Archiv für den Monat: September 2013

Iphigenie tanzt

 

Ein moderner mitteleuropäischer Hörer erwartet von einer Oper, die Iphigenie gewidmet ist, eine schwerblütige Tragödie. Der spanische Komponist José de Nebra (1702-1768) machte aus der Geschichte der Priesterin Iphigenia in Tracia, die in Tauris ihren eigenen Bruder Orestes opfern soll und ihn hingegen befreit, eine fetzige Zarzuela, deren Uraufführung im Januar 1747 in Madrid stattfand (es ist eine von nur drei überlieferten Opern dieses Komponisten). Nebra, der hauptberuflich Hoforganist in Madrid war, gehört mit Terradellas und anderen zu jenen italianisierenden Komponisten des spanischen Settecento, die erst in den letzten Jahren aus den dunkelsten Verließen der Musikgeschichte hervorgeholt wurden.Emilio Moreno und sein Concierto español gehören zu den besten Schatzgräbern Spaniens. In ihren Aufnahmen verbinden sie musikologische Akkuratesse, technisches Können und südländische Verve.

Auch in dieser Aufnahme verleiht Moreno der lebendigen, bisweilen regelrecht tanzenden Musik einem natürlichen Duktus, der puren Hörgenuß garantiert. Lediglich die nervenden Kastagnetten hätten ab und zu wieder beiseite gelegt werden können, aber insgesamt bieten Moreno und sein Ensemble höchstes instrumentales Niveau in den accompagnamenti und in den virtuosen Instrumentalsoli. Die Stimmen vermögen Stil und Esprit der Musik idiomatisch wiederzugeben, mehr aber auch nicht. Sowohl die erfahrene Marta Alamjano als auch die übrigen können die Brillanz der damaligen Sängerinnen nur im Ansatz wieder beleben, zumal sich ihre Stimmen viel zu wenig in Timbre und Stimmcharakter unterscheiden. Nicht ganz nachvollziehbar ist ferner die Entscheidung, alle Dialoge der Zarzuela zu streichen. Die Mischung aus Gesang und Sprechdialogen ist bekanntlich wie im deutschen Singspiel eine große Herausforderung für die Interpreten, die aber keine mutlose Zusammenstreichung der Werke rechtfertigt. Wäre eine dezente Reduzierung der ursprünglichen, wohl stundenlangen Dialoge auf CD-taugliches Format nicht besser gewesen? Trotzdem kann der moderne Hörer dank dieser beiden CDs ein kleines musikalisches Juwel in einer mitreißenden Aufführung kennenlernen.

M. C. F.

 

José de Nebra, Iphigenia en Tracia. mit Marta Almajano/Ifigenia, María Espada/Orestes, Raquel Andueza/Dircea/Michilla, Soledad Cardoso/Polidoro, Marta Infante/Cofieta; El Concierto español, Emilio Moreno, 2 CD Glossa GCD 920311

Strenges Glück

 

Es war wohl die Sorge um die Kunstgattung, die ihm am meisten am Herzen gelegen hat und in der er Unvergleichliches geleistet hat, die den greisen Dietrich Fischer-Dieskau ein Manuskript mit dem Titel Das deutsche Klavierlied zur Berlin University Press senden ließ. Das Buch ist chronologisch und nach einzelnen Komponisten, die sich besonders um das Lied verdient gemacht haben, gegliedert. Es beginnt mit Reichardt und Zelter, dazu Goethe, der einer der ersten Dichter war, die besonders sangbare Texte schrieben. Goethe wie Herder waren der Meinung, dass Gedichte erst durch ihre Vertonung ihre volle Wirkung entfalten könnten. Erst das teilweise Zurückdrängen von opera seria und opera buffa ließ das Lied Fuß fassen, so die Vertonungen von deutschen Texten durch Joseph Haydn, der sich darüber beklagte, dass die deutschen Schriftsteller nicht musikalisch genug dichteten. Natürlich stehen Schubert und Schumann im Mittelpunkt des Bandes, die Bedeutung des Liedes in ihrem Gesamtschaffen, ihre jeweilige Entwicklung, die unterschiedlichen Merkmale ihres Komponierens, die von ihnen eingesetzten musikalischen Mittel. Bei Schubert wird auf die „hellsichtige Naivität“ hingewiesen, bei Schumann auf die ständige Beschäftigung mit dem Tod. Carl Loewe erfährt eine teilweise Rehabilitierung, Brahms hat eine solche nicht nötig, auch wenn Klemperer einen reinen Brahms-Abend als „unnötig“ ansah. Mehr Dramatik als seine Vorgänger vertrage der Komponist durchaus. Manchmal schwingen, fast unmerkbar, Enttäuschung und eine gewisse Rechthaberei in einigen wenigen Passagen mit. Wenn heute die Gattung Lied nicht viel Neues, aber Bleibendes vorzuweisen hat, liegt das nach Fischer-Dieskau auch daran, dass es um die zeitgemäße Lyrik zumindest insofern schlecht bestellt ist, als sie kaum Sangbares, dafür viel Abstraktes vorweisen kann. Und Singen ist halt „nicht nur eine Sache des Kopfes“(ISBN 978-3-86280-021-6).

Ingo kern

Un baritano per caso

 

Wenige Schritte vom Teatro Filarmonico di Verona entfernt gibt es eine kleine Buchhandlung, in der das totale Chaos schon in den beiden Schaufenstern zu herrschen scheint, während sich drinnen Bücherstapel ohne ein ersichtliches Ordnungsprinzip bis zur Decke türmen. Eines der Fenster ist stets der Oper gewidmet, und man kann sicher sein, alles was es auf dem Gebiet an Neuerscheinungen gibt, hier zu finden. Verlangt man im Laden das gewünschte Buch, verschwindet eine Komponente des alten, dort waltenden Ehepaars für eine gewisse Zeit im Keller, um wenig später unfehlbar mit dem Werk zurückzukehren. Gibt der Kunde seine Liebe zur Oper im allgemeinen und zur Arena im besonderen zu erkennen, wird der Preis auch einmal herunter gesetzt. Seiner langen, über die 70 Jahre hinaus andauernden Karriere würdig erweist sich das attraktive Buch, das dem italienischen Bariton Leo Nucci gewidmet ist und das in dieser Saison im Zentrum der vetrina ausgestellt ist. Leo Nucci – baritono per caso nennt es sich, und wie so gern in Italien sind die Autoren gleichermaßen Musikologen wie Fans und Freunde des Dargestellten. Extravagant, wie ebenfalls in Italien gebräuchlich, ist der Umgang mit Namen, so dass der Leser einem Volfango Goethe, einer Grace Bambri und einem Dirigenten namens Sciolti begegnet. Eine CD gibt das Konzert aus Lodi aus dem Jahre 1995 mit Arien und Canzonen wieder. Nach der Lektüre des Buches, dem Betrachten der Fotos und dem Hören der CD wird man dem nächsten Auftritt des Sängers mit noch mehr Freude und Spannung entgegen sehen (ISBN 978 88 88252 48 3).

Lothar Herbst