrängnis bringen sollte, zu sprechen kommt. Diese habe über „eine durchaus gepflegte Sopranstimme“ verfügt. Damit ist überhaupt nichts gesagt, es kann alles bedeuten und nichts. Positiv anzumerken sind das Rollenverzeichnis, die Liste der Filme mit Tauber, geordnet nach Premierendatum und eine Aufstellung seiner eigenen nachweisbaren Kompositionen, wobei nicht klar wird, was künstlerisch davon zu halten ist und welche Werke es auf Tonträger geschafft haben.

„Der Mensch Richard Tauber“: Auf Seite 445 endlich dann doch noch das Bemühen, dem Sänger unter dieser wie aus Holz geschnitzten Überschrift etwas näher zu kommen. Mit gemischten Ergebnissen, stilistisch mager. Immer wieder entsteht der Eindruck – wie schon auf einer der ersten Seiten des Buches – als sei der Autor bei bestimmten Ereignissen dabei gewesen, wenn nämlich Vater Tauber mit dem Sohn „ein ernstes Wort“ sprach, das offenbar lediglich auf einer Annahme beruht, nicht aber auf verbürgten Quellen. Anhänge mit vielen Fotos und Faksimiles vermitteln dann doch noch so etwas wie Sinnlichkeit, die für Tauber angebracht erscheint. Auf diesen Seiten habe ich sehr gern verweilt. Trotz aller Einwände, es ist ein Buch der Verehrung des Autors für seinen Helden. So viel Fleiß, so viel Ausdauer – das kann nur Liebe sein. Deshalb möchte ich es auch all jenem empfehlen, die sich mit Richard Tauber beschäftigen und sich bereits gut auskennen in seiner Lebensgeschichte. Wenn auch dieser und jener ungenaue Punkt in dieser Biographie nun korrigiert wurde, für eine erste Begegnung mit diesem Tenor, also zum Kennenlernen, genügt es nicht.

Rüdiger Winter

Martin Sollfrank: Musik war sein Leben – Richard Tauber – Weltstar des 20. Jahrhunderts Ausführliche biografische Dokumentation mit einem Nachwort von Stefan Frey, 527 Seiten mit Anhang und zahlreichen Fotos, Weltbuch Verlag, ISBN 978-3-906212-05-0

 

Karel Mirys „Bouchard d´Avesnes“

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Die gegenwärtige Beschäftigung mit französischsprachiger romantischer Oper, vom Palazetto Bru Zane so überwältigend angestoßen und an vielen Zentren namentlich Frankreichs realisiert, hat einen erstaunlichen Nebenschauplatz im belgischen Gent gefunden, wo bereits vor einiger Zeit Charles V des flämischen Komponisten Karel Miry aufgeführt und als CD zugänglich gemacht wurde – operalounge.de hat darüber berichtet.

180px-MiryNun gab es im März 2014 die unmittelbar darauf folgende Oper Mirys, Bouchard d´Avesnes, wieder unter dem kämpferischen Dirigenten Geert Soenen und unter der konzeptionellen, organisatorischen  Leitung von René Seghers, dem „Strippenzieher“ in Sachen flämisch-holländischer Musik und Chef von 401dutchoperas, das sich der Verbreitung von flämischer/holländischer Oper und Konzert sowie historischen Schallplatten aus diesem Umkreis widmet. Während wir hören, dass das CD-Projekt einstweilen gescheitert ist, gibt es erst einmal eine Besprechung und Bewertung des Konzerts und der Musik in Gent durch unseren Freund Alexander Weatherson von der Londoner Donizetti Gesellschaft. G. H.

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Eine Woche, die mit einer Oper auf dem Höhepunkt der Kunst, Guillaume Tell in Brüssel, endete – eine tadellose Konzertaufführung auf dem Höhepunkt aller Möglichkeiten und der Höhepunkt eines Operntrios, zu dem auch der unwiderstehliche Otello desselben Komponisten in Gent gehörte – wurde durch eine wirklich außergewöhnliche Wiederaufnahme eingeleitet; Karel (Charles) Miry schrieb seine große Oper Bouchard d’Avesnes für eine Aufführung am 6. März 1864 in seiner Heimatstadt Gent, und sie kann damals nicht weniger eine Offenbarung gewesen sein als heute, 150 Jahre später, in derselben Stadt, fast auf den Tag genau, denn wenn Sie eine fünfstündige Oper suchen, in der es nie langweilig wird – hier ist sie.

Mirys „Bouchard d´Avesnes“: René Seghers ist der vielseitige Veranstalter nicht nur der Miry-Opern in Gent, sondern auch Chef- und Arts-Editor für Kunst-Magazine. Feature-Editor des holländischen Opernmagazin Luister, Chef der website 401dutchoperas.com und Ator zahlreicher Biografien wie die über Jacques Brel, Franco Corelli, Haricléa Darclée u.,a./Foto 401dutchoperas.com

Wird es die schmerzliche Vernachlässigung von Karel Miry rückgängig machen? Auf jeden Fall, denn wir müssen diesen Komponisten wiederfinden, der mehr oder weniger den Grundstein für die Oper in flämischer Sprache gelegt hat – eine Treue zu seiner Herkunft, die ein lebhaftes Schaffen in französischer Sprache mit verlässlichen gallischen Intuitionen keineswegs behindert hat. Kürzlich haben wir seinen Charles V. gehört, eine sehr selbstbewusste Partitur, die Bouchard d’Avesnes unmittelbar vorausging und dessen Geläufigkeit teilt, aber diese letztere immense Oper mit ihren Pariser Ausmaßen und Dimensionen kündigt sich mit einem solchen Überfluss an Farben und melodischen Ressourcen an, dass man sofort merkt, dass ein großer Schritt gemacht wurde.

Alle fragten sich: Woher kommt diese Musik? Miry war, ganz im Sinne der Jahrhundertmitte, ein assimilativer Komponist, und es ist sofort klar, dass eine starke Strömung von jenseits des Rheins mit einer Flutwelle von Opéra-Comique-Charme und Erfindungsreichtum (sogar von Operetten-Gaudi) zusammengeführt und anschließend mit größtem Geschick in ruhige Gewässer kanalisiert wurde, und zwar nach einem Kompass, der sich von der italienischen Segelkunst ableitet. Miry widmete sein Leben der Pädagogik (unser Bouchard d’Avesnes wurde im Salle Miry des ihm zu Ehren benannten Genter Muziekconservatoriums aufgeführt), und diese riesige Oper erwies sich als brillante Demonstration des breiten Spektrums seiner Lehre. Eine solche Beherrschung der Mittel bedeutet jedoch keinen Verlust der Identität oder des persönlichen Charakters. Seine musikalischen Mittel sind als Selbstzweck vollkommen akzeptabel. Die Partitur ist reich an jeder Art von Nuance, er schwankt nie, seine Geläufigkeit hat eine weitschweifige Dimension, die eines Bayreuth würdig ist, aber er vermeidet Metaphysik zugunsten einer Art Perpetuum mobile eines wohlgeformten und selbstbewussten Lyrismus, der von einer opportunen Orchestrierung unterstützt wird. Nur die Idiotie und Absurdität des Musikbetriebs kann erklären, wie es möglich war, dass ein Komponist mit diesen Fähigkeiten und Talenten so lange im Verborgenen bleiben konnte. Nur eine hartnäckige kritische Blindheit kann es zugelassen haben, dass eine so attraktive Musik so lange der Gnade der absichtlich Tauben ausgeliefert war!

„Bouchard d´Avesnes“ in Gent 2014: Yvette Loynaz und Paul Claus/Foto 411dutchoperas.com

Unter seinen etwa zwanzig Opern finden sich viele mit patriotischen Themen, aber eine Reihe von weltlichen und witzigen Einaktern hielt seine Musik bis zu seinem Lebensende über Wasser. Er wurde 182 in Gent geboren und starb dort 1889, verbrachte aber einige prägende Jahre in Paris, was sich deutlich zeigt.

In der Oper gibt es nichts, was den Hörer erschüttert, aber alles, was ihn aufhorchen lässt. (…) Die charakteristische Leichtigkeit der Komposition macht es schwer zu verstehen, dass es sich um eine Tragödie handelt, zumal die obligatorischen Ballette (von denen eines sogar in der Einleitung vorkommt) eine trügerische Leichtigkeit vermitteln, die in dieser langen Partitur fast nie verloren geht, ungeachtet der anrüchigen politischen Intrigen, die fast in einer Katastrophe enden. Jeder hat seine köstliche Arie oder sein Duett, fast jeder Protagonist hat ein vokales Paradestück, und fast jede Abteilung des Orchesters hat vor den Schlussakkorden eine Probe ihres Könnens und ihres Durchhaltevermögens. Das ist Musik, die nicht nur das vokale und instrumentale Potenzial der Opernkunst, sondern auch das des Publikums ausreizen soll,

Die Musik verlangt nach prächtigen Solisten, und davon gibt es viele: zwei Soprane und ein Mezzosopran, zwei Bässe, ein Bariton und ein Tenor, die sich allesamt großen Herausforderungen stellen müssen – vor allem der führende Sopran und der Tenor (in der Titelrolle). Gent stellte sich dieser Herausforderung mit einer breiten internationalen Besetzung. Die Widerstandsfähigkeit dieser jungen Musiker war bewundernswert. Fünf Stunden lang äußerst anspruchsvolle Musik zu spielen, ohne zu erlahmen, ist ein wunderbares Zeichen für eine berufliche Zukunft.

Mirys „Bouchard d´Avesnes“ in Gent 2014: der Dirigent Geert Soenen/OBA

Und dann war der Schlüssel zum Erfolg dieses enormen Unterfangens die Leitung von Geert Soenen, dessen unglaubliche Energie und Einsichten mit den monumental eindringlichen Anforderungen der Partitur, des Chors und der Solisten auf einer Basis von inspiriertem Engagement Schritt hielten.

Meine Wahl wäre das himmlische Grand Duo für Sopran und Mezzo (die schlecht sortierten Schwestern Marguerite und Jeanne – lyrisch alles andere als schlecht sortiert) im vierten Akt „Dieu m’a donne le nom de mere“, in dem Miry sich mit einer Abgeklärtheit erhebt, die der imposantesten Musik seiner Zeit würdig ist, während der schlecht eingesetzte Tenorheld Bouchard hochemotionale Höhepunkte hat: Seine den dritten Akt eröffnende Romanze „Perdu, deshonoré“ mit dem anschließenden Andantino „Lorsque jadis sur ta tete“ ist wirklich bedeutsam, während die andante cantabile Couplets im fünften Akt „Je vais mourir, Flandre cherie“ – der eigentliche point de repere der Auflösung – in einer so langen und anspruchsvollen Rolle fast grausam der Verzweiflung und Tragik ausgesetzt ist, und ein wunderbarer Moment (zusammen mit seiner Hinrichtung), der die Oper in einer Qual von Flammen und Gewalt beendet.

Mirys „Bouchard d´Avesnes“ in Gent 2014: David Fonseca Astorga und Jolien de Ghendt in den Hauptrollen als Bouchard und Margaret/Foto 401dutchoperas.com

Die undankbare Rolle des Intriganten Guillaume de Dampierre (Norbert) wurde dankbar von dem Bariton Paul Claus gesungen, und ebenso dankbar die der Mezzosopranistin Jeanne von Yvette Loynaz, und der Musico Roger die Seite von Isabel Garcia, die des Regnier `vieia serviteur de Bouchard` wurde gefühlvoll von dem jungen Basso Christian Lujan gesungen. Die beiden Hauptrollen, die in diesem mühsamen Unterfangen bewundernswert besetzt wurden, waren zwangsläufig die der Marguerite – die ständig fast allen Arten von stimmlichen Herausforderungen ausgesetzt war – von Jolien de Gendt und die des Bouchard d’Avesnes selbst – der noch mehr herausgefordert und ausgesetzt war – von dem hochemotionalen, fließenden und berührenden Baritenore David Fonseca Astorga.Letztendlich war der Triumph dieser Wiederentdeckung der der Sponsoren.Eine verschollene Partitur dieses Ausmaßes wieder aufleben zu lassen, ist eine Leistung, die nur eine Handvoll der Entschlossensten überhaupt in Betracht ziehen kann. Zwei Namen sollten besonders erwähnt werden: die von Hilaire de Slagmeulder, einem unermüdlichen Verfechter dieser Musik, und die des Autors und Musikwissenschaftlers Rene Seghers, denen wir (und der Komponist) eine Offenbarung verdanken. Alexander Weatherson

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miry bouchard frontespieceBouchard D´Avesnes/ Grand Opéra in in 5 Aufzügen und 7 Bildern; Libretto von Hypoliet van Peene – Musik von Karel Miry; Uraufführung am 6. Februar 1856. Die Sänger/Personen der Oper: Mr de Quercy, erster leichter lyrischer Tenor: Bouchard d’Avesnes; Carman, Bariton: Guillaume de Dampierre; Mr Filliol, erster Bass,: Régnier; Mme Balbi, erster leichter lyrischer Sopran: Marguerite de Constantinople; Frl. Baudier, ebenfalls Sopran: Jeanne de Flandre; Geoffroy, Dugazon: Roger, Marguerites Page; Mr Féraud, 2. Bass: Baudry, ein Zigeuner.

.Die Handlung basiert auf den Annalen von Flandern. Der erste Akt spielt in einem Zigeunerlager unweit des Schlosses von Etroeung im Hennegau. Der Zigeuner Baudry beklagt sich über die Härte seines Lebens. Er wartet auf die Ankunft von Norbert, der der Bande Lebensmittel und Gold bringen soll. Norbert, ihr Leiter, ist in Wirklichkeit der verkleidete Adlige Guillaume de Dampierre. Er kommt an und bringt Vorräte für Essen und Trinken. Die Bande empfängt ihn freudig, und er singt seine Couplets (Ami, calme ta peine). Der wahre Grund seiner Verkleidung: Er will Flandern aus den Händen von Bouchard d’Avesnes  befreien und es an Frankreich und seinen König Philippe Auguste abtreten. In seinem Monolog (Oui, moi leur chef) lässt er das Publikum an seinen Plänen teilhaben und kündigt die Rückkehr von Bouchard aus Rom an und die Pläne jenes mächtigen Herren an, der trotz seiner früheren religiösen Gelübden mit Marguerite von Konstantinopel, seinem Mündel, verheiratet ist. (Er wurde ihr Vormund nach dem Verschwinden ihres Vaters Graf Balduin in Palästina kurz nach seiner Krönung als Kaiser von Konstantinopel – Anm. des Verfassers). Es folgt Unruhe unter den Zigeunern, der Norbert jedoch bald ein Ende macht. Dann gibt es ein Trinklied (Chor: Vite, emplissons nos verres). Roger, der Page/Hosenrolle Marguerites, tritt auf. Er teilt Norbert mit, dass Marguerite bald kommen wird, um ihn um seinen Rat zu bitten, zumal er den Ruf eines Hellsehers hat. Sie möchte Einsichten in ihre Zukunft von ihm bekommen. (Duettino Norbert-Roger: Va me dit-elle, va beau page). Norbert will allein sein, um die Prinzessin zu empfangen und schickt die Zigeuner weg. Er lässt ihr Murren gar nicht erst zu, und sie ziehen davon. (Chor: Partons de sa vengeance redoutons le courroux).

Zu Mirys „Bouchard d´Avesnes“: Marguerite de Flandres (1310 – 1382) fille de Philippe V et de Jeanne de Bourgogne, épouse de Louis II, comte de Flandres (au premier plan)
Charles comte d’Etampes (1305 – 1336) fils de Louis comte d’Evreux et de Marguerite d’Artois, frère de Jeanne d’Evreux (au second plan)

Marguerite erscheint. Sie hatte einen bösen Traum, in dem sie ihren Gemahl Bouchard sah, kniend vor dem Grab des Erlösers und den Himmel um Vergebung anflehend für eine schlimme Tat, die er begangen hatte. Dieser Traum beunruhigt sie, und sie fürchtet, dass Bouchard tot sei. Norbert gibt ihr Trost: Bouchard lebt. Und noch besser: Er ist zurück aus Rom und wird bald wieder zu Hause sein. Worauf sie, zum Dank für diese guten Nachrichten, ihn und seine Bande zum Schloss einlädt, wo das Wiedersehen der Eheleute gefeiert werden soll. Und Marguerite hofft noch mehr von Norbert zu erfahren, was sie noch wissen möchte. Der Akt endet mit einem Chor und einer Jagdhornfanfare (Chor: Tayaut, tayaut le cor résonne).

Der zweite Akt besteht aus 2 Bildern/1.Bild: Das Schloss von Etroeung. Bouchard erscheint und gibt sich der Hoffnung und Freude der Rückkehr hin (Rez. Enfin du ciel la colère apaisée, und Arie: De mes aieux asile séculaire, und Allegro: Ah je le sens, déjà tout me présage).Der ihm ergebene alte Diener Régnier erscheint und überbringt ihm eine zärtliche Botschaft von Marguérite. Sie verzehre sich nach ihm. Der ganze Hof ist schon versammelt, und man wartet nur noch auf ihn, um mit dem Fest zu beginnen. Bouchard ist etwas bedrückt mit ahnungsvollen Vorgefühlen: Er befürchtet dass sein Fehler, oder eher seine Sünde, entdeckt wird. Welche das ist, bleibt einstweilen unerklärt (Duett mit Régnier, der ihn beruhigt: Seigneur, au nom de la duchesse).

2.Bild: Der Vorhang öffnet sich auf eine atemberaubende Szenerie. Im hinteren Teil der Bühne sehen wir eine prachtvoll gedeckte Tafel an der Bouchard,  Marguerite, Jeanne de Flandres (ihre Schwester und Gräfin von Flandern), ausgestattet in prächtigen Gewändern, versammelt sind. Auf beiden Seiten der Bühne ist der Hofstaat aufgestellt. In dritter Reihe stehen Soldaten und dahinter sehen wir das eindrucksvolle Gemälde von Philastre und Cambon, das einen Festsaal darstellt. Diese Szene eröffnet mit einem sehr schönen Chor, dessen dritter Teil so geschrieben ist, dass er je nach männlichem oder weiblichem Reim, in drei verschiedenen Arten alterniert. (Chor: La nuit enchanteresse). Das ist ein neuer und interessanter Effekt. Der Chor besingt auch die Ritterlichkeit, den Ruhm und die Liebe (Guerriers de l’Ostrasie). Dann gibt’s ein Couplet des Pagen auf Bitten Jeannes (Chansonette de Roger: Près des murs de Bysance). Die Ankunft der Zigeuner wird angekündigt. Ihr Anführer Norbert singt eine Ballade (Loin de ces bords), in der er das Verbrechen  Bouchards andeutet, seinen christliche Weihen verraten zu haben – er ändert nur den Namen in den eines erfundenen „Herrn Alain“. Bouchard jedoch versteht nur allzu gut, dass er gemeint ist; er kann sich nicht mehr beherrschen und stürzt sich auf den vermeintlichen Zigeuner, wird aber von den Anwesenden an weiterem gehindert. Der Vorfall weckt bei Jeanne einen starken Verdacht,  und sie beschliesst, Klarheit über Bouchards Benehmen  zu bekommen. Finale mit großem Effekt (Concertato: Parole redoutable).

Miry: Bouchard d´Asnesnes, Ausschnitt/OBA

Miry: „Bouchard d´Asvesnes“, Ausschnitt/OBA

Der dritte Akt: Immer noch im Schloss am selben Tag, kurze Zeit später. Der bedrückte Bouchard beklagt sich über die Schande, die ihm angetan wird. Régnier tröstet ihn und singt eine Romanze, die  zweifelsohne die Perle dieser Oper ist (Romance von Régnier: Lorsque jadis sur ta tête si chère). Einigermaßen beruhigt befiehlt Bouchard ihm, augenblicklich den Zigeuner zu suchen und zu ihm zu bringen, damit er sich ein Bild von dessen wahren Plänen machen kann.

Dann folgt eine Szene zwischen ihm und Marguerite. Auf seine halbherzige Beteuerungen antwortet sie mit der Versicherung ihre ewigen Liebe zu ihm (Duett: Inquiète de ta souffrance, und Allegro: Bonheur extrème, amour extrème). Es erklingen Marschtöne: Ein Turnier wird zu Ehren Bouchards angekündigt. Die Reiter erscheinen und singen ein Kampflied (Marsch und allgemeiner Chor: Quand va briller la lune). Es folgt ein Ballett (de rigeur in einer Grand Opéra der Zeit). In der Zwischenzeit hat Jeanne mit dem „Zigeuner“ gesprochen und weiß nun alles. Sie verbreitet allgemeine Bestürzung unter den Gästen mit der Offenbarung von Bouchards großem Geheimnis: „Ihr Gemahl“, sagt sie zu ihrer Schwester, „ist ein Priester!“‚ Dieser Satz trifft die Prinzessin wie ein Blitz. Ihre Liebe kann dieser Erkenntnis nicht standhalten, und sie verstößt Bouchard, der verzweifelt zu ihren Füßen nieder sinkt. (Chor: Quel affront, quelle offense, und Concertato: Pardonne à ma triste faiblesse). Vorhang.

"Bouchard d´Avesnes" in Gent 2014: Monument für den großen Sohn der Stadt von Hippolyte de Roy/Wiki

„Bouchard d´Avesnes“ in Gent 2014: Monument für den großen Sohn der Stadt von Hippolyte de Roy/Wiki

Der vierte Akt: Die verzweifelte Marguerite schlummert auf ihrer Liege (Frauenchor: Le jour revient chères compagnes und Couplet des Pagen Roger: Quand de la nuit le rêve cesse). Schließlich erwacht sie nach einer unruhigen Nacht (Arie: Une image chérie). Sie denkt an ihren Gemahl, der eigentlich eher unglücklich denn schuldig ist, und sie erkennt, dass ihre Liebe zu ihm stärker denn je ist und sie ist bereit für sie zu kämpfen. (Allegro: Reviens, reviens et dans mon âme). Aber Jeanne, die als böse Kraft die Handlung bestimmt und durch ihre Stimmlage als Mezzo ein größeres Profil annehmen kann, hat mit dem Bischof von Senlis Verhandlungen geführt um Marguerites Ehe mit Bouchard annullieren zu lassen. Sie informiert Marguerite über den möglichen Erfolg ihrer Unternehmung und will sie zwingen, das Dokument zur Nichtigerklärung der Ehe zu unterschreiben. Marguerite weigert sich (Duett Jeanne – Marguerite: Marguerite ma soeur rendez grâce à mon zêle, und Allegro: De la flamme dont je suis fière). Ein schönes Duett zwischen beiden Frauen folgt (das bei der Uraufführung vom Publikum bejubelt wurde, so dass es gern wiederholt wurde).

Allein gelassen beschließt Jeanne, alles zu tun, um den Wiederstand ihrer Schwester zu brechen und Bouchard dazu zu bringen, seine Schande in der Verbannung zu sühnen. In diesem Moment  tritt Norbert auf und hört Jeannes letzte Worte. Eine Verbannung Bouchards kommt für ihn nicht in Frage, er will dessen Tod, und dann die Hand von Marguérite und damit die Krone von Flandern! Jeanne ist sprachlos, als sie seine Ansprüche vernimmt: Mit welchem recht fordert er dies? Er gibt sich zu erkennen. Obwohl er früher einmal ihr Liebhaber war, tut sie so, als wüsste sie davon nichts mehr, aber er hat einen Beweis aufbewahrt, ein Messbuch, das Jeanne bei einem galanten Treffen mit ihm hatte liegen lassen und in dem steht: „Ihrem glücklichen Liebhaber Guillaume de Dampierre von der Gräfin von Flandern“. Mit dieser ziemlich leichtfertigen Gedächtnislücke erzwingt Dampierre ihre Unterschrift unter Bouchards Todesurteil und die Hand Marguerites. Als Gegenzug will er Jeanne das kompromittierende Buch zurückgeben, sonsten lässt er es ihrem Gemahl Fernando von Portugal nach Paris überbringen. Sie willigt in den  Pakt ein, und Guillaume freut sich über den Erfolg seines gewagten Vorhabens. (Arie: Enfin du sort la faveur sans égale, Allegro: De l’ardeur qui m’agite). Plötzlich steht Bouchard vor ihm, der ihn zu einem Duell auf Leben und Tod herausfordert. (Duett:De ce glaive qui brille). Jeanne lässt ihn verhaften, trotz Marguérites Tränen. (Finale: Concertato: A ton ordre sévère) Marguerite sinkt bewusstlos zu Boden.

Miry: Bouchard d´Asvesnes/Ausschnitt/OBA

Miry: Bouchard d´Asvesnes/Ausschnitt/OBA

Der fünfte Akt spielt im Schloss von Rupelmond, dem Gefängnis Bouchards. Dort ist auch Jeanne. Sie kämpft mit ihren Gewissensbissen, die sie quälen und foltern (Arie: Pour sauver mon honneur, Allegro: Viens cruel, je brave ton arrêt). Ihr schlechtes Gewissen möchte sie dazu bringen, Bouchard Vergebung zu schenken, aber Guillaume ist nun der Meister über ihr Schicksal, und er kommt zu ihr und verlangt dass sie ihren Schwur hält. Man bringt das Messbuch, und sie muss unterzeichnen, um es ausgehändigt zu bekommen. Kaum hält sie es in ihrer Hand, ruft sie die Wachen, um Dampierre verhaften zu lassen. Er aber bleibt ruhig und gelassen, und teilt ihr mit, dass das Buch, das sie in ihrer Hand hat, nur eine Kopie ist und das Original in Sicherheit, bereit zu ihrem Gemahl nach Paris geschickt zu werden, sollte er nicht unverzüglich gehen dürfen, um den Boten daran zu hindern, nach Paris aufzubrechen. Jeanne sieht sich verloren und unterzeichnet verzweifelt Bouchards Todesurteil. Dampierre verlässt sie unverzüglich. Ein Trauermarsch und Nonnenklagen kündigen die baldige Hinrichtung Bouchards an. Dieser erscheint in einem langen weißen Büßergewand und nimmt in rührender Weise Abschied von Frau und Kindern (Rez. Voici l’heure suprême, Arie: Je vais mourir, Flandre chérie).

Der Autor: Aleander Weatherson renommierter Fachmann für Opern des 18. und 19. Jahrhunderts, namentlich des Belcanto sowie Autor vieler Artikel und Bücher über eben dies Feld, zudem auch international gefragter „Lecturer“; er war der Begründer und langjähriger Chef der Londoner Donizetti Society/ AW

Dann stürzt Marguérite herein (Terzett Bouchard, Marguerite, Norbert: O mon époux, le cri de la souffrance). Bouchard wird weggeschleppt, und Marguérite sinkt zu Boden. Régnier jedoch hat das Volk versammelt: Man eilt herbei, um das Schloss in Brand zu stecken und um seinen Herrn zu retten. Aber zu spät, denn als im Hintergrund ein Vorhang hochgeht und der Innenhof des Schlosses sichtbar wird, erspäht man in der Ferne die Türme von Rupelmond; links bei der inneren Fassade, eine Treppe, die zu einem Hinrichtungsblock führt. Daneben der über seinem Beil stehende Henker und vor ihm die Leiche Bouchards, bedeckt mit einem schwarzen Tuch. Das Todesurteil wurde vollstreckt. Stimmungsvolles Gebet der Menge (Chor: „O Saint martyr“) und dann das Aufbrüllen der Volkswut. Marguérite lebt nur noch für die Rache. Ergriffen von heiligem Delirium ergreift sie das Beil und singt ein Hasslied gegen die Fremden (die bösen Franzosen), die Flandern unterjochen wollen (Allons, allons, point de faiblesse, und Schlusschor: Anathème sur l’étranger!). Ende der Oper. (Die Inhaltsangabe folgt der zeitgenössischen Schilderung; wir entnahmen sie dem Programmheft zur konzertanten Aufführung im März 2014 in Gent/Übersetzung Jean-Luc Weil/Redaktion G. H.) 2014

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Bouchard d´Avesnes 1182 – 1244/OBA

Und ein Wort zum historischen Bouchard Born 1182. Executed September 7, 1244 in Rupelmonde. In his capacity as bailiff of Hainaut he became tutor to young Margaret of Flanders. He soon married her though she was only ten and the marriage could not be consummated. Bouchard d´Avesnes invaded Flanders and forced her guardians Margaret’s sister Jeanne and her husband Count Ferdinand of Flanders to recognise the marriage. In 1214 on advice of Philip Augustus, King of France, who had beaten Bouchard in battle, the Pope condemned the marriage and ultimately excommunicated both in 1216. The couple fled to Luxemburg but Bouchard was captured and imprisoned in Ghent. The pair allowed the marriage to be dissolved and Bouchard was to ask for Papal absolution in return for freedom. Bouchard then went to off to fight for the Holy See in Italy. When he returned his sister-in-law Joanna had him beheaded./Wikipedia

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.Der Autor, der renomierte Musikwissenschaftler, Publizist und Belcantospezialist Alexander Weatherson, ist Präsident der Londoner Donizetti Society. Sein Artikel erschien im neuen Newsletter der Donizetti Society und kann unter alexdonsoc@aol.com bestellt werden. Wir danken sehr für die Übernahme-Erlaubnis. G. H.

http://www.donizettisociety.com/    http://401dutchoperas.com/

Name-dropping unnötig

Ist es eher schlimm oder erfreulich, dass so viele Menschen notwendig sind, um das Entstehen einer CD zu ermöglichen, wie die lange Liste derjenigen, denen Dank zu sagen ist, zu glauben nahe legt? Aber da auch der Name des unvergessenen Marcello Viotti darunter ist, kann man wohl eher davon ausgehen, es seien alle Förderer generell und nicht speziell die der Aufnahme aufgezählt. Sonst hätte man auch erwarten können, dass das Booklet etwas generöser ausfällt und den Text des recht unbekannten Il Tramonto von Ottorino Respighi dem ratlosen Hörer zur Verfügung stellt. So erfährt man lediglich, dass es sich um einen Stoff des englischen Poeten Shelley handelt, der das Schicksal eines sich innig liebenden Paares, das durch den Tod des Mannes voneinander getrennt wird, handelt. Der Track dauert immerhin eine gute Viertelstunde und lässt es lediglich zu, dass man aus dem Klang der Stimme entnimmt, was gerade geschieht.

Immerhin ist der Sopran von Maria Luigia Borsi einerseits von so hohem Wiedererkennungswert, wie man ihn kaum noch in der auch globalisierten Sängerwelt findet, und zugleich weiß sie jeder ihrer Figuren, selbst wenn sie im musikalischen Charakter recht eng beieinander liegen, soviel eigenständiges, unverwechselbares  Profil zu verleihen, wie es ebenso selten ist. In dem zwischen Spätestromantik, Strauss und Debussy schlingernden Poem von großer auch orchestraler Wirkung bewegt sich die üppig timbrierte Stimme agogikreich und vor allem in einem die Stimmungen ausmalenden chiaro scuro. Sie öffnet sich in der Höhe sanft und verleiht dem Stück einen Hauch zärtlicher Melancholie.

Ähnlich umfangreich ist die Szene der Desdemona aus dem letzten Akt von Verdis Otello,  in der sich Dirigent Yves Abel mit dem London Symphony Orchestra auch die Zeit für ein sensibel ausmusiziertes Vorspiel nimmt. Todestraurig erklingt das Rezitativ, von schöner Verhaltenheit ist  die Canzone und angsterfüllt bereits das buona notte“. Den Atem an hält der Hörer beim Übergang vom rituellen des Ave Maria zur Äußerung persönlicher Empfindung und staunt über den Variationsreichtum des prega per me.  

Die meisten Tracks sind den Figuren Puccinis gewidmet, beginnend mit Butterflys Un bel di vedremo“, für den die Mittellage angemessen präsent ist, das Piano sehr schön trägt, die Phrasierung sich empfindsam zeigt und nur ein klein bisschen la bambola anklingt. Eine ganz junge Mädchenstimme setzt die Sängerin für Liùs erste Arie ein, hält sie in einem schönen Schwebezustand des keuschen Tons, mit einem berührenden Crescendo am Schluss. Mimìs Arie aus dem dritten Akt der Bohéme weiß von viel dolcezza, kann in den Höhen schwelgen und singt ein zartes senza rancor“. Wie hinter einem Schleier von Traurigkeit gedenkt Suor Angelica des bimbo senza mamma, zunächst scheint ihr Gesang ein Wiegenlied zu sein, die Arie verbindet dramatische Schmerzensäußerung mit fast schon überirdischer Zartheit. Aus La Rondine  kommt Magda mit dem Sogno di Doretta zu Wort, klingt für die erfahrene Dame etwas zu unschuldig, weiß aber durch das zarte Gespinst hoher Töne zu erfreuen. Nicht fehlen darf die Zugaben-Arie aus Gianni Schicchi , die sehr ernst genommen wird, so dass man den Schelm, der hinter der Todesdrohung steht, etwas vermisst. Zuvor noch hatte sich La Wally voller Resignation aus der Heimat verabschiedet (Naxos 8.573412).

Ingrid Wanja

Wiederbegegnung

Es ist nun schon knapp zwei Jahrzehnte her, dass beim Schweizer CD-Label Sterling (neben den beiden Klavierkonzerten) die zwischen 1880 und 1920 entstandenen, acht nummerierten Sinfonien Hans Hubers (1852-1921) erschienen sind. Wie meist haben jedoch die bei ihrem Erscheinen international beachteten Wiederentdeckungen jedoch nicht den Weg zurück auf die Konzertprogramme geschafft. Es ist dies freilich kein Einzelfall, den Orchestern fehlt es an Mut (und Wissen). Was ließen sich da nicht für interessante Programme denken, auch wenn manches Werk vielleicht nicht höchsten qualitativen Ansprüchen gerecht zu werden vermag.

Hans Huber gehört in den Jahrzehnten vor und nach 1900 zu den bedeutendsten Musikerpersönlichkeiten der Schweiz, seine Werke wurden nicht nur dort einst viel gespielt. Als Komponist, Konservatoriumsdirektor und Pädagoge, Pianist, Dirigent, Mentor des Basler Musiklebens und des Schweizer Tonkünstlervereins hat Huber nachhaltig das Musikleben seiner Zeit geprägt. Die Beihefte der CDs informieren dazu recht gut. Studiert hatte er in der ersten Hälfte der 1870er Jahre am Leipziger Konservatorium, unter anderem bei Carl Reinecke. Hier, im Umfeld der Schumannianer, scheint er auch sein stilistische Prägung gefunden zu haben: Schumann, die Akademik der Leipziger Schule, Listzs Weimar, die norddeutsche Romantik um Brahms, aber auch Dvorak und Wagner klingen immer wieder in seinen Orchesterwerken durch. Richard Strauss hat er bewundert, von dessen Aufbruch in die Moderne sind seine, einer letztlich klassizistischen Romantik verpflichteten Orchesterwerke, die große Stimmungen, tonmalerische Poesie und Imitation bevorzugt, jedoch weit entfernt. Beim Wiederhören der Sinfonien fällt auf, wie perfekt die Werke handwerklich gearbeitet sind, wie genau Huber der Ausdruck gehorcht, wie gut er die Form beherrscht, welchen klanglichen Einfallsreichtum er dem großen romantischen Orchesterapparat immer wieder abzugewinnen vermag. Was fehlt ist die Originalität, das Aufblitzen des Haftenbleibenden. Seine reizende, 1885 entstandene – und ganz der Mode der Zeit folgend – „Sommernächte“ überschriebene Erste Serenade etwa ist hier ein gutes Beispiel, beschwört sie doch Modeströmungen und Traditionen gleichermaßen herauf ohne zu Individualität zu finden: schon ihre helle E-Dur Atmosphäre verweist deutlich auf Dvoraks Streicherserenade (1875), aber auch Brahms Serenaden (1850er) sind deutliches Vorbild, Mendelssohns „Sommernachtstraum“ und Dvoraks Holzbläservirtuosität klingt im Scherzo durch, das Adagio-Nocture schließlich ist so kunstvoll wie austauschbare Romantik.

Hans Huber/Wikipedia

Hans Huber/Wikipedia

Solche Verwandtschaften ließen sich für alle Werke zeigen, auch und gerade bei den Sinfonien. Die 5. Sinfonie in F-Dur (Sterling CDS-1037-2) etwa, sie trägt den Beinamen „Romantische, Der Geiger von Gmünd“, ist 1905 eine ziemlich unverfrorene Kopie der Idee von Berlioz’ Harold en Italie (1834), nur dass die Viola Berlioz’ hier zur Violine wird. Die Violine wird zum Protagonisten bei der Nacherzählung einer Schweizer Legende; Justinus Kerners Gedicht Der Geiger von Gmünd, der diese Legende romantisch-brav und betulich-ungelenk in Verse gegossen hat, wird als Pate dazu genommen. In akademischer Kunstfertigkeit kann man nun in drei Sätzen und 45 Minuten der Handlung folgen, der Reflex auf Richard Strauss’ Tondichtungen à la Zarathustra (1896) oder Heldenleben (1889) ist unverkennbar. Umgesetzt wird dies jedoch in einer rückwärtsgewandten, jeglichen aufkommenden Stilpluralismus leugnenden Tonsprache, auch wenn Huber dabei rasch durch die Tonarten schreitet. Die Violinkonzerte von Brahms, Tschaikowsky und abermals Dvorak standen ebenso Pate. In diesem epigonalen Konglomerat aus Ideen und Stilen findet sich dann wieder kunstfertiges Handwerk: Variationssätze, Tanz- und Henkersmarsch-Kontraste, Naturstimmungen und natürlich der expressiv erzählende und imitierende Solopart der Geige. Hansheinz Schneeberger, ein großer Name bundesdeutscher Violintradition, spielt diesen Zwitter zwischen Solokonzert, Sinfonie und Tondichtung unaufgeregt, gefühlvoll und mit präsentem Ton.

huber sinfonie nr 5 sterlingÄhnlich verhält es sich mit Hans Hubers Böcklin-Sinfonie in e-moll (Nr.2,1897/1900, STERLING CDS-1022-2). Auch hier findet sich wieder ein großer kunstvoller Variationssatz, diesmal Bildtiteln Arnold Böcklins folgend: vom Gefilde der Seligen über das Spiel der Wellen bis zum Einsiedler begegnet man hier abermals dem romantischen Bildmaterial, das um 1900 freilich längst banalisiert und massentauglich popularisiert war. Diesen Aspekt freilich bleibt Huber im Klangbad seines romantischen Orchesters schuldig. Die Ironie seines Vorbildes Richard Strauss oder seines dichtenden Schweizer Zeitgenossen Frank Wedekind (um nur zwei Beispiel zu nennen), die eben jene romantischen Motive um 1900 als  bildungsbürgerliche, austauschbare Modehülsen entlarvten, ist Hans Huber verschlossen. Aber auch der Schritt eine klangliche Moderne, wie sie wenig später am Beispiel Böcklins von Rachmaninow in seiner Tondichtung Eine Toteninsel (1909) oder Max Reger in seinen Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin op. 128 (1913) gelingt, ist fern.

Hans Hubers Sinfonik bleibt klanglich ebenso vollmundig wie naiv, sie verlängert eine kunstvoll gestaltete und mit großem Apparat agierende Deutsche Romantik ins 20. Jahrhundert, so als würde um sie herum musikalisch nichts geschehen. Die Stuttgarter Philharmoniker haben das in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre unter ihrem damaligen Chef Jörg-Peter Weigle in dieser klanglichen Tradition aufgenommen. Zuverlässig, mit groß aufblühendem Klang, mit den nötigen dramatischen Anklängen, feinen, volkstümlich inspirierten kammermusikalischen Episoden und einem unverstelltem Erzählton. Keine Brüche und Fingerzeige, keine Irritationen beeinträchtigen das romantische Glück einer heilen, mit poetische Mitteln zu erklärenden Weltsicht. Das klingt fast 20 Jahre später in der präsenten Aufnahmeakustik noch immer grundsolide, aber auch etwas verwechselbar. So wie die Werke selbst.

Moritz Schön

Dazu auch noch: Hans Huber (1852-1921) Symphony No. 3 Heroische (1902) [42.35] Symphony No. 6 (1911) [34.51]   Stuttgarter Philharmoniker/Jörg-Peter Weigle  world premiere recordings STERLING CDS-1037-2 [77.31]

Goldmarks „Merlin“

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Nach seinem Welterfolg Die Königin von Saba (1875) wartete Carl Goldmark (1830-1915) über zehn Jahre, bis er seine Oper Merlin 1886 herausbrachte. Dies zeigt seine Akribie bei Komposition und Instrumentation; außerdem verzichtete er bei der neuen Oper auf jede Orientalistik, die ihm in der Königin von Saba auch Kritik eingebracht hatte. Wie damals bei anderen auch, ist der Einfluss Richard Wagners übermächtig: So gibt es Leit- und Erkennungsmotive für Merlin und seine geliebte Viviane, aber ebenfalls für den Dämon und die Fee Morgana.

Goldmarks „Merlin“: Felsengegend, Bühnenbildentwurf von Hermann Burghart zur Uraufführung am 19. November 1886/ Wikipedia

Merkmale der ganz großen Oper wie der prächtige Aufzug zum Auftritt des Königs Artus, dessen Ansprache oder das an Tristan und Isolde erinnernde Liebesduett Viviane/Merlin weisen unüberhörbar auf Wagner. Auf der anderen Seite löst sich Goldmark vom Bayreuther Meister, indem er Elemente der französischen grand opéra  und des italienischen Belcanto einfließen lässt. Eigenes findet sich in impressionistischen Anklängen im Geisterchor oder in Naturbeschreibungen. Überhaupt ist der Farbenreichtum der Komposition beachtlich, wenn der Dämon und auch die Fee Morgana eher düster daher kommen, während die Welt des König Artus mit seinen Rittern mit hellen, festlichen Klängen versehen werden.

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Nach einer kurze Renaissance durch Aufführungen 1997 in Trier, auch als Kurzfassung in der Kinderoper Köln, die 2008 auch in Bremen herauskam, gab es 2009 als Welt-Ersteinspielung die hier besprochene Studio-Aufnahme; danach wurde Merlin offenbar wieder vergessen. Wie ich finde, zu Unrecht, denn wie angedeutet gibt es alles, was an romantischer Oper beeindruckt, prächtige Chorszenen, Charakterzeichnungen vom Feisten und spannende dramatische Entwicklungen. Dies wird auch auf der verdienstvollen Aufnahme deutlich, die in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk entstand. Der Gründer und musikalische Leiter des Ebracher Musiksommers Gerd Schaller sorgt als Dirigent der Philharmonie Festiva(!)-Orchesters für vorwärtsdrängendes Musizieren, lässt die lyrischen Passagen mit der nötigen Ruhe ausspielen und –singen und bändigt die opulenten Klangfluten des großen Apparats. Insgesamt überzeugt das homogene Sängerensemble, das von Anna Gabler (Viviane) mit frischem, aufblühendem Sopran angeführt wird. Merlin wird von Robert Künzli (Foto oben) sicher gestaltet; routiniert führt er seinen nur selten etwas stumpf klingenden Heldentenor in fließenden Gesangslinien und mit Strahlkraft durch die Klippen der sehr  anspruchsvollen Partie. Dem kernigen Bass von Frank van Hove (Dämon) fehlt einiges an unheimlicher Ausstrahlung. Dagegen passt der abgerundete Mezzo von Gabriela Popescu gut zur Fee Morgana; würdevoll klingt Sebastian Holecek als König Artus. Aus seiner Ritterschaft sollen genannt werden Brian Davis mit markantem Bariton als der treue Lancelot, Daniel Behle als schönstimmiger Verräter  Modred, während In-Sung Sim als Glendower mit sonorem Bass auffällt. Ausladende Klangpracht verbreitet der durch Andreas Herrmann bestens vorbereitete Philharmonische Chor München. Das Hören der Aufnahme wird durch das ungemein informative Beiheft erleichtert, das einen klugen Artikel über Komponist und Werk des Dirigenten Gerd Schaller und das vollständige Libretto enthält (Edition Hänssler Profil PH09044 3, 3 CDs). Gerhard Eckels

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Klänge der Heimat

Rafael Kubelik – Legendary and Rare Recordings: Die neue Box von The Intense Media (600182) wird dem eigenen Anspruch mehr als gerecht. Um aus seinem umfangreichen Nachlass an Plattenaufnahmen eine Auswahl für zehn CDs zu treffen, ist ein klares Konzept gefragt. Das Label entschied sich – wohl auch aus rechtlichen Gründen – für die frühen Einspielungen. Eine gute Wahl. Dafür muss allerdings in Kauf genommen werden, dass es sich durchweg um Mono-Aufnahmen handelt. In diesem Fall stört das überhaupt nicht. Schließlich gibt es auch bei fast allen Werken die Alternative in breitestem Stereo.

Kubelik ist ein Weltbürger gewesen. Diese geistige Weitläufigkeit steckt in ihm, sie ist aus seinen Interpretationen heraus zu hören. 1948 hat er seine böhmische Heimat, die dem Stalinismus besonders heftig anheimgefallen war, Richtung USA verlassen. Er wirkte sehr nachhaltig in den großen Musikzentren der westlichen Welt und hatte eine lebenslange Neigung zur Oper. In London setzte er sich nachhaltig für Hector Berlioz und seine Troyens ein. Nach dem Zerfall des sozialistischen Regimes kehrte er 1990 im Triumph in seine Heimat zurück und eröffnete mit Smetanas Mein Vaterland das traditionsreiche Musikfestival „Prager Frühling“. Kubelik, seit 1973 schweizerischer Staatsbürger, fand auf dem Vyšehrader Friedhof in Prag seine letzte Ruhe – in prominenter Gesellschaft. Die Destinn, Dvorák, Schmetana, der Maler Mucha und viele andere haben dort ihre Gräber.

Kubelik hat die Musik seiner Heimat mit in die Welt genommen. Das schlägt sich auch in seiner umfänglichen Diskographie nieder – und folglich auch in der Box. Immer wieder Dvorák. Er war für ihn wie eine Rückversicherung. In die Edition wurden die Sinfonien 7-9 übernommen, mit den Wiener Philharmonikern (7 und 9) und dem Philharmonia Orchestra London (8) eingespielt. Es klingt viel Schwermut an, der langsame zweite Satz der Sinfonie Aus der Neuen Welt ist in Teilen wie auf die Intimität eines Streichquartetts konzentriert. So zart dürfte dieses Largo mit seinen fast dreizehn Minuten selten geklungen haben. Hinzu kommen die Slawischen Tänze und das dunkel leuchtende Cello-Konzert. Die früheste Aufnahme in der Box ist die gelegentlich wild auffahrende üppige Tondichtung Hakon Jarl von Smetana, die thematisch der norwegischen Geschichte entlehnt ist, eingespielt 1945 mit dem Tschechischen Radio Symphony Orchester. Für ihr Alter klingt diese Aufnahme frisch und prachtvoll.

Einen gewichtigen Block für sich bilden die vier Sinfonien von Brahms, die Kubelik 1957 ebenfalls mit den Wiener Philharmonikern eingespielt hat. In der 3. Sinfonie, der sogenannten „Wiesbadener“, ist der Dirigent ganz in seinem Element. Clara Schumann hat die Sinfonie, die gelegentlich eines Kuraufenthaltes im Sommer 1883 in Wiesbaden entstand, so poetisch wie präzise in einem Brief an den Komponistenfreund beschrieben: „Wie ist man von Anfang bis zu Ende umfangen von dem geheimnisvollen Zauber des Waldlebens! Ich könnte nicht sagen, welcher Satz mir der liebste. Im ersten entzückt mich schon gleich der Glanz des erwachten Tages, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume glitzern, alles lebendig wird, alles Heiterkeit atmet, das ist wonnig! Im zweiten die reine Idylle, belausche ich die Betenden um die kleine Waldkapelle, das Rinnen der Bächlein, Spielen der Käfer und Mücken – das ist ein Schwärmen und Flüstern um einen herum, daß man sich ganz wie eingesponnen fühlt in all die Wonne der Natur. Der dritte Satz scheint mir eine Perle, aber es ist eine graue, von einer Wehmutsträne umflossen; am Schluss die Modulation ist ganz wunderbar. Herrlich folgt dann der letzte Satz mit seinem leidenschaftlichen Aufschwung: Das erregte Herz wird aber bald wieder gesänftigt, zuletzt die Verklärung, die sogar in dem Durchführungs-Motiv in einer Schönheit auftritt, für die ich keine Antwort finde.“ Unter den Händen von Kubelik ist das alles ganz genau nachzuhören.

Rüdiger Winter

 

Poesie statt Gassenhauer

Ein Werk, das nicht auf Anhieb mit dem Dirigenten Günter Wand verbunden wird, ist Carmina Burana von Carl Orff. Das Label Profil Günter Hänssler hat die NDR-Produktion ausgegraben (PH 12054). Ein genaues Aufnahmedatum wurde nicht mitgeliefert. Im Kleingedruckt ist lediglich 1984 als Jahr der Veröffentlichung durch den Sender genannt. Viel älter dürfte die Aufnahme auch nicht sein. Wand hatte 1982 seinen Posten als Generalmusikdirektor des NDR-Sinfonieorchesters angetreten. Das war der Auftakt zu seiner Alterskarriere, die seinen legendären Ruhm, der auch zwölf Jahre nach seinem Tod noch anhält, begründen sollte. Seine Verehrer, die ohnehin alles mit ihm haben müssen, können sich freuen. Jene, die mit Wand nicht auf so vertrautem Fuß stehen, werden ihn womöglich gerade an Hand dieser Einspielung für sich entdecken. Ich sehe mich irgendwo dazwischen.

Mir geht nicht aus dem Sinn, wie Wand, dieser durchgeistigte zierliche alte Mann mit einer Präzision und Ausdauer das Orchester beieinander hielt und zu einem Ausdruck lenkte, wie er in diesem Moment nicht anders vorstellbar gewesen ist. Er diente der Musik. Konzerte, die ich erlebt habe, sind mir unvergesslich. Seither fällt es mir schwer, ihn „nur“ zu hören und beim Musizieren nicht auch noch leibhaftig zu sehen. Eine CD lässt keine andere Wahl. Seine Carmina kommt mir höchst konzentriert und geschlossen vor. Sie schielt nicht auf die spektakuläre Höhepunkte. Diese werden vielmehr sehr diskret im Kontext des Stückes platziert. Sie fallen nicht heraus. Wand gibt nicht den Gassenhauer. Er sucht und findet die Poesie und die dralle Lebenslust in Wort und Musik. Das über die Maßen strapazierte Werk empfinde ich unter seinen Händen als vergleichsweise maßvoll. Ich konnte es zeitweise wegen Überstrapazierung nicht mehr hören. Wand macht es mir wieder zugänglicher.

Für die Solisten hat es die 1937 in „dunkler“ Zeit uraufgeführte Kantate in sich. Sopran (Maria Venuti) und Tenor (Ulf Kenklies) müssen hoch hinaus, der Bariton (Peter Binder) hat auch gut zu tun. Die Venuti, eine US-Amerikanerin mit italienischen Wurzeln, macht ihre Sache perfekt und hat keinerlei Höhenprobleme, was wirklich etwas heißen will. Es gibt nicht sehr viele Dokumente mit ihr. Das gilt auch für Kenklies, der oft Bach gesungen hat. Als Schwan am Spieß brät er in seiner berühmten Szene „Olim lacus colueram“ tapfer, stilvoll und ohne Übertreibungen vor sich hin. Respekt! Binder bleibt auch nichts erspart. Er kann mit seinem sehr wandlungsfähigen Bariton gar dem Tenor Konkurrenz machen, so viel wird ihm abverlangt. Große Aufgaben hat der Chor. Er setzt sich aus dem Hamburger Knabenchor, Mitgliedern des Opernchors des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover und dem NDR-Chor zusammen. Der Klang der CD ist bestens.

Rüdiger Winter

 

 

Kitsch & Kunst

Noch vor der Geburt ihrer zweiten Tochter eingespielt hatte Elina Garanca ihre jetzt erschienene CD mit dem Titel Meditation, mit deren Programm oder zumindest Teilen davon sie augenblicklich auf Tournee ist und von der Hörer berichten, dass inzwischen die Stimme dunkler und dramatischer geworden ist. Das mag auch das bevorstehende Rollendebüt mit Santuzza erklären, deren Regina coeli  entfernt an Giulietta Siminionato erinnert, schön auf Linie gesungen und nicht ausgeprägt veristisch klingend. Auch Mascagnis anschließendes Ave Maria hat einen schönen schmerzlichen Klang in der schwebend gehaltenen Stimme.

Es beginnt mit Gounods Sanctus mit glockenhellem Sopranglanz auf feiner Mezzogrundlage, mit dramatischem Impetus und sich steigernder Intensität. In des Komponisten Repentir erscheint die Stimme angenehm gerundet, wird dynamisch geführt, hat eine für einen Mezzo bemerkenswert gute Höhe und bleibt auch im Piano farbig. Sehr fremdartig, eher wie eine Geisterbeschwörung als wie Christliches hört sich Praulins Dievaines an, Elfengewisper wird durch eine aparte Instrumentierung unterstützt. Ein ganz zartes Piano zeichnet Gomez‘ Ave Maria aus, das Stück ist angelegt zwischen Intimität und innigem Appell. Ausgesprochen  instrumental geführt erscheint der Mezzo in Mozarts Laudate Dominum, der leichte Tonansatz und die entsprechende Emission der Stimme sprechen von einer perfekten Technik. Bizets Agnus Dei erscheint als leidenschaftliche Bitte, vom zarten „dona nobis“ hebt sich das kraftvolle „pacem“ ab.

Ehe Puccini zur Oper fand, schrieb er viel geistliche Musik, sein Salve Regina lässt die Stimme bei zurückhaltendem Orgeleinsatz mit viel dolcezza hören. Einen schönen Jubelton hat sie hingegen für Adams Cantique de Noel. Peteris Vasks führt den Hörer noch einmal in die Heimat der Lettin. dem Geheimnisvollen zugetan sind die beiden dem Sonnenkult gewidmeten Beiträge. In Allegris Miserere erhebt sich die Solistin in großen, weit gespannten Bögen über die Chorstimmen, klingt wie ein kostbares, zusätzliches Instrument. In Kitschnähe begibt sich Vavilovs Ave Maria, das eine einzige Liebkosung des Namens der Gottesmutter in unendlichen Variationen ist, der Stimme alle Möglichkeiten, sich zu präsentieren, gibt und doch leider gerade am Schluss der CD ein schales Gefühl des Missbrauchs hinterlässt.

Dirgent der CD wie auch der Konzerttournee ist Gatte Karel Mark Chichon mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Authentisches für die lettischen Stücke, aber auch für die anderen Tracks liefert der Latvian Choir (DG 479 2071).

Ingrid Wanja

Opern nach Claudel

Zwei Opern nach Texten von Paul Claudel. Bemerkenswerter Zufall. Claudel hat neben einigen christlich fundierten und symbolistischen Bühnenwerken, darunter das unbegreifbar umfangreiche, fast nur von Festspielen zu bewältigende Stück Der seidene Schuh, auch die Basis zu einigen Opern geliefert. Am bekanntesten ist wahrscheinlich sein Text zu Honeggers dramatischem Oratorium Jeanne d‘ Arc au bûcher; daneben fertigte er Libretti für L‘ Orestie an, die Aischylos-Bearbeitung für die Trilogie L‘ Orestie d‘ Eschyle und den 1930 an der Berliner Staatsoper uraufgeführten Christoph Colombe, der dort Ende der 1990er Jahre in Peter Greenaways Inszenierung nochmals eine kurze Auferstehung feierte. Bei Verkündigung von Walter Braunfels handelt es sich um kein Originallibretto, sondern die deutsche Übersetzung seines ersten Bühnenerfolgs L‘ Annonce faite à Marie (Mariä Verkündigung), der den Komponisten, der wie Milhaud ebenfalls zum Katholizismus übergetreten war, besonders angesprochen haben muss.   Milhauds zwischen 1913 und 1922 entstandene Trilogie, bestehend aus L‘ Agamemnon, einer knapp 12minütigen Szene für Sopran (Klytämnestra) und Chor, Les Choéphores, sieben etwa 30minütige Bühnenmusiken für Sopran (Elektra), Bariton (Orest) und Sprecher, und schließlich der knapp hundertminütigen, dreiaktigen Oper Les Euménides, liegt nun als Mitschnitt (Naxos) – und mehr noch world premiere recording – von der University of Michigan vor, wo Dirigent Kenneth Kiesler offenbar alles auf dem Campus mobilisierte, was singen konnte. Den Anstoß gab William Bolcon, der noch bei Milhaud studiert hatte. L‘ Orestie zeigt das Muskelspiel eines jungen Komponisten, der sich unerschrocken der gewaltigen Herausforderung stellte, relativ konventionell mit der Szene für Sopran begann und drei Jahre später in Les Choéphores mit dem umfangreichen Schlagwerk und der rhythmisch vertrackten Struktur aber schon etwas mutiger operierte. Die Eumeniden sind eine profunde, durchkomponierte dreiaktige Oper für umfangreiches Orchester mit interessanten, archaisch wuchtigen Chorsätzen und einer schwer zu fassenden, schillernden, strotzenden Musik. Trotz allen Chor- und Orchesterwütens und Klingelns wirkt das Stück heute wohl ein wenig altmodisch. Wiederaufführungen, darunter Sellners Versuch 1963 an der Deutschen Oper Berlin, scheinen äußerst selten gewesen zu sein, weshalb den Konzertaufführungen aus dem April 2013 im Hill Auditorium, die zudem eine Lücke im CD-Regal schließen, eine gewisse Bedeutung zukommt. Angeführt von der hochdramatischen Lori Phillips als Klytämnestra und Dan Kampsons aufrechtem Orest-Bariton widmen sich alle Beteiligten mit Hingabe der Rarität. Das Beiheft enthält eine ausreichende Einführung in Werk und Aufführung (engl., frz.), das Libretto lässt sich bei naxos.com herunterladen (Naxos 2 CD 8.660349-51). braunfels verkündigung brNachdem er von den Nationalsozialisten von seinem Amt als Direktor der Kölner Musikhochschule vertrieben worden war, fand Walter Braunfels während seiner inneren Emigration bei Paul Claudel und dessen geistlichem Theater Zuflucht, vor allem in dessen L‘ annonce faite à Marie, Mariä Verkündigung. Das Heilsversprechen wurde 1948 in Köln uraufgeführt, gelangte aber erst 2012 in Kaiserslautern neuerlich auf die Bühne. Die gottesfürchtige Violaine gibt dem Dombaumeister Peter von Ulm einen Kuss, obwohl sie dieser zu vergewaltigen versuchte, und nimmt dadurch den Aussatz von Peter in Kauf. Sie erkrankt, verliert ihren Verlobten Jakobäus an ihre neidige Schwester Mara und lebt unter den ausgegrenzten Kranken. An einem Weihnachtsabend Jahre später erscheint Mara mit ihrer toten Tochter bei der inzwischen blinden Violaine und bittet sie, ihr Kind zu Leben zu erwecken. Das Wunder geschieht. Aus Eifersucht versucht Mara Violaine umzubringen. Der inzwischen geheilte Peter findet die sterbende Violaine, bringt sie nach Hause, wo Jakobäus erkennt, dass sie nur ihn liebte. Zwei Gesamtaufnahmen der Verkündigung liegen mittlerweile vor, ein Kölner Konzert von 1992 unter Dennis Russell Davies (Warner Classics) und nun der im Dezember 2011 entstandene Konzert-Mitschnitt aus München unter Ulf Schirmer (BR Klassik), bei dem das solide Beiheft mit Aufsatz, Lebensdaten, Schirmer-Interview (dt., engl.), einigen historischen Fotos und deutschem Libretto auffällt. Die Münchner Aufnahme ist von einer spannenden durchsichtigen Brillanz, herb und ausdrucksvoll im Klang, und die Besetzung ist mit der klar ernsthaften Juliane Banse als Violaine und Matthias Klink (Peter), der sich in den letzten Jahren vom rein lyrischen Tenor in allen möglichen Fächern und Partien zu einem ungemein vielseitigen Interpreten entwickelt hat, ausgezeichnet. Robert Holl ist eindrucksvoll als greiser Vater Andreas Gradherz, Hanna Schwarz bringt als Mutter Reste ihrer Stimme wirkungsvoll zum Einsatz, Janina Baechle fehlt es ein wenig an Profil für die „schwarze“ Mara, und Adrian Eröd, der relativ leicht gegenüber John Bröcheler bei Russell Davies wirkt, singt den Jakobäus mit liedhafter Schlichtheit (BR-Klassik 2 CD BR-KLASSIK 900311). Rolf Fath

Russische Opern-Perlen

Fast jede neue CD von Cecilia Bartoli ist eine editorische Großtat – so auch ihre Neuveröffentlichung bei Decca mit dem Titel St. Petersburg (478 6767). Die Mezzosopranistin stellt darauf Musik vor allem italienischer Komponisten vor, die auf Einladung am Hofe der russischen Zarinnen Anna Ioannovna (1730 – 40), Elizaveta Petrovna (1741 – 62) und Katharina II. (1762 – 96) wirkten. Dazu gehörte Francesco Araia, der mit Zephalos und Prokris 1755 die erste russische Oper schrieb. Mit seiner Musik eröffnet die Solistin das Programm – statt des gewohnt furiosen Auftaktes hört man mit der Arie der Minerva „Vado a morir“ aus La forza dell’amore e dell’odio jedoch ein sanft wiegendes Stück im siciliano-Rhythmus, in welchem sich ihre Stimme betörend entfaltet und den Abschiedsschmerz der Göttin bewegend formuliert. Später erklingt aus einer weiteren Oper des Komponisten, Seleuco, noch die Arie des Demetrio, „Pastor che a notte ombrosa“, die sich als pastoraler Dialog zwischen Stimme und Oboe entwickelt. Die Sängerin berückt hier mit feinen Trillern und vielerlei vokalem Raffinement. 1755 markiert auch den Beginn der künstlerischen Tätigkeit des aus Stralsund gebürtigen Hermann Raupach, der im Hoforchester zunächst Cembalist war und nach Entlassung von Araia 1759 neuer Hofkomponist wurde. Von ihm werden drei Opernszenen vorgestellt – zwei davon in Russisch, womit La Bartoli ihre ersten Ausflüge in dieser Sprache auf CD macht. Mit der Arie des Gerkules, „Razverzi pyos gortani“, aus Altsesta bekommt sie nun Gelegenheit für einen rasenden Ausbruch, in welchem sie furchtlos allen Schrecken der Hölle entgegen sieht, während die folgende ausgedehnte Arie der Titelheldin, „Idu na smert“, deren  Todesbereitschaft in getragenem Melos ergreifend ausdrückt. Es sind dies zwei konträre Beiträge, welche das breite Ausdrucksspektrum der Sängern eindrücklich widerspiegeln. Die Arie der Laodice, „O placido il mare“, aus Siroe, re di Persia schließlich belegt, dass der Komponist auch in der italienischen Sprache komponierte – und dies in höchst virtuoser Manier mit eilenden Koloraturläufen, zudem geschmückt mit getippten staccati, was die Bartoli zu einem Feuerwerk der Bravour macht. Das Ensemble I Barocchisti unter Diego Fasolis steuert noch den Marsch aus der Altsesta bei und erweist sich neben der inspirierten, affektreichen  Begleitung der Solistin auch in diesem pompösen Instrumentalbeitrag mit auftrumpfendem Musizieren als Klangkörper von Ausnahmerang.

Von Domenico dall’Oglio und Luigi Madonis stammt eine Arie der Rutenia, „De’ miei figli“, die als Prolog zu Hasses La clemenza di Tito verfasst wurde. Von der Flöte lieblich umspielt, handelt es sich um eine flehentliche Bitte an die Götter, den Schmerz der Mutter und ihrer Kinder zu lindern. Trotz der virtuosen Ausschmückungen wirkt die Szene in Bartolis schlichter Interpretation sehr würdevoll und erhaben. Vincenzo Manfredini ist mit drei Stücken aus seiner Oper Carlo Magno vertreten. Die Arie des Desiderio, „Fra lacci tu mi credi“, nimmt die Atmosphäre der vorangegangenen Komposition zunächst auf, wandelt sich dann aber zu dramatischem Aufbegehren gegen den Tyrannen, was im reizvollen Wechsel der Stimmungen der Solistin reiche Gelegenheit gibt zu Variationen in den Gefühlswelten. Die Arie des Carlo, „Non turbar que’ vaghi rai“, ist ein weiteres Beispiel für die in Ausdruck umgesetzte Virtuosität der Bartoli, die alles bravouröse Zierwerk so selbstverständlich einbindet, dass es den Sinn der menschlichen Szene nicht überdeckt. Den Schluss der Auswahl, die vorher mit der koloraturgespickten Arie der Idalide aus La vergine del sole noch ein Werk von Domenico Cimarosa vorgestellt hatte, bildet der Chor „A noi vivi“ aus dem Carlo Magno, in welchem sich Cecilia Bartoli, die Sopranistin Silvana Bazzoni und der Coro della RSI Radiotelevisione svizzera zu einem festlichen, auf Mozart verweisenden Gesang vereinen. Die CD ist – wie alle Neuerscheinungen mit der italienischen Diva –  prachtvoll ausgestattet und dürfte ein Schmuckstück auf jedem Gabentisch sein.

Bernd Hoppe

 

Fingerübungen im Bordell

So unterhaltsam wie vielseitig und tiefgründig ist das Buch von Vincenzo Ramón Bisogno mit dem umfangreichen Titel Giacomo Puccini – Bello e…possibile…Tradizione, modernità e futuro della musica.  Pikant beginnt es mit der Schilderung eines Bordells seiner Vaterstadt Lucca, wo der junge Komponist mit Klavierspielen Geld verdienen und seine früh zur Witwe gewordene Mutter damit unterstützen muss. Pikant bleibt es auch weiterhin, wenn von den zahllosen Affären des Meisters die Rede ist, angefangen von Elvira, der Gattin seines Freundes und Gefährtin bis zu seinem Tod, über eine deutsch/englische Lady bis hin wahrscheinlich auch zu Alma Mahler Werfel. Tragisch wird es, wenn eine Affäre nur in der Phantasie der stets eifersüchtigen Elvira, Vorbild zumindest in einigen Charakterzügen von Tosca und Turandot, besteht und zum Selbstmord der Beschuldigten und zur Verurteilung  der Verleumderin führt.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Tra tormenti e ….giovanili estasi , Il grande teatro pucciniano in un poker d’assi und Modernità assoluta di un secondo poker vincente. Im ersten Teil geht es vor allem um die Herkunft aus einer Musikerfamilie, die Ausbildung zum Komponisten, erste Werke wie Le Villi und Edgar, aber auch um Familienprobleme und das Verhältnis insbesondere zu seinem jüngeren Bruder Michele, der den Vater nie kennen gelernt hat. Wie auch die folgenden Kapitel zeichnet sich dieser Abschnitt durch viele Literaturverweise, durch Ausschnitte aus zeitgenössischen Kritiken und durch den Vergleich der Werke untereinander, so z.B. die Auflistung von Übernahmen aus den frühen geistlichen Kompositionen in später entstandene Opern, aus. Man erfährt viel Neues, so über den Auftrag, eine verkürzte italienische Meistersinger-Fassung herzustellen. stets bleibt der Ton des Autors locker und kommunikativ, entbehrt auch nicht der Ironie, wenn ein Anlass dazu gegeben ist. Eine Einordnung des Komponisten in die Musikgeschichte fehlt ebenso wenig wie eine Charakterisierung des Personals der Puccini-Opern, in diesem Teil die frühen Opern betreffend.

Im zweiten Teil setzt sich der Autor zunächst mit den verschiedenen Vertonungen des Manon-Stoffes auseinander. Interessant sind die umfangreichen Zitate aus den Vorlagen für die Libretti, so nicht nur die von Prévost, sondern auch von Murger und Belasco und Sardou. Und wer wusste bereits, dass  Reynoldo Hahn in seiner Operette Ciboulette den alten Rodolfo als über die Liebe philosophierende Figur auftreten ließ. Das Bemühen verschiedener Komponisten um ein und denselben Stoff, so Franchetti um Tosca und Leoncavallo um Bohème wird ebenso erwähnt wie das negative, vielleicht durch Eifersucht getrübte Urteil Mahlers über Tosca.

Ebenfalls in diesem zweiten Teil beschäftigt den Autor die Frage, inwieweit Puccini ein typischer Verist sei, er kümmert sich um die vier Versionen von Butterfly und das Verhältnis zu Toscanini. Im dritten Teil des Buches geht es zunächst um La Fanciulla del West und die Umsetzung des Dramas in eine Oper, um La Rondine und den vergeblichen Versuch, eine Wiener Operette zu schreiben, um das italienische Musikverlagswesen sowie um die Aufführungen von La Rondine in den Fünfzigern (Welitsch/Dermota).  Bemerkenswert ist, dass Puccini Suor Angelica im Kloster seiner Schwester vortrug, da sie als None kein Opernhaus aufsuchen durfte. Mehrfach wird Lorin Maazel mit seinem Urteil über einzelne Werke des Komponisten zitiert .Eine Strukturanalyse von Turandot sowie ein Hinweis auf die Quellen der Oper (Gozzi, Schiller) beschließen fast das Buch, das danach noch von Krankheit und Sterben seines Helden berichtet (Zecchini; Prima Edizione edizione ISBN 978 88 6540 109 5).

Ingrid Wanja