Archiv für den Monat: Februar 2013

„Lurline“ von Vincent Wallace

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Bei Naxos ist die erste CD-Einspielung der Oper Lurline von Vincent Wallace unter der Leitung von Richard Bonynge erschienen. Der Metier-Kenner und Spezialist für Viktorianische Oper, Kurt Gänzl, hat für Operalounge die Aufnahme gehört.

In den letzten Jahrzehnten haben Plattenproduzenten zwar mehrfach nach unbekannten Bühnenwerke der Vergangenheit gegriffen, um Aufnahmen auf den Markt zu bringen von Stücken, die heute weitgehend vergessen sind. Ein Bereich der Operngeschichte blieb dabei aber bisher unbeachtet: das einst so enorm erfolgreiche englischsprachige Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Wir, die wir an dieser Epoche interessiert sind, mussten uns lange mit illegalen Livemitschnitten von Amateur- oder Radioaufführungen zufrieden geben (wenn man diese auftreiben konnte), um einstige Standardwerke wie The Mountain Sylph, The Rose of Castille, Satanella, The Lily of Killarney, Robin Hood oder Lurline hören zu können. An diesem Zustand hat sich jetzt, wie es scheint, endlich etwas geändert.

Klassiker wie The Bohemian Girl sind bei Decca erschienen, Martitana bei Marco Polo, Sullivans Ivanhoe bei Chandos, Balfes Falstaff vom Irischen Rundfunk herausgegeben und soeben ist Lurline bei Naxos veröffentlicht worden.

Bereits vor zwei Jahren brachte Raymond Walkers Victorianische Opera eine Aufnahme von Balfes The Maid of Artois heraus, das zwar kein Kernstück der Viktorianischen Repertoires ist, aber als Aufnahme genug Interesse weckte, um nun eine weitere Einspielung zu wagen, diesmal von einer der populärsten englischsprachigen Oper der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt: Lurline von Vincent Wallace.

Der Komponist William Vincent Wallace.

Der Komponist William Vincent Wallace/ Wikipedia.

Es heißt, Wallace habe das Werk schon viele Jahre vor der eigentlichen Uraufführung durch die Pyne & Harrison Opera Gesellschaft geschrieben, die zu dem Zeitpunkt eine der wichtigsten und am besten ausgestatteten Operntruppen in Großbritannien war. Angeblich soll Wallace inspiriert worden sein von erfolgreichen deutschen Werken übers Übernatürliche, wie Webers Freischütz und Marschners Vampyr. Dabei musste er gar nicht in Deutschland nach solch einem Stoff als Vorbild suchen: Die Oper Lurline or the Revolt of the Najades mit Musik von H. Louel u.a. war bereits 1834 ein Hit am Londoner Adelphi Theatre, es folgten diverse Ballette über die Sage der Nymphe vom Rhein auf britischen Bühnen, und zu Weihnachten 1859 wiederholte das Adelphi die Burleske The Nymph of the Lurleyburg. Man kannte den Loreley-Stoff also bestens auf der Insel.

Auch musikalisch blieb Wallace very British. Hört man die Musik von Lurline, erkennt man unweigerlich all jene Stilrichtungen wieder, die Arthur Sullivan später in seinen Operetten so liebevoll parodierte. Und trotz des regelmäßigen Rufs der zeitgenössischen Kritik nach Abschaffung der typisch ‚italienischen‘ Rezitative in englischen Opern, entschloss sich Wallace, genau solche als Stilmittel beizubehalten. Das Resultat war ein Stück mit einigen musikalischen Längen in der Handlungs-Exposition. Dafür waren die Solo- und Ensemblepassagen entzückend. So hat der Sopran etwa die mit Koloraturen gespickte Arie „Flow on, oh, silver Rhine“ (derartige Koloraturen waren damit verpflichtend), erwähnenswert ist auch das übermütige Alt-Solo „Troubadours enchanting“ und die Bass-Ballade „A father´s love“ im Henry-Philips-Stil, ganz zu schweigen von den üppig gesetzten Finali.

Keine dieser Nummern wurde zu Gassenhauern, wie die Lieder aus Satanella, The Power of Love oder The Rose of Castille, den vorangegangenen Erfolgsproduktionen der Pyne & Harrison-Gesellschaft, aber im musikalischen Kontext des Bühnenwerks waren sie in Lurline absolut wirkungsvoll.

Die neue Oper mit ihrer bekannten Story, der spektakulären und malerischen Inszenierung sowie einer Top-Besetzung, zu der Louisa Pyne, William Harrison und Charles Santley gehörten, den besten Sängern ihrer Zeit für dieses Repertoire, konnte Lurline einen entschiedenen Erfolg erzielen. Sie wurde nach ihrer ersten Saison in Covent Garden noch vier weitere Spielzeiten lang von der Pyne & Harrison Truppe aufgeführt, bevor sie (meist ziemlich zusammengestrichen und buchstäblich aller Rezitative beraubt) jahrzehntelang ein Standardwerk der Reiseoperngesellschaften in Großbritannien und den Kolonien wurde. Mit der Zeit sicherte sich Lurline einen Platz unter der handvoll prominenter britischer Opern des 19. Jahrhunderts.

Maria Malibran, für die The Maid of Artois geschrieben wurde.

Maria Malibran, für die The Maid of Artois geschrieben wurde, hier als Rossinis Desdemona/ Wikipedia.

Im Vergleich zu The Maid of Artois ist Lurline nun auf wesentlich höherem künstlerischem Niveau aufgenommen worden als ihre Vorgängerin und wie es scheint in originaler Gestalt. Orchester und Sänger werden von Richard Bonynge geleitet, der auch an der kritischen Edition der Partitur beteiligt war. Er bewältigt Wallace’ gelegentlich etwas sperrigen Chor- und Orchestersatz mühelos, lässt die Musik frei schwingen und vehement vorwärtsdreschen in den Finali, Ensembles und Intermezzi. Die beiden zentralen Solisten sind prachtvoll und geben eine großartige Vorstellung im „Pyne & Harrison“ Stil. Sally Silver singt die Lurline mit schönem Ton und durchsichtiger Klarheit, stattet ihre große scena mit Melancholie aus und ersetzt Diven-Gehabe mit Wärme und Gefühl.

Sie gestaltet das Sopran-Paradestück „Flow on, oh, silver Rhine“ als kleines Juwel und singt „Night winds“, als wäre es „Tacea la notte placida“. Im Finale schließlich stürzt sie sich mit unbekümmerter Hemmungslosigkeit in die Koloraturläufe.

Es ist eine Freude, ihr zuzuhören. Der liebliche und reine Tenor von Keith Lewis leuchtet auf in Rudolfs Barcarolle im 1. Akt und in seinen beiden sentimentalen Balladen, er hat aber auch wirkliches Feuer für die Stellen, wo Wallace ihn mit Lurlines Sopran paart und männliche Leidenschaft verlangt, statt träumerischen Tiefsinn. Fiona James macht sich gut als Ghiva, die „andere“ Frau des Stücks, auch wenn ihre eher leicht verstaubt wirkende Stimme kein echter Kontra-Alt ist. David Soar ist ein effizienter Rhineberg, der manchmal nicht sehr baritonal klingt und seine Auftrittsarie mit viel Elan, aber angestrengter Höhe singt. Schließlich sind da noch die beiden gar nicht ganz so komischen Buffos Donald Maxwell und Roderick Earle zu erwähnen, verdiente Kräfte der britischen Opernszene, die ihre Aufgabe kompetent erledigen.Vielleicht hätte man besser der originalen Besetzung folgen sollen, die einen Kontra-Alt, einen echten Bariton, einen wirklichen Buffo und einen Überbuffo vorsah? Doch das ist nur eine kleine Nörgelei am Rande.

Die Aufnahme von Naxos und der Victorian Opera ist in jedem Fall so begrüßenswert wie die ersten Blumen im Frühling. Sie ist auch begrüßenswert als historisches Dokument, das es uns im 21. Jahrhundert erlaubt, ein Werk in seiner vollen Pracht zu hören, das wie die ganze Gruppe von Stücken, zu der es gehört, nie hätte vergessen werden dürfen. Es macht aber auch einfach nur Spaß, sich diese CDs anzuhören.

Die Gesamtaufnahme von Macfarrens Robin Hood bei Naxos.

Die Gesamtaufnahme von Macfarrens Robin Hood bei Naxos.

Lurline hat Schwächen, keine Frage. Dass man das Werk früher für den allgemeinen Gebrauch immer wieder gekürzt hat, ist nicht verwunderlich. Ein unvorbereiteter Hörer des 21. Jahrhunderts wird sich eines Kicherns angesichts mancher Textpassagen nicht erwehren können, etwa wenn es heißt „Rupert – alive? But we thought you drowned!“ oder bei einigen der Chor-Kadenzen („Bumm-Bumm“). Wenn man sich aber beispielsweise dem zweiten Finale zuwendet, wird man sofort begreifen, warum Lurline eine der Lieblingsoper ihrer Zeit war.

Und von Macfarren ist dessen Robin Hood von der Victorian Opera bei Naxos herausgekommen. Und hoffentlich gibt´s noch vieles mehr. Kurt Gänzl

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William Vincent Wallace: Lurline. Gesamtaufnahme mit: Lewis, Silver, Soar, Maxwell, Victorian Opera Chorus & Orchestra, Dirigent: Richard Bonynge, 2 CDNaxos 8.660293-94

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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.

Die Skandalsängerin der Viktorianer

Der gewichtige 1. Band der monumentalen zweiteiligen Emily-Soldene-Biography.

Der gewichtige 1. Band der monumentalen zweiteiligen Emily-Soldene-Biography.

Das neueste Buch des anglo-amerikanischen Operetten-Gurus Kurt Gänzl (Autor der legendären Encyclopedia of the Musical Theatre) beschäftigt sich mit einer der faszinierendsten Sängerin des Viktorianischen Zeitalters: Emily Soldene, hier oben als Schöne Helena mit viel Beinfreiheit zu sehen.

Gänzls Liebeserklärung an die Dame mit dem Titel Emily Soldene: In Search of a Singer wurde von einigen englischen Kritikern bereits als die „monumentalste Biografie, die jemals über eine Opernsängerin geschrieben wurde“ gefeiert. Das Werk in zwei großformatigen Bänden von je 750 Seiten ist in der Tat ein „Monument“, nicht nur wegen des Umfangs und den fast 1.000 Fotos. Es ist auch ‚monumental’, wie Gänzl in die Tiefe des Themas taucht. Es ist ja auch ein sehr faszinierendes Thema. Dass Emily Soldene, die eine außergewöhnlich erfolgreiche Karriere als Opernsängerin hatte, ebenso im Bereich Music Hall und Burlesque als Theaterdirektorin und Produzentin tätig war, die Star in einigen der legendärsten Premieren der Epoche im Bereich opéra-bouffe war (u.a. mit Offenbach-Partien), die selbst Bücher schrieb, Journalistin war und kritischer Spiegel fürs Schaffen anderer namhafter Künstler, dass diese Dame im 21. Jahrhundert völlig in Vergessenheit geraten konnte, verwundert. Aber dank Kurt Gänzl wird sich daran nun etwas ändern.

Der zweite Band der Soldene-Biographie.

Der zweite Band der Soldene-Biographie.

Die zwei Bände seiner Biografie enthalten nicht nur eine detaillierte Beschreibung von Soldenes schillerndem Leben und ihrer Karrieren, sondern – wie der Untertitel andeutet – Gänzl beschreibt auch seine eigene, fast 20 Jahre währende Suche nach den verlorenen (absichtlich verloren gegangenen!) Fakten ihrer Karriere. Daraus ergibt sich eine Art „Da Vinci Code“ der Musiktheatergeschichte. Diejenigen, die Gänzls Schreibstil aus seinen diversen Büchern zu Operette und Musical kennen, wissen, dass er niemals trocken oder akademisch unverständlich erzählt, sondern immer in dem ihm eigenen locker-persönlichen Tonfall, gewürzt mit reichlich skandalösen Sexstories. (Die einen Einblick ins Leben hinter den prüden Kulissen der Zeit geben.)

In seinem neuen Buch werden Emily Soldene, ihre Freunde, Kollegen, Familie und das ganze Panorama des Viktorianischen Theaterbetriebs lebendig – in sprachlichem Technicolor.

Und das ist, in der Tat, eine „monumentale“ Leistung. Kurz: Ein Fun-und-Fakten-Buch, das jeder, der sich mit der Geschichte des Musiktheaters interessiert, lesen sollte. Am einfachsten sind die zwei Bände direkt beim Verlag in Neuseeland zu bestellen, über Kurt Gänzl selbst (ganzl@xtra.co.nz; Porto inbegriffen).
Kevin Clarke

 

Kurt Gänzl: Emily Soldene: In search of a singer, 1.562 Seiten, Steele Roberts, Neuseeland 2007, 390 NZ Dollar.